Andreas Weiß
Aufsatz
Veröffentlicht am: 
21. November 2016
DOI: 
10.15500/akm.21.11.2016

An die Lehrer im Deutschen Kaiserreich wurde immer wieder die Erwartung herangetragen, die Erziehung an den Zielen des Staates auszurichten. Aufgrund der politischen Verhältnisse im Kaiserreich – eine starke Sozialdemokratie stand monarchistisch-konservativ orientierten Eliten gegenüber – waren politische Stellungnahmen von Lehrern jedoch ein heikles und umstrittenes Thema, politische Äußerungen im Unterricht verboten. Unter den vielen Themen, die zwischen den beiden genannten politischen Lagern umkämpft waren, hatte der Imperialismus/Kolonialismus eine besondere Stellung inne. Wie schwierig dieses Thema war, zeigt sich unter anderem daran, welchen Raum es in den Schulbüchern einnahm. Politisch nicht unumstritten, wurde Kolonialismus zum Beispiel im Geschichtsschulbuch erst in der Zwischenkriegszeit umfassend als Phantomschmerz diskutiert; vor 1914 tauchte er vor allem in Erdkundebüchern und Werken für den Deutschunterricht auf.1

Doch wie verhält es sich mit der blutigen Begleiterscheinung des Kolonialismus, den Kolonialkriegen? Denn Krieg, so unterstellen es Teile der Forschung zur Militarisierung im Kaiserreich, war ein beherrschendes Thema für den Geschichtsunterricht. Die personenzentrierte Darstellung und die Hervorhebung von (aufopferungsvollen) Heldentaten sollten nicht nur der männlichen Jugend Vorbild sein, damit diese ihr Leben und ihre Leistung in den Dienst des Vaterlandes stellte. Gerne wird für diese Argumentation auf den kaiserlichen Erlass von 1890 verwiesen, der die Betonung der Neueren und Neuesten Geschichte, mit Schwerpunkt auf den Kriegen seit 1792, im Geschichtsunterricht forderte. Dieser kaiserliche Wunsch wurde vom preußischen Bildungsministerium aufgegriffen und war Thema zweier Schulkonferenzen.2

Dabei beschränkte sich die Darstellung der modernen Kriege in den Schulbüchern nicht nur auf die europäischen Kriegsschauplätze. Der Erwerb der Kolonien durch die anderen Großmächte wurde den Schülern immer wieder exemplarisch als ein Grund für deren machtpolitischen Aufstieg genannt. Und es gab Kolonialkriege im weiteren Sinne, derer man im Reich gern gedachte, wie die Ostasienexpedition unter Alfred Graf von Waldersee 1900/01. Andere Militäreinsätze waren zeitgenössisch umstrittener. Den Militäreinsatz gegen die Herero und Nama in Deutsch-Südwestafrika 1904/05 kritisierte der Reichstagsabgeordnete des Zentrums, Matthias Erzberger, im Reichstag; die Debatten hierüber zogen Neuwahlen (die sogenannten "Hottentottenwahlen") nach sich. Das erfolgreiche Abschneiden konservativer und nationaler Parteien bei diesen Wahlen deutete die ältere Forschung dahingehend, dass "eine breite Mehrheit des deutschen Volkes für Parolen eines kolonialpolitisch argumentierenden Nationalismus empfänglich war", obwohl die kolonialkritischen Parteien SPD und Zentrum in absoluten Zahlen Stimmen dazugewinnen konnten.3 Wie unten zu sehen sein wird, dominierte die Auseinandersetzung mit diesem Krieg alle anderen kolonialen Konflikte des Reiches, die im Schulbuch thematisiert wurden. Dafür gibt es neben der Reichstagsdebatte verschiedene Gründe: Bei keinem anderen Auslandseinsatz des deutschen Heeres vor 1914, sieht man einmal von der Expedition nach China ab, wurden so viele deutsche Truppen eingesetzt wie in Deutsch-Südwestafrika. Und kein anderer Krieg erregte solch eine mediale Aufmerksamkeit.

Der Essay knüpft an zwei aktuelle Debatten an. Zum einen geht es um das, was im Verständnis des ausgehenden 19. Jahrhunderts im Schulbuch mit dem Begriff "Kolonialkrieg" verbunden wurde. Zum anderen wird dem heutigen Begriffsverständnis nachgespürt. Die aktuelle Forschung setzt dabei einen Schwerpunkt auf die Gewaltaspekte, Autoren wie Medardus Brehl unterstellen eine breite gesellschaftliche Akzeptanz genozidaler Kriegsführung in Afrika.4 Zu fragen ist, ob im Falle dieser besonderen Form außereuropäischer Kriege eine andere Darstellung der Gewalt möglich war als bei der Schilderung europäischer Kriege (obwohl auch in den Beschreibungen des Deutsch-Französischen Krieges von 1871 vereinzelt die Gewalterfahrungen sowohl der Soldaten wie auch der französischen Zivilbevölkerung in aller Härte thematisiert wurden). Denn generell waren die Kriegsdarstellungen geprägt von Heroismus, der Aufopferung einzelner Helden, von Gehorsam und Disziplin. "Kolonialkriege" hingegen haftete der Ruf an, sie seien Gewaltexzesse.

