Interview mit Christa Ehrmann-Hämmerle (Wien)
Christa Ehrmann-Hämmerle
Interview
Veröffentlicht am: 
15. Oktober 2012

Zum Start des Portals reflektieren prominente Vertreter des Fachs über die bisherige Entwicklung der Militärgeschichtsschreibung im deutschsprachigen Raum und zeigen Forschungsperspektiven für die Zukunft auf. Die Interviewfolge wird mit ao. Univ.-Prof. Christa Ehrmann-Hämmerle fortgesetzt. Sie ist Professorin für Neuere Geschichte und Frauen-/Geschlechtergeschichte an der Universität Wien und seit 2011 Sprecherin des Arbeitskreises Historische Friedensforschung.

Wie hat sich die deutschsprachige Militärgeschichtsschreibung in den vergangenen 25 Jahren entwickelt?

Heute gibt es eine weitgehende Pluralisierung der inhaltlichen Felder und Ansätze in der Militärgeschichtsschreibung – dank der Entwicklung in den letzten zwei bis drei Jahrzehnten (die allerdings national noch sehr unterschiedlich "ankommt"). Zum früher so eingeschränkten Fokus auf Operationsgeschichte, (Militär-)Politik, Ereignisgeschichte und militärische Eliten sind im Mainstream der internationalen Forschung heute sozial-, wirtschafts-, alltags- oder erfahrungs-, kultur- und – wenn auch noch seltener – frauen- und geschlechtergeschichtliche Ansätze getreten, die auch das komplexe Wechselverhältnis von Militär und Gesellschaft analysieren, im Frieden wie im Krieg. In Verbindung mit solchen Erweiterungen und konzeptuellen Veränderungen hat sich die Militärgeschichtsschreibung zu einer auch kritisch-selbstreflexiv verfahrenden Subdisziplin entwickelt und stark theoretisiert, so dass sie nun – und das halte ich für sehr wichtig – auch im Kontext der neueren Gewalt- oder Friedensforschung betrieben werden kann; einstige Gräben sind eingebrochen und haben gemeinsam verfolgten Forschungsinteressen Platz gemacht.

Wo steht die deutschsprachige Militärgeschichtsschreibung heute im Vergleich zum Ausland?

Das ist schwierig zu beantworten, da "Ausland" ja auch sehr komplex ist und die Militärgeschichtsschreibung etwa in den durch lange Neutralität geprägten nordeuropäischen Ländern oder der Schweiz eine andere Tradition und Ausrichtung hat als im weiten anglo-amerikanischen oder in historisch stärker militarisierten Gesellschaften. Besondere Stärken der deutschsprachigen Militärgeschichtsschreibung scheinen mir in der Frühneuzeitforschung, dem "langen" 19. Jahrhundert und den vielen neuen Arbeiten zur Deutschen Wehrmacht zu liegen. Ihre unterschiedliche nationale Ausrichtung wurde schon erwähnt; so herrscht etwa in Österreich noch immer ein großer Nachholbedarf, was neuere, innovative Ansätze anbelangt; hier konnte sich selbst all das, was schon seit längerem unter dem Label "Neue Militärgeschichte" firmiert, nur in Ansätzen entwickeln.

Welche aktuellen, inhaltlichen oder methodischen Entwicklungstendenzen halten Sie für bedeutend?

Sehr wichtig scheint mir die Frage nach der langen Genese 'moderner', d.h. weitgehend totalisierter Kriegsführung zu sein, sowie – in Verbindung damit – die Frage nach Kontinuitäten in der vieldimensionalen Kriegsführung des sog. "Katastrophenzeitalters" (E. Hobsbawm) von 1914-1945. Dabei sollten auch außereuropäische Kriege des 19. Jahrhunderts in den Blick genommen werden, und genozidale Akte/Genozide sowie Kriegsverbrechen bis hin zu den vielfältigen Formen sexueller Gewalt im Krieg ... 'Moderne' Kriegsführung bedient sich verschiedenster Mobilisierungs- und Kampfstrategien, die das Feld des Militärischen überschreiten, von mehr oder weniger gleichgeschalteten Medien über Arbeitszwang für die zivile Bevölkerung bis hin zur Prägung oder Instrumentalisierung von Emotionen, d.h. der Etablierung von 'emotional regimes' in den Kriegsgesellschaften; ihre Analyse sollte daher entsprechend komplex angelegt sein. Methodisch besonders innovativ waren und sind m. E. kultur-, erfahrungs- und geschlechtergeschichtliche Zugänge, die beispielsweise ein neues und erweitertes Verständnis der Funktionsweisen militärischer Kohäsion vermittelt haben, indem der Konnex zwischen Soldatentum und hegemonialer Männlichkeit analysiert wurde, oder generell die Funktionsweisen der Kategorie Geschlecht als auch machtaffines diskursives "Kampfmittel" zur Mobilisierung von Kindern, Männern und Frauen für den Krieg. Besonders wichtig sind dabei auch Arbeiten zu Soldatinnen, etwa im Ersten und im Zweiten Weltkrieg.

Wie hat sich die institutionelle Verankerung der Teildisziplin an den Universitäten entwickelt?

In Österreich, woher ich komme und wo ich lehre und forsche, gibt es im Prinzip keine Verankerung der Militärgeschichtsschreibung an den Universitäten. Kriegs- und Friedensforschung wird hier nicht im Rahmen eigens gewidmeter Lehrstühle und Arbeitskreise durchgeführt, "Militärgeschichte" noch immer oft mit einer applikatorischen Eigengeschichte des Militärs oder militärischer Traditionspflege, die außeruniversitär betrieben wird, gleichgesetzt. Erst allmählich kommt es zu das Feld aufbrechenden wissenschaftlichen "Deutungskämpfen" und Erweiterungen.

