Wenn wir uns Politik als einen großen Kontinent mit unterschiedlichen Klimazonen vorstellen, dann liegt das Land der Reformen heute ganz im Norden. Es ist unwirtlich und kalt. Wer es durchqueren will, braucht Mut und Durchhaltevermögen. Alle, die sich in das Land hineinbegeben, müssen sich in einem Gestrüpp von Machtkämpfen, der Verweigerung von Mitarbeitern und Ratschlägen von Besserwissern zurechtfinden. Trotz dieser Gefahren bleibt der Politik allerdings zuweilen keine Wahl: Massive öffentliche Kritik kann Reformen als unbedingte Notwendigkeit markieren. Dann ist sie dazu gezwungen, das unwirtliche Land zu betreten. Der Preis dafür ist hoch: Im Falle eines Scheiterns bleibt alles wie zuvor. Zeit ist verloren, das eigene Ansehen und die Karriere sind dahin. Nach erfolgreicher Rückkehr winken jedoch Ruhm und Ehre.
Die Relevanz dieses Bildes lässt sich zurzeit in der deutschen Politik beobachten. Boris Pistorius ist als Verteidigungsminister wenig mehr als 100 Tage im Amt und hat wiederholt erklärt, das Bundesministerium der Verteidigung reformieren zu wollen. Diese ambitionierte Agenda ist teilweise regelrecht euphorisch aufgenommen worden. Die „Bild“ hat in ihrer ganz eigenen Art, die Dinge sprachlich zu verdichten, den Minister „Putztorius“ getauft. Sogar aus der Opposition gibt es Lob.
Tatsächlich ist der Niedersachse populär. Laut ZDF-Politbarometer ist er Deutschlands beliebtester Politiker. Auf Twitter kursieren KI-generierte Bilder, die Pistorius als bewaffneten Weisen zeigen, der den Weg des Heils kennt. In zahlreichen Collagen ist der Minister dagegen als unerschrockener Held mit Sonnenbrille und Anzug vor spektakulären Explosionen dargestellt. Wie weit wir mit Debatten um die Relativität von Geschlechterrollen auch immer zu sein meinen: In diesen Repräsentationen treten die alten Vorstellungen zutage, dass Wehrhaftigkeit und Maskulinität eben doch miteinander verknüpft sind. Pistorius‘ Vorgängerinnen mussten spürbar dagegen anarbeiten.
Eine komplexe Organisation
Die öffentlich teils harsch kritisierten Strukturen des Verteidigungsministeriums zu verändern ist gewiss keine kleine Aufgabe. Mit seinen 2.500 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zählt es zu den personalstärksten Ressorts der Bundesrepublik, sogar das für Inneres ist über 1.000 Köpfe kleiner. Die zehn Abteilungen des Ministeriums, deren Organisation gemeinhin als komplex beschrieben wird, verteilen sich auf Standorte an Rhein und Spree.
Dass sich ein Verteidigungsminister bereits kurz nach Amtsantritt zum Reformer erklärt, ist ungewöhnlich. Ohne Beispiel ist es allerdings nicht. Bei näherem Hinsehen wird sogar deutlich, dass viele seiner 20 Vorgänger mit dem Versprechen antraten, ihr Haus zu reformieren. Der Grund dafür ist, dass kaum jemals jemand mit Umfang und Organisation des Ministeriums zufrieden war.
In den 1950ern wollte man ein schlankes „Grundsatz- und Richtlinienministerium“ mit 1.000 Mitarbeitern schaffen (Frauen waren damals kaum vertreten). Dieses Ziel wurde völlig verfehlt. Bereits 1970 war das Personal auf etwa 5.000 angewachsen. 1980 konnte der Generalinspekteur sogar festhalten, dass allein sein Stab „quantitativ zwei Mal das Familienministerium stellen kann“. Es war auch die schiere Breite an Aufgaben, die im „Kalten Krieg“ zu diesem massiven Aufwuchs geführt hatte. Das Ministerium führte und verwaltete die Bundeswehr, die damals eine Stärke von 460.000 Soldaten hatte. In der Verwaltung waren noch einmal 170.000 zivile Mitarbeiter tätig.
Das Schreckgespenst der Vergangenheit
Die endlos anmutenden Aufgabengebiete des Ministeriums klar zu ordnen, war offenbar eine Herausforderung. Ein Teil der Probleme ging darauf zurück, dass das erst 1955 gegründete Verteidigungsministerium ein Latecomer war. Die anderen klassischen Ressorts wie Inneres oder Justiz existierten bereits seit 1949. Das Ministerium musste sich seinen Platz erst erarbeiten. Dazu kam, dass der Zweite Weltkrieg nur wenige Jahre zurücklag. Der Bundestag wachte eisern darüber, dass der „Primat der Politik“ im Haus gewahrt blieb und die Offiziere nicht zu viel Macht bekamen.