Der Essay kann beileibe nicht alle diese Aspekte vertiefen, etwa die Verbreitung des Rassismus, die unten kurz angerissen wird, doch soll er erste Hinweise liefern. Dahinter steht die Frage, ob Kolonialkriege als spezifisch ,andere‘ Kriege galten – im Unterschied zu den europäischen Staatenkriegen. Bei den hier vorliegenden Gedankenspielen handelt es sich um vorläufige, die zu weiteren Überlegungen und Forschungen anregen wollen. Die Analyse stützt sich dabei auf die im Projekt "Welt der Kinder. Weltwissen und Weltdeutung in Schul- und Kinderbüchern zwischen 1850 und 1918" entwickelten digitalen Werkzeuge.5 Ausgewertet wurden 3343 Geographie- und Geschichtsschulbücher, erschienen zwischen 1850 und 1918. Durchsucht man sie nach dem Stichwort "Kolonialkrieg", so erhält man 134 Treffer, davon nur fünf in Volksschulbüchern. Dabei wurden über 50 Prozent der Bücher für höhere Schultypen verfasst, vor allem Gymnasien. Beim Großteil der Werke handelt es sich um Geschichtsschulbücher (113), hinzu kommen sieben Geographieschulbücher, der Rest verteilt sich auf verschiedene Buchtypen. Das Thema Kolonialkrieg erlebte einen deutlichen Aufschwung nach 1905, so dass ein Zusammenhang mit dem Krieg in Deutsch-Südwestafrika angenommen werden kann.

Das Besondere am Kolonialkrieg im Kontext der Unterrichtslektüre ist, dass er sowohl als nationales wie als europäisches Ereignis dargestellt werden konnte. So blieben diese Darstellungen nicht frei von parteipolitischen Auseinandersetzungen, denn Schulbücher wurden selbstständig von den Autoren und Verlagen erstellt. Zwar gab es eine Grenze bei der Erwähnung aktueller Ereignisse, doch waren deutsche Schulbücher vielfach aktueller als die anderer europäischer Nationen. Hier muss nach Schultypen unterschieden werden: Galten Volksschullehrer als tendenzielle Sympathisanten der Sozialdemokratie, waren Gymnasiallehrer häufig Anhänger des monarchistisch-konservativ ausgerichteten wilhelminischen Weltbildes. Diese Verortung ist wichtig, um den Einfluss von Schulbüchern einschätzen zu können. Auf der einen Seite waren sie vor allem für Arbeiterkinder oft die einzigen gedruckten Werke, die sie in ihrer Jugend besaßen. Der Unterricht selbst war stark vom Vortrag der Lehrer geprägt, daher dienten Schulbücher für mittlere und höhere Schulen oft der "Heimarbeit" sowie als Handreichungen und Lehrwerke für den Hausgebrauch. Der besondere Bezug zwischen Schule und Kolonialismus ergab sich auch durch die Schulfeiern wie den Sedantag, für die nationale Verbände wie die Alldeutschen und der Deutsche Flottenverein Buchpreise stifteten.

Auf der anderen Seite hatten "Kolonialkrieger" im preußischen Heer ein ambivalentes Ansehen. Kolonialkriege galten als ein Spielplatz für Abenteurer, insgesamt litt das Prestige des Kolonialdienstes immer wieder an den zahlreichen Kolonialskandalen.6 An den Kämpfen in Deutsch-Südwestafrika waren zwar reguläre Truppen beteiligt, aber sonst wurden die Expeditionsheere aus Freiwilligen zusammengestellt, ein Hinweis darauf, dass eine dienstlich zwingend angeordnete Entsendung als unehrenhaft galt.

