In der Schwarzmeerhafenstadt Suchum, der Hauptstadt der zwischen Georgien und Russland gelegenen Republik Abchasien, befindet sich das Abchasische Staatsarchiv. Die Unabhängigkeit des seit 1992 unabhängigen Staates ist lediglich von sechs UN-Mitgliedsstaaten – allen voran Russland – anerkannt. Viele weitere, darunter vor allem die Türkei, pflegen jedoch informelle Beziehungen mit der Kaukasusrepublik. Aufgrund der Geschichte und aktuellen Politik der Region hat das Archiv einen sehr speziellen Archivbestand und die Archivverwaltung hat mit Problemen besonderer Art zu kämpfen, wie zum Beispiel dem eingeschränkten internationalen Handel. Georgien boykottiert die abtrünnige Republik und sanktioniert Unternehmen, die mit Abchasien Handel treiben. Das erschwert beispielsweise den Erwerb von Lesegeräten durch das Staatsarchiv. Die fortschreitende Digitalisierung im Archivwesen sorgt aber in absehbarer Zeit dafür, dass ein Großteil der im Abchasischen Staatsarchiv in Suchum liegenden Akten für die Außenwelt zugänglich sein werden.
Die Geschichte der kleinen Schwarzmeerregion Abchasien war in den vergangenen 150 Jahren äußerst konfliktträchtig und wechselhaft. Nachdem bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts die russisch-zarischen Truppen das Fürstentum Georgien eroberten, blieb der mehrheitlich von Tscherkessen bewohnte Westkaukasus mehr oder weniger eigenständig. Im Krimkrieg (1853–1856) überlegten sogar britische Entscheidungsträger, die Volksgruppen aus der Region gegen das Moskauer Zarenreich anzustacheln.1
Erst in den 1860er und 1870er Jahren eroberte das Russische Zarenreich auf brutalste Weise die Gebiete des heutigen Abchasiens. Mehr als die Hälfte der damaligen abchasischen Bevölkerung starb oder verließ die Heimat und siedelte in das Osmanische Reich über. Die sogenannten Muhadschir fanden in den Gebieten des heutigen Israels, Jordaniens, Libanons, Syriens und der Türkei eine neue Heimat. In der daraufhin teilweise entvölkerten Gegend in und um Suchum siedelten sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts neue Volksgruppen an, darunter Armenier, Deutsche und Pontusgriechen. Die „Klein-Istanbul“ genannte Stadt Suchum gewann an internationaler Bedeutung als die britische Indo-European-Telegraph Company mit Siemens-Technik eine Telegrafenlinie über die Stadt nach Teheran baute. Im Zarenreich gehörte das heutige Abchasien als „Okrug Suchum“ zum Gouvernement Kutaissi, also zu Westgeorgien.
Die Oktoberrevolution 1917 fand zunächst wenig Widerhall in der Region. Als aber 1918 mit der georgischen Unabhängigkeit georgische und deutsche Truppen das Gebiet erreichten, kam es zu einem Aufstand. An der Spitze der abchasischen Bauern profilierte sich Nestor Lakoba, der sich für eine Umverteilung des Agrarlandes sowie gegen die georgische Bevormundung in der Politik aussprach. In der frühen Sowjetzeit stieg er später zum führenden Politiker des Landes auf. Mit der Zerschlagung der Georgischen Demokratischen Republik durch die Rote Sowjetarmee im Frühjahr 1921 begann die Zeit der Abchasischen Sozialistischen Sowjetrepublik (ASSR) im Verbund der damaligen transkaukasischen Sowjetrepubliken.2 Erst als 1936 Lakobas bei der sowjetrussischen Regierung in Ungnade fiel, wurde die abchasische Sowjetrepublik in die georgische eingegliedert. Aus der Abchasischen SSR wurde die Abchasische Autonome SSR – innerhalb Georgiens. Die Hauptstadt Abchasiens erhielt beispielsweise ihren georgischen Namen Suchumi, mit dem typisch georgischen i am Ende.