Welche Rolle haben Ihrer Meinung nach wissenschaftliche Zusammenschlüsse wie der Arbeitskreis Historische Friedensforschung, der Arbeitskreis Militärgeschichte oder der Arbeitskreis Militär und Gesellschaft in der frühen Neuzeit bei der Entwicklung der Teildisziplin gespielt?

Eine sehr wichtige, gerade in den letzten zwei bis drei Jahrzehnten. Sie haben durch ihre Vernetzungen, Jahrestagungen und Publikationen maßgeblich zur Erweiterung und Erneuerung des Forschungsfeldes beigetragen, Themen dafür bestimmt und vorangetrieben, Trends gesetzt – inhaltlich wie methodisch-theoretisch. Bedauerlich ist, dass diese Arbeitskreise sich in jüngster Zeit wieder auf engere Felder oder Interessens- und Einflussgebiete zurückzuziehen scheinen, somit eine Diskussion und Verbindung zwischen Friedens- und Militärforschung wieder abnehmen könnte.

Welche Rolle haben Ihrer Meinung nach Einrichtungen der außeruniversitären Forschung wie das Institut für Zeitgeschichte, das Hamburger Institut für Sozialforschung oder das Militärgeschichtliche Forschungsamt bei der Entwicklung der Teildisziplin gespielt?

Sie sind unabdingbar notwendig, gerade weil sie auch sehr verschieden ausgerichtet sind und unterschiedliche Interessensgruppen von Historiker/innen bedienen

Wie gestaltet sich das Verhältnis von akademischer Geschichtsschreibung und medialer Beschäftigung mit Themen der Militärgeschichte?

In Österreich ist das eine besonders problematische Relation, da Militärgeschichte in den Medien eben noch immer oft im klassischen Sinne präsentiert wird und es die wenigen Proponenten dieses Feldes sind, die dabei zu Wort kommen. Das Heeresgeschichtliche Museum in Wien, mit seinem seit Jahrzehnten unverändert gebliebenen Gesamtausstellungskonzept, ist dafür ein sehr gutes Beispiel; hier wird Krieg noch immer nach antiquierter Manier unkritisch ausgestellt, der Fokus auf eine eng gezogene "Militärgeschichte von oben", Schlachten(-mythen), Waffen- und Uniformkunde kaum relativiert. Bemühungen um eine grundlegende Neugestaltung des Museums, wie im Falle des militärhistorischen Museums der Bundeswehr in Dresden geschehen, sind nicht erkennbar. Alternative Ansätze und Debatten über eine Neuausrichtung der militärgeschichtlichen Forschung in Österreich werden medial selten vertreten – abgesehen von zeitgeschichtlichen Themen. Nur am Rande der Disziplin auffindbar ist außerdem eine ausgewiesene historische Friedensforschung, sei es in Bezug auf 'klassische' Themen wie Pazifismus und die Friedensbewegung(en) des 19. und 20. Jahrhunderts, oder sei es im Sinne einer multiperspektivischen, Fragen der Gewalt-, Kriegs- und Militärgeschichte integrierenden Friedensforschung.

Welcher Autor bzw. welches wissenschaftliche Werk hat Sie persönlich nachhaltig beeinflusst?

Ute Freverts brillante Studie "Die kasernierte Nation" respektive ihre, Karen Hagemanns und Ruth Seiferts vielen grundlegenden Forschungsarbeiten zu Militär und Geschlecht, zum Verhältnis von Militär und Gesellschaft, zur Allgemeinen Wehrpflicht in Preußen und im Deutschen Reich, sowie Benjamin Ziemanns und Thomas Kühnes Bochumer Tagung und Buch zu "Was ist Militärgeschichte" und Michael Geyers programmatischer Text zu "Eine Kriegsgeschichte, die vom Tod spricht" ... – um einige für mich ganz wichtige Beispiele zu nennen. Sie haben u.a. gezeigt, dass es wenig Sinn macht, Phänomene wie Krieg oder die Institution Militär losgelöst von gesellschaftsgeschichtlichen Fragen zu untersuchen, und dass Analysekategorien wie Geschlecht, Klasse oder Stand, Ethnizität, Religion etc. unabdingbar sind, um Militarisierungsprozesse und von militärischen Werten und Sinnstiftungen geprägte (Gruppen-)Identitäten deuten zu können.

Welches Buch müsste längst einmal geschrieben werden?

Das sind viele! Derzeit besonders wünschen würde ich mir eine Studie zur Kriegsschuldfrage in Bezug auf den Ausbruch des Ersten Weltkrieges in der Habsburgermonarchie (beziehungsweise der Tabuisierung derselben in der österreichischen Historiografie): In welchem historiografischen Umfeld war sie möglich, warum gab es in Österreich keine der deutschen "Fischerkontroverse" vergleichbare historiografische Debatte? Dringend notwendig sind, wie oben indirekt angemerkt, auch Forschungen zur Friedensbewegung in Österreich-Ungarn, die – wenn überhaupt – noch immer eng auf Bertha von Suttner fokussiert sind. Über andere Pazifisten und Pazifistinnen oder Friedensvereine in den verschiedenen Kronländern der Monarchie wissen wir sehr wenig, ebenso wie eine umfassende Aufarbeitung der sozialen Militarisierung der Habsburgermonarchie in den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg noch immer aussteht. Sie sollte diese Tendenzen, die vermutlich auch hier weit stärker waren als lange angenommen, in einen europäischen Kontext einbinden und gleichzeitig auf Differenzen in diesem großen multiethnischen Staat fokussieren – was in der einschlägigen Militärgeschichtsschreibung generell viel zu wenig geschieht.