Sucht man eine Definition, was im Schulbuch des Kaiserreiches unter Kolonialkrieg verstanden wurde, gelangt man zu ungewöhnlichen Befunden. So wird in vielen Büchern vor dem Ersten Weltkrieg der Siebenjährige Krieg, vor allem sein Kriegsschauplatz Nordamerika, als Kolonialkrieg bezeichnet.7 Insgesamt bleibt diese Verbindung – Siebenjähriger Krieg und Kolonialkrieg – vorherrschend, auch wenn sich vereinzelte Beispiele für die Antike finden. Es waren also die "Anderen", vor allem Großbritannien und Frankreich, die Kolonialkriege geführt und damit die Grundlage ihres Aufstiegs zu Weltmächten gelegt hatten. Blickt man auf die konkreten Bezüge zwischen den Begriffen Kolonialkrieg und Deutsches Reich, so ergibt sich noch für den Ersten Weltkrieg, dass der Gebrauch weiter gefasst wurde als heute; so wird in einem Buch, das ausschließlich diesen Krieg zum Thema hat, der japanische Angriff auf die deutsche Kolonie in China, Kiautschou, als Kolonialkrieg bezeichnet.8 Kolonialkriege scheinen also überwiegend als Kriege zwischen (europäischen wie nichteuropäischen) Großmächten um Kolonien und weniger häufig als militärische Interventionen in den eigenen Kolonien oder zum Erwerb noch "unbesetzter" Gebiete verstanden worden zu sein, obwohl letztere Bedeutung im Untersuchungszeitraum zunahm.

 

Deutsche Kolonialkriege

Zeitgenössische Geographieschulbücher waren in ihrer positiven Bezugnahme auf den Kolonialismus deutlich offener als Geschichtsschulbücher. Sie enthielten immer wieder historisch oder politisch beschreibende Einführungstexte, die über die reine Darlegung der Geographie oder Wirtschaftsdaten hinausgingen. So schrieb Hermann Tewes:

"Die letzten großen Unruhen von 1903-1907 begannen mit der Auflehnung der im äußersten Süden der Kolonie ansässigen Bondelzwaarts-Hottentotten. Während der größte Teil der Schutztruppe gegen sie ins Feld zog, benutzten die im nördlichen Teil des Schutzgebietes wohnhaften Hereros den günstigen Augenblick zu einem von langer Hand vorbereiteten, aber streng geheimgehaltenen Aufstand, der sich zum opfervollsten Kolonialkrieg entwickelte, den Deutschland bisher geführt hat, und mit der Vernichtung der Hereros endete."9

Dieser Krieg war es also, der deutschen Schülern prototypisch als deutscher Kolonialkrieg nahegebracht wurde, sei es in ausführlichen Abschnitten, aus dem das Zitat einen kleinen Ausschnitt wiedergibt, sei es in Hilfsbüchern und Tabellen. Dies ging so weit, dass Bezüge zwischen diesem Krieg und der eigenen Heimat hergestellt wurden. In einem Frage- und Antwortspiel wurde die eigene Region mit dem Erwerb von Kolonien und den dargebrachten Opfern verknüpft:

"Ziel: Wir lernen nun noch die deutschen Besitzungen in Afrika kennen. Vorbereitung: Was behauptet unsere Aufgabe? Das Deutsche Reich hat in Afrika mehrere Besitzungen. Wer von euch kennt eine deutsche Besitzung in Afrika? Deutsch-Südwestafrika ist eine deutsche Kolonie. Was ist dir über diese bekannt? Dort haben die deutschen Südwestafrika-Kämpfer lange Zeit Krieg führen müssen gegen die Hottentotten und gegen die Hereros; aus unsrer Stadt und aus unserm Herzogtum sind auch mehrere junge Männer drüben im südwestafrikanischen Kriege gefallen."10

Der Krieg in Südwestafrika nimmt in dieser Perspektive eine Doppelrolle ein: Er war ein Kolonialkrieg sowohl zum Erwerb von Kolonien als auch ein Krieg in den Kolonien.

Interessant ist, dass Geographie- und Geschichtsschulbücher zwei diametral unterschiedliche Strategien verfolgten. Während in Letzteren Kolonialkriege die Eroberungskriege der "Anderen" waren, gab es für Erstere einen eigenen Kolonialkrieg, den in Deutsch-Südwestafrika. Dies zeigt sich in einem anderen Buch zum Weltkrieg:

"Der Kolonialkrieg im allgemeinen. Hierüber sprach sich der Staatssekretär des Kolonialamts (Dr. Solf) aus: Die Briten und Franzosen haben samt den Belgiern den Krieg in die europäischen Kolonien Afrikas getragen. Dadurch haben sie dem Ansehen der weißen Herrenrasse furchtbar geschadet. Deutschland hat nicht den afrikanischen Kolonialkrieg begonnen. Frankreich, England und Belgien haben den Kriegsbrand auch in Afrika entfacht. Deutschland hatte sich auf einen afrikanischen Kolonialkrieg gar nicht vorbereitet."11

Hier ist der Krieg in den afrikanischen Kolonien klar im Kontext europäischer Staatenkriege verortet, er dient der Stärkung der eigenen Position und der Schwächung der anderen, mehr noch: Im Hintergrund schwelte die Kriegsschulddebatte um die Frage, wer den Ausbruch des Krieges 1914 zu verantworten hatte. Hervorzuheben an diesem Beispiel ist seine Zielgruppe. Dieses Buch mit seiner scheinbar sachlichen Erklärung unter Rückgriff auf eine Expertenmeinung war nicht für die höheren Schulen, sondern für die niederen Schulformen sowie explizit für Mädchenschulen klassifiziert und stellt so eines der wenigen Beispiele für die Thematisierung von Kolonialkrieg in Büchern dar, die für niedere Schultypen bestimmt waren.

