Fünfter Teil der Reihe "Forschung zum Kalten Krieg - eine Bestandsaufnahme"
Christoph Nübel
Interview
Veröffentlicht am: 
18. Juli 2016
Schwerpunktherausgeber: 

Der Kalte Krieg war ein globaler Konflikt. So überrascht es kaum, dass überall auf der Welt zum Thema gearbeitet wird. Die Interviewreihe "Forschung zum Kalten Krieg - eine Bestandsaufnahme" misst die Genese der Forschung gestern und heute ebenso aus, wie sie nach zukünftigen Entwicklungen fragt. Die siebenteilige Reihe ist eine Kooperation des Berliner Kollegs Kalter Krieg und des Portals Militärgeschichte. Sie wurde von Dr. Christoph Nübel (Humboldt-Universität zu Berlin) und Dr. Klaas Voß (Hamburger Institut für Sozialforschung) durchgeführt.

Diesmal im Interview: Prof. Dr. Hermann Wentker (Leiter der Forschungsabteilung des Instituts für Zeitgeschichte München - Berlin in Lichterfelde - Berlin, Deutschland).

Abschnitt I: Zur Herkunft und Entwicklung der Kalte-Kriegs-Forschung

F: "Erleben wir gerade einen neuen Kalten Krieg?" - Diese Frage ist in den letzten Monaten in der Presse häufig gestellt worden. Würden Sie sie bejahen?

A: Nein, der Kalte Krieg war die Konfrontation von zwei hochgerüsteten, mit Atomwaffen ausgestatteten Supermächten und ihrer jeweiligen Bündnissysteme. Das verhinderte solche kriegerischen Auseinandersetzungen in Europa, wie gerade eine in der Ukraine stattfinden. Wenn jetzt Moskau durch die völkerrechtswidrige Annexion der Krim und die Destabilisierung der Ukraine einen Konflikt mit der NATO riskiert, kann man darin zwar die Neuauflage einer Konfrontation zwischen Ost und West sehen, aber an die Dimension des Kalten Krieges kommt das nicht heran.

F: Was waren die wichtigsten Trends und Entwicklungen in der Forschung zum Kalten Krieg seit 1990? Welche neuen Bereiche konnten in den letzten 25 Jahren erschlossen werden?

A: Am wichtigsten im Hinblick auf die Erforschung des Kalten Krieges in den letzten 25 Jahren war eine Archivrevolution in den Staaten des ehemaligen Ostblocks und der ehemaligen Sowjetunion, so dass die sowjetisch-osteuropäische Seite des Kalten Krieges sehr viel besser erforscht ist als zuvor. Aber auch in Westeuropa und den USA sind neue Archivquellen, insbesondere zu den 1970er und 1980er Jahren, zugänglich geworden, so dass der Fokus der Forschung sich auf die Zeit des Kalten Krieges zwischen Helsinki und dem Mauerfall verschoben hat. Insbesondere die Frage nach dem Ende des Kalten Krieges hat an Brisanz gewonnen, weil es dabei auch um die Entstehung der heutigen weltpolitischen Situation geht, die nicht mehr von Bipolarität, sondern von Multipolarität geprägt ist. Neue Forschungen sind auch entstanden, vor allem zur Außen- und Sicherheitspolitik der USA und der Sowjetunion. Dabei wird auch den kleineren Verbündeten und den Neutralen neuerdings mehr Gewicht zugebilligt.

Abschnitt II: Der Status Quo

F: In der Forschung zum Kalten Krieg sehen wir nach wie vor, dass die traditionellen "International Relations"-Ansätze eine bedeutende Rolle spielen. Zugleich scheint es, dass die aktuelle Forschung von den jüngeren "Turns" in den Geisteswissenschaften beeinflusst wird. Gibt es eine Kulturalisierung der Cold War Studies? Welche Rolle spielen Begriffe wie "Raum", "Emotionen", "Transnationalismus", "Aushandlungsprozesse" usw.?