Nicht wenige Abgeordnete befürchteten, politisierende Soldaten würden die Demokratie gefährden. Die Auffassung, das Militär habe in Weimar einen „Staat im Staate“ gebildet, war nach 1945 äußerst lebendig. Er wurde in den kommenden Jahrzehnten immer wieder bei Machtkämpfen zwischen zivilen Beamten und Offizieren im Ministerium in Stellung gebracht. Generaloberst Hans von Seeckt, der als Chef der Heeresleitung das Militär in der Weimarer Republik politischen Einflüssen entziehen wollte und daher auf die Autonomie der militärischen Abteilung im Reichswehrministerium hinarbeitete, geisterte als Schreckgespenst durch die Wiederbewaffnungsjahre.
Die Vergangenheit warf gerade in Westdeutschland lange Schatten auf die Frage nach den Kompetenzen des Militärs im neuen Verteidigungsministerium. Das war allerdings keine deutsche Besonderheit. Erst 1947 wurde in Washington ein einheitliches Verteidigungsministerium geschaffen. In der neuen Organisation sollten die im Zweiten Weltkrieg mächtig gewordenen Generale enger in politische Entscheidungen eingebunden und kontrolliert werden.
Im Kreuzfeuer der Kritik
Nur wenige Jahre später entstand in Bonn eine komplexe Organisation, die wie ihr ungleich mächtigeres Pendant in Washington verschiedene Interessen austarieren und umfangreiche Aufgaben bewältigen musste. Das Verteidigungsministerium, in schmeichelhafter Selbstbezeichnung „Pentabonn“ genannt, galt als Dauerbaustelle und wurde immer wieder zur Zielscheibe der Kritik.
In den 1980er Jahren sprachen Zeitungen vom „Dschungel auf der Hardthöhe“. Der junge Jürgen Möllemann bezeichnete das Ministerium gar als „unregierbar“. Das unschöne Wort vom „Wasserkopf BMVg“ machte die Runde. In der Truppe schließlich schimpfte man, die Hardthöhe produziere Bürokratie und gebe sinnlose Befehle und Erlasse nach unten, wolle dafür aber keine Verantwortlichen benennen. Der Reigen der Kritik setzte sich bis heute fort, allenfalls unterbrochen von Phasen, in denen das Ministerium weniger im Fokus der Medien stand. Der NDR-Podcast „Streitkräfte und Strategien“, das ehrwürdiges Flaggschiff sicherheitspolitischer Analyse in Deutschland, bezeichnete das Ressort 2022 sogar als „Schlangengrube“.
Reformen zwischen Machbarkeit und Notwendigkeit
Zahlreiche Minister traten mit der Agenda an, dem Verteidigungsministerium einen tragfähigen Aufbau zu geben. Ruhm hat dieses Vorhaben kaum jemandem gebracht. In den 1960er Jahren restrukturierten Kai-Uwe von Hassel und sein Nachfolger Gerhard Schröder das Haus tiefgreifend, ohne dass die Kritiker verstummt wären und der mühevolle Reformprozess sich positiv auf ihre weitere politische Karriere ausgewirkt hätte.
So notwendig Reformen erschienen, wandelte sich ihr Stellenwert jedoch erheblich. Brandts sozialliberale Koalition hatte sich die Erneuerung von Staat und Gesellschaft auf die Fahnen geschrieben. Es herrschte Aufbruchstimmung. Helmut Schmidt löste Schröder 1969 ab. Er übernahm das Amt des Verteidigungsministers zwar widerwillig, aber mit einer Reformagenda in der Aktentasche. Seine ambitionierte Neuordnung des Ressorts ist heute vor allem mit der Schaffung des Planungsstabes und der Neuregelung der militärischen Führungskompetenzen im berühmten „Blankeneser Erlass“ verbunden.
Obwohl die Kritik an den Strukturen des Hauses immer wieder aufflammte, erfolgten größere Reformen erst wieder nach dem Ende des Kalten Krieges. Der „Berliner Erlass“ stärkte 2005 die Führungsaufgaben des Generalinspekteurs, um auf die Anforderungen der Auslandseinsätze – die Bundeswehr war damals nicht nur in Afghanistan, sondern beispielsweise auch am Horn von Afrika oder in Bosnien aktiv – reagieren zu können. Die von Minister zu Guttenberg 2010 angestoßene Bundeswehrreform beschleunigte den Wandel. Ihr fehlte das Schöpferische, stattdessen stand sie unter dem fiskalischen Zwang der Finanzkrise und sollte die Bundeswehr budgetfreundlich kleinschrumpfen. Nach Guttenbergs abruptem Karriereende unterzeichnete Nachfolger de Maizière 2012 den „Dresdner Erlass“. Nun wurde das Haus um 1.000 auf 2.000 Köpfe verkleinert. Zentrale Führungsinstrumente wie der Stab des Generalinspekteurs sowie der Planungsstab wurden aufgelöst, was unter Experten als großer Fehler gilt.