Ein Geschichtsschulbuch steht allerdings dezidiert in der deutlich kolonialismusfreundlicheren Traditionslinie der Erdkundebücher, wenn auch nur bezogen auf sein Quellenverzeichnis. Insofern zeigt sich auch hier, dass in den konservativeren Geschichtsschulbüchern eine prokoloniale Politik, die sogar einen gewaltsamen Einsatz legitimieren würde, nicht im Haupttext verhandelt werden konnte, sondern in den Anhang rutschte. Es handelt sich dabei nicht um ein Buch für Schüler, sondern eines, das im Rahmen der Lehrerfortbildung genutzt werden sollte. Daher liegt die Vermutung nahe, die weiterführenden Literaturhinweise sollten den Lehrern eventuelle Hilfestellung bieten, wenn das Thema im Unterricht doch zur Sprache kam. Die Auswahl spiegelt gleichzeitig die politische Einstellung der Verfasser wider. Denn auf Seite 367 findet sich ein stark antisozialdemokratischer Exkurs, der Sozialdemokraten als antinational, antimonarchistisch, antireligiös und materialistisch kennzeichnet. In Bezug auf die Reichstagspolitik wird vor allem August Bebel zu einem Vaterlandsverräter stilisiert, da er eben "antinational […] und chinesischer war als die Chinesen und, während unsere braven Soldaten in Südwestafrika kämpften, für die Herero eintrat".12

In der zeitgenössischen wie heutigen Sicht war der zweite große Gewalteinsatz deutscher Truppen vor 1914 außerhalb Europas die sogenannte China-Expedition, eher bekannt unter der Bezeichnung Niederschlagung des Boxer-Krieges oder -Aufstandes; Letzterer ist auch der Ausdruck, unter welchem der Konflikt in den Schulbüchern überwiegend auftaucht. Nicht nur die "Hunnen-Rede" Wilhelms II. führte dazu, dass dieser Einsatz im öffentlichen Gedächtnis präsent blieb, sondern auch die stete Hervorhebung des deutschen Oberkommandos, mochte dessen Einfluss auf das eigentliche Kriegsgeschehen noch so gering gewesen sein. Bemerkenswert ist aber, wie oft in den deutschen Schulbüchern der Beitrag Japans herausgestellt, ja der Krieg in den Zusammenhang der verschiedenen chinesisch-japanischen Kriege gestellt wurde. Diese Häufung liegt sicher auch im japanischen Sieg im russisch-japanischen Krieg begründet, denn dieses Ereignis lenkte die Aufmerksamkeit weiter Teile der deutschen Bevölkerung noch mehr auf Japan und steigerte die Sympathien gegenüber diesem fernöstlichen Land, das man als Verbündeten gegen Russland wahrnahm. Wie staatsnah die Debatten in den Schulbüchern teilweise waren, zeigt der Abdruck der sogenannten "Hunnen-Rede" in einer Quellensammlung.13

Doch wie verhält es sich mit der Darstellung von Eroberung und Gewalttaten in den Kolonien, auch und gerade den eigenen, worauf der Fokus der modernen Forschung liegt? Für manche zeitgenössische Autoren war ja die Vernichtung der Herero eine Notwendigkeit, die sich aus deren Widerstand gegen die deutsche Kolonialherrschaft ergab.

 

Kolonialkrieg und Gewalt

Wie oben angedeutet war die Thematisierung von Gewalt und Tod im Schulbuch an sich kein Problem. Aber kann man, wie Medardus Brehl dies getan hat, generell annehmen, dass die "nicht-modernen" Völker in zeitgenössischer Perspektive zum Untergang verurteilt waren? Brehl unterstellt hier eine rassistische Begründung, doch aus der Sicht des 19. Jahrhunderts konnten Kulturen, Zivilisationen und Völker auch aus anderen Gründen untergehen. Neben angeblicher rassischer Unterlegenheit war der Dekadenzdiskurs eine zeitgenössisch prominente Begründung, die mehr auf kulturalistisch-(wirtschafts-)politische Erklärungen verwies. Insofern spielt es eine Rolle, welcher Erklärungsansatz mit Bezug auf die kolonialen Kriege in den deutschsprachigen Schulbüchern der Zeit vorherrschte, um die Verbreitung rassistischer Stereotype besser einschätzen zu können – auch in ihrer potentiellen Wirkung auf die Heranwachsenden.