A: Grundsätzlich geht der Trend in Richtung einer "Kulturalisierung" des Kalten Krieges, wenn etwa die Frage nach den "Cold War Cultures" gestellt wird. Dabei besteht in den USA offensichtlich immer noch die Möglichkeit, sowohl klassische Themen der "International Relations" zu bearbeiten als auch eher den genannten neumodischen Trends nachzugehen. In Deutschland hingegen scheint es schwieriger zu sein, Förderung für erstere zu bekommen. Überdies sollte man aber auch hier differenzieren: Die Erforschung transnationaler Beziehungen im Kalten Krieg wird schon länger betrieben und kann erfolgversprechend sein; die Verbindung von Themen des Kalten Krieges mit emotionsgeschichtlichen Ansätzen scheint eher noch am Anfang zu stehen und wird von Vertretern der Emotionsgeschichte auch eher abgelehnt.

F: Wo liegen mit Blick auf Akteure und Weltregionen die inhaltlichen Schwerpunkte der aktuellen Forschung?

A: Die Schwerpunkte liegen eindeutig auf den Supermächten USA und Sowjetunion als Akteuren, wenngleich auch deren west- und osteuropäischen Verbündeten und den "Neutral and Non-Aligned States" seit einiger Zeit in der Forschung an Bedeutung gewinnen. Auch die "Dritte Welt" wird zunehmend berücksichtigt, wobei Asien - abgesehen von Vietnam und China - etwas außen vor zu sein scheint.

F: In den letzten Jahren ist eine Debatte um den Ort der DDR im Kalten Krieg entbrannt. Lutz Raphael stellte auf dem letzten Historikertag sogar die provokative Frage, ob die DDR-Forschung bald mit den Landesgeschichten gleichzusetzen sei. Andere hingegen betonen, dass die DDR eine wichtige Größe bei der Analyse des Phänomens Kalter Krieg sei. Welcher Position neigen Sie zu?

A: Die DDR war wie die Bundesrepublik ein Kind des Kalten Krieges, ohne die Systemkonfrontation hätte es keine DDR gegeben. Gleichzeitig ist auf den deutsch-deutschen Sonderkonflikt im Rahmen des Kalten Krieges zu verweisen: Vieles, was den Kalten Krieg ausmachte, spielte sich auch in der deutsch-deutschen Konfrontation und der deutsch-deutschen Entspannung ab. Wer nur auf die Supermächte sieht - was gern in den USA getan wird, dem wird die Sonderrolle der DDR im Kalten Krieg entgehen. Man sollte die DDR sicher nicht überbewerten, aber sie gehört zur deutsch-deutschen Geschichte zwischen 1945/49 und 1990 elementar dazu. Wer sie auf eine sowjetische Satrapie, eine Fußnote o. ä. reduzieren will, kann der deutschen Geschichte nach 1945 nicht angemessen gerecht werden.

F: Wo stehen deutsche Universitäten und Institute mit Blick auf die internationale Forschung zum Kalten Krieg? Gibt es Unterschiede oder Nachholbedarf?

A: An den deutschen Universitäten ist der Kalte Krieg in Forschung und Lehre kaum präsent. Insbesondere die Geschichte der internationalen Beziehungen nach 1945 wird kaum behandelt. Bei den außeruniversitären Instituten sieht es etwas besser aus: Verwiesen sei etwa auf das Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr in Potsdam und auf das Berliner Kolleg Kalter Krieg mit seinen Trägerinstituten.

Abschnitt III: Zukunftsperspektiven

F: Besteht im Kontext der jüngeren Forschungsentwicklung die Gefahr, dass der Kalte Krieg zunehmend zum "Catch-All-Term" wird, also als attraktives Label für alles benutzt wird, was zeithistorisch als relevant und interessant gilt?