Im Verlauf des Zweiten Weltkriegs erreichten Wehrmachtstruppen im Rahmen des „Unternehmens Edelweiß“ die nördlichen Berge der Abchasischen ASSR, zogen aber binnen weniger Monate wieder ab. Aufgrund des sowjetischen Verlusts des Donbass-Gebiets stieg derweil Tkwartscheli im Süden Abchasiens zu einem wichtigen Kohlefördergebiet auf. Die ersten Jahre nach 1945 forcierte die sowjetische Staatsmacht unter der Ägide von Lawrenti Beria eine Georgifizierung der Region. Damals schalteten die sowjetgeorgischen Behörden sogar das abchasische Radio ab.
Ende der 1970er Jahre spitzte sich mit dem öffentlichen Aufbegehren einiger abchasischer Intellektueller und hoher Kader der Kommunistischen Partei (KP) der abchasisch-georgische Konflikt erneut zu. Der landwirtschaftlich geprägte georgische Landesteil und das durch (inter)nationalen Tourismus wohlhabendere Abchasien drifteten zunehmend auseinander. Während die kritischen abchasischen KP-Mitglieder zunächst aus der Partei ausgeschlossen wurden, änderte die Moskauer Führung die folgenden Jahre ihre Wirtschaftspolitik – und gestand somit indirekt zu, dass die Beschwerden über mangelnde Industrieinvestitionen der georgischen Lokalregierung ihre Berechtigung hatten. In den 1980er Jahren investierte der sowjetische Staat umfassend in die kleine Teilrepublik.3 Die Animositäten zwischen Abchasiern und Georgiern bestanden trotz alledem weiter. Als sich im Laufe des Zerfalls der Sowjetunion die politische Führung in Tiflis von Moskau abspalten wollte, stieß das auf wenig Zustimmung in Abchasien. Spannungen zwischen Abchasiern und Georgiern nahmen Ende der 1980er Jahre wieder zu. In Suchum zeigten sich die lokalen Politiker überzeugt, dass sie ökonomisch und kulturell enger mit Russland als mit Georgien verschränkt waren. Die Spannungen eskalierten mit dem Einmarsch der georgischen Armee in Abchasien im Jahr 1992. Die Georgier konnten die abchasische Hauptstadt einnehmen und im Zuge der Kampfhandlungen brannte das Archiv der Abchasischen ASSR nieder – laut offizieller abchasischer Geschichtsschreibung ein bewusst herbeigeführter politischer Akt der georgischen Soldaten und Offiziere. Der Großteil des Archivmaterials ging verloren. Teile der Akten – vor allem Mikrofiche – konnten jedoch gerettet werden: Akten des staatlichen Pensionsfonds überstanden den Brand durch die Rettung in eine nahegelegene Kirche. Anderes Material, wie beispielsweise kirchliche Geburtenregister, befand sich zusätzlich in Kopie im Justizministerium und konnte somit trotz des verheerenden Brandes für die Nachwelt gesichert werden.
Mittlerweile hat das Staatsarchiv der Republik Abchasien, wie die Institution seit der Unabhängigkeit heißt, ein neues Gebäude am Rand der Hauptstadt Suchum. Das Anfang der 1990er Jahre gerettete Material ist dort gelagert. Für viele Jahre konnten die abchasischen Archivare nicht darauf zugreifen, da ihnen das passende Mikrofichelesegerät fehlte. Der Zustand der Mikrofiches litt unter dem Mangel an angemessenen Aufbewahrungsmöglichkeiten. Durch Hilfen des tschechischen Staatsarchivs sind die Abchasier seit kurzer Zeit dazu in der Lage auf das Material zuzugreifen: Zwei tschechische Historiker brachten im Rahmen eines von der Europäischen Union (EU) finanzierten Aussöhnungsprojektes die entsprechenden technischen Geräte nach Suchum und schulten die lokalen Archivare. Außerdem halfen sie mit der Versorgung von Aufbewahrungsboxen für Mikrofiches. Durch EU-Gelder konnten sogar Computer für die Arbeitsplätze im Lesesaal angeschafft werden. Neben der EU-Hilfe gibt es auch Unterstützung von der schweizerischen Organisation Swiss Peace. Durch die Zerstörung Anfang der 1990er Jahre hat das Archiv heute eine bunte Mischung an Akten. Noch nicht alle sind bisher geöffnet worden. Das älteste bereits gesichtete Material ist aus dem Jahr 1889. Dabei handelt es sich um bereits genannte Kirchendokumente, vor allem Geburtenregister. Akten dieser Art sind bereits bis ins Jahr 1923 systematisch durchgearbeitet. Die Archivare und Historiker arbeiten an der weiteren Erschließung dieser Bestände. Aufgrund eben jener Geburtenregister haben zuletzt auch Deutsche Ahnenforschung in dem Archiv betrieben, gab es doch bis in die 1940er Jahre eine vergleichsweise große deutsche Community in Suchum.