Im Gegensatz zu den Gewaltdarstellungen, auch gegenüber der Zivilbevölkerung, wie sie sich in verschiedenen Schulbuchabschnitten zum Deutsch-Französischen Krieg finden lassen, bleiben die Gewaltdarstellungen im Falle der Kolonialkriege deutlich abstrakter. Ein Buch, das Gewaltexzesse und die Entmenschlichung nichtweißer Gegner drastisch vorführt, ist eine Quellensammlung für den Schulunterricht. Die beinahe lyrische Darstellung entnahmen die Herausgeber der in den "Vierteljahresheften für Truppenführung und Heereskunde" erschienenen Artikelserie "Die Kämpfe der deutschen Truppen in Südwestafrika", die von der "Kriegsgeschichtlichen Abteilung I des Großen Generalstabes" bearbeitet worden sei. So heißt es in der Quellensammlung:

"Diese kühne Unternehmung zeigt die rücksichtslose Energie der deutschen Führung bei der Verfolgung des geschlagenen Feindes in glänzendem Lichte. Keine Mühen, keine Entbehrungen wurden gescheut, um dem Feinde den letzten Rest seiner Widerstandskraft zu rauben; wie ein halb zu Tode gehetztes Wild war er von Wasserstelle zu Wasserstelle gescheucht, bis er schließlich willenlos ein Opfer der Natur seines eigenen Landes wurde. Die wasserlose Omaheke sollte vollenden, was die deutschen Waffen begonnen hatten: die Vernichtung des Hererovolkes. […] ,Die mit eiserner Strenge monatelang durchgeführte Absperrung des Sandfeldes,ʼ heißt es im Bericht eines anderen Mitkämpfers, ,vollendete das Werk der Vernichtung. […] Das Drama spielte sich auf der dunklen Bühne des Sandfeldes ab. Aber als die Regenzeit kam, als sich die Bühne allmählich erhellte und unsere Patrouillen bis zur Grenze des Betschuanalandes vorstießen, da enthüllte sich ihrem Auge das grauenhafte Bild verdursteter Heereszüge. Das Röcheln der Sterbenden und das Wutgeschrei des Wahnsinnes ... sie verhallten in der erhabenen Stille der Unendlichkeit!ʼ Das Strafgericht hatte sein Ende gefunden. Die Hereros hatten aufgehört, ein selbständiger Volksstamm zu sein."14Hier scheint es sich eindeutig um ein Zeugnis genozidaler Kriegsführung zu handeln. Doch wie die weiteren Textstellen zu erkennen geben, beschrieb dieser Text keine genozidale Vernichtung im Sinne des bewussten Versuchs, sämtliche Herero auszulöschen. Zwar plante Lothar von Trotha durchaus die Vernichtung aller Herero-Verbände, die am Waterberg eingekreist wurden, aber die Vernichtung bezog sich eben nicht auf alle Herero-Verbände, die sich in Deutsch-Südwestafrika aufhielten, wie es im Sinne eines Rassenvernichtungskrieges notwendig gewesen wäre. Auch wenn die Konsequenzen für die Opfer des Feldzuges durchaus dieselben waren, wurde die "Bestrafung" nicht rassisch, sondern mit teleologischen Zivilisationsvorstellungen begründet, wobei die scheinbare Nicht-Integrationsfähigkeit der "Einheimischen" auf ihr Verhalten zurückgeführt wurde. Diese pädagogisierenden Beschreibungen mit ihrer Sanktionierung abweichender Verhaltensnormen passen auch viel besser in ein Schulbuch des Kaiserreiches, das an unterschiedliche Lesergruppen gerichtet war, als eine eindeutig rassenbiologisch-sozialdarwinistische Argumentation. Dies zeigt sich auch an den abschließenden Passagen, denen zufolge einzelne Herero überleben würden. So betonte der Heeresbericht das Ende des Feldzuges durch die Kapitulation der letzten kämpfenden Hererogruppen:

"Sie [die Herero, AW] waren kriegsmüde und ein Aufruf zur Übergabe […] fand jetzt bei ihnen williges Gehör. Er [Gouverneur von Lindequist, AW] sicherte ihnen zu, daß innerhalb der nächsten drei Wochen nirgends auf sie geschossen werden sollte, wofern sie bereit wären, sich freiwillig um die ihnen bekannten Missionare […] zu sammeln. Zahlreiche Herero leisteten diesem Rufe Folge, so daß sich am 1. Mai 1906 einschließlich der Kriegsgefangenen 14769 Hereros, davon 4137 Männer, unter der Aufsicht der deutschen Behörden befanden. Die kriegerische Tätigkeit der deutschen Truppen im Hererolande hatte damit ihr Ende gefunden."15