A: Die Gefahr besteht grundsätzlich, aber ich bin mir nicht sicher ob der Kalte Krieg zur Zeit wirklich so ein attraktives Label ist. Daher halte ich es zunächst für sinnvoll, in Deutschland den Kalten Krieg als Kontext für die verschiedensten Probleme zu reaktivieren, bevor man darüber streitet, was man zur Kalte-Kriegs-Forschung zählt und was nicht.

F: Falls es eine "Kulturalisierung" der Cold War Studies gibt: Ist diese mit einem Verkümmern der klassischen Politik-, Diplomatie- und Militärgeschichte des Kalten Krieges verbunden? In welchen (neuen?) Formen ließen sich diese Forschungsfelder in Zukunft revitalisieren?

A: Diese Frage überschneidet sich mit Frage 3. Grundsätzlich dazu: Zwar erleben wir ein gewisse Renaissance der "internationalen Geschichte" - aber diese ist mehr und diffuser als eine Geschichte der internationalen Beziehungen. Ziel müsste es sein, den Kalten Krieg in eine moderne Geschichte der internationalen Beziehungen einzuordnen, wobei es darum ginge, die internationalen Beziehungen nicht nur als Staatenbeziehungen zu verstehen, sondern auch nach der Relevanz anderer Akteure zu fragen (Staatenzusammenschlüsse, nicht-staatliche Akteure). Vergessen werden sollte auch nicht die Wirtschaft als Faktor im Kalten Krieg. Gerade letzteres scheint mir derzeit zu kurz zu kommen.

F: Das Berliner Kolleg Kalter Krieg betont in seiner Forschungsagenda deutlich die Durchlässigkeit des Eisernen Vorhangs und die Grenzen der Wirkungsmacht des Kalten Krieges. Laufen Historiker hier nicht auch Gefahr, ihren eigenen Forschungsgegenstand zu demontieren? Welchen Forschungsschwerpunkt hat demgegenüber das Institut für Zeitgeschichte, Abteilung Berlin (IfZ)?

A: Nein, wer nach den Grenzen des Kalten Krieges fragt, hat gleichzeitig auch dessen Dimensionen und Ausgestaltung im Blick. Ein wichtiger Forschungsschwerpunkt des IfZ in Berlin ist zum einen die Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland, die in den Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik dokumentiert wird; außerdem laufen an der Abteilung Berlin-Lichterfelde Forschungsprojekte zur deutsch-deutschen Nachkriegsgeschichte im europäischen Kontext sowie zu den Transformationen in der neuesten Zeitgeschichte (1970-2000), wobei der internationalen Geschichte ein zentrale Rolle zukommt.

F: Welche neuen Impulse für die Geschichtswissenschaft, aber auch für andere Disziplinen, könnte in den nächsten Jahren von den Cold War Studies ausgehen? In welche Richtung werden sich die Cold War Studies entwickeln?

A: Diese Zukunft lässt sich schwer voraussagen, da Geschichte auch abhängig ist von der Gegenwart der Historiker, die diese erforschen. Eine vorsichtige Prognose müsste zwischen der deutschen und der anglo-amerikanischen Forschung unterscheiden. In den USA und Großbritannien sind Cold War Studies ein etablierter Teil der Wissenschaft, die mit großer Selbstverständlichkeit betrieben werden, in Deutschland müssen diese erst etabliert werden. Wenn es gelingt, das Interesse nicht nur an der internationalen Geschichte, sondern auch an den internationalen Beziehungen nach 1945 zu reaktivieren, dann dürften sich die Cold War Studies auch in Deutschland halten, allerdings werden voraussichtlich Ansätze zur Erforschung genuin politischer Beziehungen wahrscheinlich Probleme haben, eine Finanzierung zu erhalten. Eine Ausweitung der internationalen Beziehungen (siehe Frage 8) wird wohl nötig sein.

Das Interview führte Dr. Christoph Nübel.

Im nächsten Teil der Reihe am 1. August 2016: Lic. phil. Sybille Marti (Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Fernuniversität Hagen – Hagen, Deutschland)

 

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