Die zeitliche Nähe von Berliner und Dresdner Erlass zeigt, wie sehr das Verteidigungsministerium angesichts der Weltkrisen seit 2001 unter Druck geraten war und nach effizienten Strukturen suchte. Eine positive Reformerzählung konnte hingegen nicht etabliert werden. Die Reformen der 2000er waren erkennbar aus der Not heraus geboren, sodass der Befreiungsschlag misslang und der Kreislauf zwischen Kritik und Reform nicht unterbrochen wurde.
So bliebt die Kritik an Minister und Ministerium ständige Begleitmusik in der Berliner Republik. In den 2010er Jahren fokussierte sie auf Fehlschläge in der Rüstung. De Maizière, der bei Amtsantritt 2011 noch über die wirre Organisation der Behörde lästerte, strauchelte 2013 über die Euro-Hawk-Affäre. Er beklagte, von seinem Haus zu spät über die Zulassungsprobleme der Drohne informiert worden zu sein. Mit einem ähnlichen Hinweis auf mangelhafte Strukturen endeten auch die Ermittlungen in der Gorch-Fock-Affäre 2019 unter von der Leyen. Die Kosten für die Sanierung des Segelschulschiffes explodierten, ebenso wie die mediale Kritik. Wie Möllemann etwa 40 Jahre zuvor bezeichnete der „Spiegel“ das Haus als „unregierbar“.
Machtspiele
Die Vergangenheit begegnet uns heute jedoch nicht nur in der Sprache, sondern auch in handfesten Machtkonflikten. Angesichts der Reformpläne von Minister Pistorius beruft sich der Verband der Beamten und Beschäftigten der Bundeswehr wieder auf ein zentrales Schlagwort der alten Bundesrepublik, nämlich den „Primat der Politik“, der vor dem Militär gewahrt werden müsse. Der Verband befürchtet, dass die Einrichtung des neuen und mächtigen Führungs- und Planungsstabes, der von Brigadegeneral Freuding geleitet werden soll, zu einem Übergewicht des Militärs führe und zivile Bereiche entmachtet würden. Diese Stellungnahme aktualisiert Muster des Konflikts zwischen zivilen und militärischen Bediensteten, die die Geschichte des Verteidigungsministeriums über Jahrzehnte prägten.
Der Reformdiskurs von heute hat also eine erhebliche historische Tiefendimension. Sich dieser zu vergewissern, kann helfen, die Logiken von Kritik und Reformen besser zu verstehen und zu ergründen, was organisatorisch wirklich neu ist. Reform ging immer mit Kritik einher – was nichts Schlechtes ist: Sie markiert Defizite und das Wünschenswerte im politischen Feld. Der Blick zurück zeigt auch: Kritik an obersten Bundesbehörden war in der Bundesrepublik durchgängig möglich. Ihre Form lässt sich als Indikator für die demokratische Kultur dieses Landes verstehen. Schließlich ist Kritik auch Machtkampf. Im neuen Ringen um den „Primat der Politik“ geht es wie in den 1950ern auch darum, wer mitentscheiden darf. Das ist keine deutsche Besonderheit, sondern selbstverständlicher Teil der fein austarierten Machtbalance in demokratischen Staaten. Es gehört sogar zu den wichtigsten Eigenschaften der öffentlichen Debatte im demokratischen Rechtsstaat, so Niklas Luhmann, dass sie das „Offenhalten der Zukunft für Entscheidungslagen mit neuen Gelegenheiten und neuen Beschränkungen“ gewährleistet.
Das Land der Reformen heute
Galten Reformen in der Epoche Brandts und Schmidts als Zeichen politischen Fortschritts, gerieten sie in den 1980er Jahren allerdings in Verruf. Heute werden Reformen als schiere Notwendigkeit betrachtet. Wenn ein „Reformstau“ bewältigt werden muss, bedeutet das ein Wagnis und einen Zwang zum Handeln. Das erklärt auch die Popularität von Minister Pistorius. Sie speist sich aus dem Narrativ, dass besonderer Mut nötig ist, lange Bestehendes gegen den Widerwillen zahlreicher Bestandswahrer zu verändern. Das Fortschrittliche und Schöpferische ist der Reform dagegen weitgehend abhandengekommen.
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut durch Christina Kecht.
Zitierempfehlung: Christoph Nübel, Das unwirtliche Land. Kritik und Reform in der Geschichte des Verteidigungsministeriums, in: Portal Militärgeschichte, 30. Mai 2023, URL: https://portal-militaergeschichte.de/nuebel_pistorius, DOI: https://doi.org/10.15500/akm.30.05.2023 (Bitte fügen Sie in Klammern das Datum des letzten Aufrufs dieser Seite hinzu).