Dass weder in quasi-offiziellen deutschen Dokumenten, noch in den Schulbüchern, trotz aller drastischen Wortwahl und darin angelegter Interpretationsmöglichkeiten eines Genozids, totale Vernichtung nicht offen gedacht werden konnte, liegt zum einen an den didaktischen Ansprüchen des Schulbuches: Getötet werden durfte nicht aus Lust an der Gewalt, also als "Daseinszweck", wie es manche Rasseapologeten vertraten, sondern nur aus einer Notwendigkeit heraus. Zum anderen lag es an dem Versuch vieler Schulbuchautoren, zu eindeutige politische Aussagen zu vermeiden, damit das Buch für breitere Käuferschichten attraktiv war. Wie die Debatten im Reichstag zum Vorgehen der deutschen Truppen offenbart hatten, kritisierten Katholiken wie Sozialdemokraten die deutsche Kriegsführung, insofern sie in die Vernichtung der Herero münden würde.

 

Resümee

Im heutigen Verständnis der Geschichtswissenschaften stellten Kolonialkriege eine große Herausforderung für die Legitimierung des europäischen Kolonialismus dar. Einerseits widersprachen die häufigen Gewaltexzesse dem europäischen Selbstnarrativ der zivilisatorischen Mission und der Modernisierung; insofern galten diese Kriege nicht als vergleichbar mit dem modernen Staatenkrieg. Allerdings wurden Kolonien als wichtige Grundbedingungen zur Führung eines modernen, Kontinente übergreifenden Krieges gesehen, denn sie würden der eigenen Flotte wichtige geschützte Stützpunkte bieten, so das deutsche Narrativ.16

Im deutschsprachigen Schulbuch der Jahrhundertwende wurde der Kolonialkrieg nicht immer als eine spezifisch andere Form des Krieges gesehen. Man müsste in einer weitergehenden Untersuchung sicher noch einmal zwischen den "Kolonial"-Kriegen in der Frühen Neuzeit, wie dem Siebenjährigen Krieg, in dem es um den Erwerb von Kolonien ging, aber europäische Mächte gegeneinander kämpften, und den ,klassischen‘ Kolonialkriegen, also überwiegend asymmetrischen Kriegen gegen einen scheinbar zivilisatorisch unterlegenen Gegner unterscheiden.17 Auf einem europäischen Kriegsschauplatz konnte kein Kolonialkrieg stattfinden, er beschränkte sich allein auf außereuropäische Räume; ebenso fehlen im Schulbuch meistens die in der Forschungsliteratur hervorgehobenen genozidalen Konnotationen. Dass drastische Gewaltdarstellungen in Schulbüchern des Kaiserreiches, zumindest in jenen für Lehrer und ältere Schüler, durchaus möglich waren, zeigen nicht nur die obigen Beispiele, sondern zeigt auch manche Darstellung zum Deutsch-Französischen Krieg. Doch wird im oben angeführten Beispiel, in dem explizit von der Vernichtung der Herero die Rede ist, als Ursache für die Reduzierung oder gar Auflösung der Herero die permanente Kriegsführung genannt. Es wird eine Modernisierungsthese vertreten, kein biologischer "Rassenkampf"; die Schuld am Untergang wird auf die Herero selbst verschoben. Zwar befanden sich rassistische Evolutionstheorien Ende des 19. Jahrhunderts auf dem Vormarsch, sie blieben aber umstritten. Sie bestärkten indes eine verbreitete Krisenwahrnehmung. Insofern galt die Vernichtung einer ,unterlegenen‘ Volksgruppe als ein möglicher Prozess, den man deutschen Kindern durchaus unterbreiten konnte. Inwiefern die Vernichtung rassisch-eliminatorisch gedacht wurde, blieb zumindest ambivalent. Nur bei 25 Fundstellen (bei 600.000 Seiten) finden sich die Begriffe Rasse und Vernichtung auf einer Seite – und bei diesen Stellen ging es nicht um die Vernichtung der Herero.