Im Rahmen des politischen Aussöhnungsprozesses mit Georgien übergibt die georgische Regierung seit fünf Jahren immer wieder Material an das Abchasische Staatsarchiv. Dieser vermeintliche Akt der Aussöhnung hat aber eine eindeutig politische Schlagseite, handelt es sich bei den zur Verfügung gestellten Akten vor allem um solche aus dem Russischen Kaukasuskrieg im 19. Jahrhundert und damit aus einer Zeit, als sich Abchasier und Russen feindlich gegenüberstanden. Material aus der Sowjetzeit übergibt Georgien hingegen kaum, obwohl beispielsweise auch Kopien des privaten Nachlasses von Nestor Lakoba in Tiflis vorhanden wären.4 Das Abchasische Staatsarchiv fragte explizit nach diesen Akten an, erhielt aus Tiflis jedoch eine Absage.
Aus dem Zeitalter der Weltkriege lagert bedauerlicherweise wenig Material im Staatsarchiv. Weder von der mit deutscher Unterstützung erfolgten georgischen Besatzung von 1918 bis 1921 noch vom „Unternehmen Edelweiß“ der Wehrmacht in den Jahren 1942 und 1943 sind Dokumente überliefert. Das Gleiche gilt für die Forschungen an der sowjetischen Atombombe in den 1950er Jahren, im Rahmen derer viele in die Sowjetunion gebrachte deutsche Wissenschaftler an Forschungsinstituten nahe Suchum arbeiteten. Das jeweilige sowjetische Aktenmaterial befindet sich heute in russischen Archiven.
Einer der wenigen deutschsprachigen Bestände im Abchasischen Staatsarchiv enthält die Zeitschrift „Der Kaukasus“. Diese gab der vormalige Außenminister der kurzlebigen Bergrepublik, Bamat Gaidar, im Verlauf der 1920er Jahre heraus. Nach dem Zusammenbruch der Bergrepublik im Laufe des Russischen Bürgerkrieges floh Gaidar nach Deutschland und veröffentlichte zusammen mit anderen Exilanten dieses Journal.
Ein besonderes Projekt des Staatsarchivs ist derzeit die Digitalisierung mithilfe neuer Computer und Scangeräte. Schritt für Schritt sollen auf der Webseite www.gaura.su Dokumente von Ende des 19. Jahrhunderts bis in die Gegenwart online gestellt werden. Die Homepage hat bisher eine abchasische und eine russische Sprachfassung, eine englische soll demnächst folgen. Eine elektronische Bereitstellung großer Datensätze ist aber nicht besonders schnell zu erwarten: „Wir haben noch nicht die Möglichkeiten für Big Data“ erklärte der stellvertretende Archivleiter Dmitrij Igorjewitsch Enik im persönlichen Gespräch. Ein elektronischer über das Internet verfügbarer Index ist bisher nicht vorhanden. Vor Ort können Recherchen teilweise elektronisch, teilweise in Papierform getätigt werden. Eine Voranmeldung ist erforderlich. Historiker aus Deutschland können sich in englischer Sprache an das Archiv wenden unter: enik.dmitri@yandex.ru beziehungsweise über www.gaura.su.
- 1. Norman Luxenburg: England and the Caucasus during the Crimean War, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas (Neue Folge), Bd. 16, H. 4 (1968), S. 499–504.
- 2. Timothy K. Blauvelt: The Establishment of Soviet Power in Abkhazia: Ethnicity, Contestation and Clientelism in the Revolutionary Periphery, in: Revolutionary Russia, Jg. 27 (2014), Nr. 1, S. 22–46.
- 3. Darrell Slider: Crisis and Response in Soviet Nationality Policy: The Case of Abkhazia, in: Central Asian Survey, Jg. 4 (1985), Nr. 4, S. 51–68.
- 4. Das eigentlich in Moskau lagernde Material wurde in den 1990er Jahren von der Hoover Institution kopiert. Die USA versorgten die georgische Seite mit Kopien dieser Akten.