Nicht zu Unrecht schreibt die moderne Forschung den Zeitgenossen gelegentlich ein undifferenziertes Verständnis dieser anderen Form des Krieges zu. Und doch wirft gerade die Beobachtung, dass im deutschsprachigen Schulbuch nicht zwischen Kolonialkriegen (gegen die indigene Bevölkerung in den eigenen Kolonien), Imperialkriegen (außereuropäischen Kriegen zur Stärkung der eigenen Position), klassischen vormodernen (z.B. den griechischen) und Stellvertreterkriegen im weiteren Sinne (auch zwischen europäischen Truppen und ihren Verbündeten wie im Siebenjährigen Krieg) unterschieden wurde, neue Fragen für die Forschung auf: War Krieg im ausgehenden 19. Jahrhundert etwas gesellschaftlich so Wichtiges, dass seine globale Präsenz als etwas Selbstverständliches hingenommen wurde? Oder war nicht die Abwesenheit von Krieg für viele Deutsche zwischen 1871 und 1914 das Entscheidende, weshalb ein undifferenziertes Begriffsarsenal vorherrschte und eben keine klare Kriegstypologie? Wie die obigen Beispiele zeigen, führte der Erste Weltkrieg in deutschen Schulbüchern zu einer intensiveren Auseinandersetzung mit den eigenen Kolonialkriegen; auch passten sich die Darstellungen in den Geschichtsschulbüchern an die stärker von ,modernen‘, sozialdarwinistischen Diskursen des Überlebenskampfes geprägten Geographieschulbücher an. Der Kolonialkrieg war aber im zeitgenössischen Schulbuch nichts prinzipiell ,Anderes‘ und er war auch nicht per se ein Vernichtungskrieg. Geht man, wie oben angedeutet, davon aus, dass die Kolonialtruppen und -kriege bei weiten Teilen der Bevölkerung, vor allem bei Wählerschichten, die dem Zentrum und der SPD nahe standen, eher einen schlechten Ruf genossen, könnte die Vermutung nahe liegen, dass die Darstellung der Kolonialkriege als normale, für den (sozialdarwinistischen) Überlebenskampf von Staaten notwendige Einsätze den heranwachsenden Teilen der Bevölkerung ein ,normalisiertes‘ Bild dieser Kriege vermitteln und dafür werben sollte. Zur Überprüfung dieser These wären allerdings weitere Forschungen nötig, die vor allem die nationalkonservativen Schulbuchautoren in den Blick nehmen müssten.

  • 1. Der Beitrag ist Teil eines größeren Forschungsprojektes zur Darstellung von Weltwissen, wobei ein aktueller Schwerpunkt auf der Darstellung von Kriegen in Schulbüchern liegt (siehe Anm. 5). Zur Verteilung des Themas in den Schulbüchern siehe Andreas Weiß, Nationale Identität und Kolonien an Hand deutscher Schulbücher, 1871-1914. Unveröffentlichte Magisterarbeit, Berlin 2007; Jeff Bowersox, German Colonialism in the Age of Empire, Oxford 2013, v. a. S. 54-80.
  • 2. Trotz ihrer angeblichen Bedeutung für die Militarisierung des Kaiserreiches sind diese Schulkonferenzen von der bisherigen Forschung nur am Rande untersucht wurden; vgl. einführend Christoph Schubert-Weller, Vormilitärische Jugenderziehung. In: Christa Berg (Hrsg.), Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Band IV: 1870-1918. Von der Reichsgründung bis zum Ende des Ersten Weltkrieges, München 1999, S. 503-515.
  • 3. Vgl. Wolfgang Reinhard, "Sozialimperialismus" oder "Entkolonisierung der Historie"? Kolonialkrise und "Hottentottenwahlen" 1904-1907. In: Historisches Jahrbuch 97/98 (1978), S. 384-417, Zitat S. 414.
  • 4. Medardus Brehl, Die Vernichtung der Herero. Diskurse der Gewalt in der deutschen Kolonialliteratur, München 2007; überblicksartig Christoph Nübel, Neuvermessung der Gewaltgeschichte. Über den "langen Ersten Weltkrieg" (1900-1930). In: Literatur. Beilage zum Mittelweg 36, 1 (2015), S. 225-248, v.a. 233-239.
  • 5. Das Projekt "Welt der Kinder. Weltwissen und Weltdeutung in Schul- und Kinderbüchern zwischen 1850 und 1918" ist ein im Rahmen des Leibniz-Wettbewerbes gefördertes interdisziplinäres Projekt am Georg-Eckert-Institut. Leibniz-Institut für Internationale Schulbuchschulforschung, in dem Historiker, Informationswissenschaftler und Informatiker gemeinsam etablierte Werkzeuge der Digital Humanities, wie Topic Modeling, für ihren Nutzen in den Geschichtswissenschaften evaluieren. Hierfür wurde eine eigene webbasierte Oberfläche entwickelt, um den für das Projekt relevanten Korpus (etwa 3500 Schulbücher) für die Analyse zugänglich zu machen. Für weitere Informationen siehe welt-der-kinder.gei.de.
  • 6. So betont Dierk Walter, dass die Offiziere nur von den "Rändern der […] gesellschaftlichen Führungsschichten" kamen und ihre sonst geringen Aufstiegschancen steigern wollten; Dierk Walter, Warum Kolonialkrieg? In: Thoralf Klein/Frank Schumacher (Hrsg.), Kolonialkriege. Militärische Gewalt im Zeichen des Imperialismus, Hamburg 2006, S. 14-43, hier S. 30; zur mangelnden gesellschaftlichen Anerkennung Winfried Speitkamp, Deutsche Kolonialgeschichte, Stuttgart 2005, S. 145; zur Rekrutierung straffällig Gewordener Susanne Kuß, Deutsches Militär auf kolonialen Kriegsschauplätzen. Eskalation von Gewalt zu Beginn des 20. Jahrhunderts, Berlin 2010, S. 148. Zu den Kolonialskandalen einführend Frank Bösch, Öffentliche Geheimnisse. Skandale, Politik und Medien in Deutschland und Großbritannien 1880-1914, München 2009, v.a. S. 225-327.
  • 7. Das älteste Beispiel in der Sammlung GEI-Digital findet sich 1824; vgl. Karl Heinrich Ludwig Pölitz, Die Weltgeschichte für gebildete Leser und Studierende. 3. Band. Der vierten, berichtigten, vermehrten und ergänzten Auflage wohlfeile Originalausgabe, Leipzig/Frankfurt a.M. 1824, S. 267.
  • 8. Friedrich zur Bonsen, Der Weltkrieg bis April 1916. Ergänzung zum Leitfaden der Geschichte für Lyzeen und höhere Mädchenschulen, 2. Auflage, Düsseldorf 1916, S. 29.
  • 9. Hermann Tewes, Menschenrassen und Völkertypen. Material zu geographischen Unterredungen auf der Oberstufe mehrklassiger Volks- und Bürgerschulen, II. Heft, 2. Auflage, Leipzig 1913, S. 71.
  • 10. Richard Fritzsche, Länderkunde der fremden Erdteile. Methodisches Handbuch für den erdkundlichen Unterricht in der Volks-, Bürger- und Mittelschule, Teil 3, Langensalza 1908, S. 145.
  • 11. Theodor Franke, Praktisches Lehrbuch der Deutschen Geschichte für die Volks- und Bürgerschule, Mittel- und Töchterschulen in anschaulich-ausführlichen Zeit- und Lebensbildern. III. Teil: Der Weltkrieg. Das erste Kriegsjahr bis zum Fall der polnischen Festungen, Leipzig 1915, S. 239.
  • 12. Karl Kaufmann/Johannes Berndt/Walther Tomuschat, Geschichtsbetrachtungen. Hilfsbuch für den Geschichtsunterricht insbesondere an Lehrerseminaren und für die Fortbildung des Lehrers. Zweiter Band: Vom Westfälischen Frieden bis auf unsere Zeit, Leipzig 1906, S. 324, 367.
  • 13. Wilhelm Rosenburg (Hrsg.); Wilhelm Klinghorst/Otto Heinze (Bearbeitung): Quellen-Lesebuch zur vaterländischen Geschichte für Lehrerbildungsanstalten und höhere Schulen; Dritter Teil: Neueste Geschichte seit 1815 bis zur Gegenwart, 13. Auflage, Hannover 1918, S. 169-170.
  • 14. Rosenburg, Quellen-Lesebuch, S. 171-175, hier S. 173-175. Im Anschluss ist die Proklamation Lothar von Trothas an die Herero abgedruckt. Zur Interpretation dieser Texte als Nachweis für das Vorherrschen eines Glaubens an den "unvermeidlichen ,Rassenkampfʻ" siehe Brehl, Vernichtung der Herero, S. 188.
  • 15. Die Kämpfe der deutschen Truppen in Südwestafrika. Auf Grund amtlichen Materials bearbeitet von der Kriegsgeschichtlichen Abteilung I des Großen Generalstabes. Drittes Heft: Die Entscheidung am Waterberg. Der Untergang des Hererovolkes. Berlin 1906, S. 217. Trotzdem wurden von deutscher Seite die hohen Verluste der Herero, vor allem nach deren Flucht in das Sandfeld, nicht geleugnet; ebd., 217-218.
  • 16. So in Emil Hauptmann, Nationale Erdkunde, 2. verm. u. verb. Aufl., Strassburg im Elsass 1911, S. 281.
  • 17. Das Verhältnis zwischen asymmetrischem Krieg, vor allem den Kolonialkriegen, und genozidalen Tendenzen wurde in der Forschung schon verschiedentlich beleuchtet; als Auswahl siehe Beatrice Heuser, Rebellen – Partisanen – Guerrilleros. Asymmetrische Kriege von der Antike bis heute, Paderborn 2013, v.a. S. 172-194.
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