Sechster Teil der Reihe "Forschung zum Kalten Krieg - eine Bestandsaufnahme"
Christoph Nübel
Interview
Veröffentlicht am: 
01. August 2016
Schwerpunktherausgeber: 

Der Kalte Krieg war ein globaler Konflikt. So überrascht es kaum, dass überall auf der Welt zum Thema gearbeitet wird. Die Interviewreihe "Forschung zum Kalten Krieg - eine Bestandsaufnahme" misst die Genese der Forschung gestern und heute ebenso aus, wie sie nach zukünftigen Entwicklungen fragt. Die siebenteilige Reihe ist eine Kooperation des Berliner Kollegs Kalter Krieg und des Portals Militärgeschichte. Sie wurde von Dr. Christoph Nübel (Humboldt-Universität zu Berlin) und Dr. Klaas Voß (Hamburger Institut für Sozialforschung) durchgeführt. Diesmal im Interview: Lic. phil. Sybille Marti (Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Fernuniversität Hagen - Hagen, Deutschland).

Abschnitt I: Zur Herkunft und Entwicklung der Kalte-Kriegs-Forschung

F: "Erleben wir gerade einen neuen Kalten Krieg?" - Diese Frage ist in den letzten Monaten in der Presse häufig gestellt worden. Würden Sie sie bejahen?

A: Ich bin grundsätzlich skeptisch gegen Thesen, die eine simple Wiederholung der Geschichte postulieren. Da halte ich es eher mit Michel Foucault, der die Singularität der Geschichte betonte. Denn selbst bei 'Renaissancen' gilt das Motto: Es bleibt alles anders. Zudem ist der aktuelle politische Konflikt zwischen den USA und Russland - im Gegensatz zum Kalten Krieg - nicht bzw. nicht in erster Linie auf zwei entgegen gesetzte Weltanschauungen zurückzuführen. Die Rede vom "neuen Kalten Krieg" verstellt den Blick darauf, wie sich die geo-, national- und regionalpolitischen Macht- und Konfliktkonstellationen in verschiedenen Teilen der Welt seit dem Zusammenbruch des ehemaligen 'Ostblocks' verändert haben. Für die Schweiz beispielsweise war für den Kalten Krieg kennzeichnend, dass es einen 'Cold War Consensus' gab, der von allen massgeblichen politischen Kräften geteilt wurde. Heute ist die Situation vollkommen anders: Wie in anderen europäischen Ländern findet auch in der Schweiz eine massive politische Polarisierung statt. Nicht vergessen werden sollte darüber hinaus, dass die These eines "neuen Kalten Krieges" ja auch als rhetorisches Instrument fungiert, mit dem eine bestimmte Sicht auf die Weltpolitik konstruiert bzw. perpetuiert wird. Zum Beispiel wird Russland damit eine grosse weltpolitische Bedeutung zugeschrieben. In China ist demgegenüber sehr oft die Rede von den "two major powers" . Damit sind aber nicht Russland und die USA, sondern die USA und China gemeint.

F: Was waren die wichtigsten Trends und Entwicklungen in der Forschung zum Kalten Krieg seit 1990? Welche neuen Bereiche konnten in den letzten 25 Jahren erschlossen werden?

A: Die Geschichte des Kalten Krieges war lange Zeit politikgeschichtlich geprägt. Dies hat sich in den letzten Jahren stark verändert. Die aktuelle Pluralität der geschichtswissenschaftlichen Ansätze und Forschungsperspektiven - die unter der kulturgeschichtlichen Wende subsumiert werden können - widerspiegelt sich auch in der neueren Historiographie zum Kalten Krieg. Interessante neue Erkenntnisse versprechen Forschungen, die die Geschichte des Kalten Krieges aus einer transnationalen Perspektive angehen und etwa Beziehungen über den 'Eisernen Vorhang' hinweg in den Blick nehmen. Dasselbe gilt für Studien, die den Ost- West- und den Nord-Süd-Konflikt miteinander verknüpfen und die Cold War Studies so auch postkolonial erweitern - und zwar über die Geschichte der 'heissen' Kriege im Kalten Krieg hinaus. Gewissermassen komplementär zum Trend der Transnationalisierung steht die Entwicklung, den Kalten Krieg zu dezentrieren. Jüngst wird die Deutungsmacht des Kalten Krieges zunehmend auch in Staaten, die nicht im Zentrum des Systemkonfliktes standen, untersucht. Die 'neutrale' Schweiz ist hierfür ein gutes Beispiel. Vielversprechend sind auch Untersuchungen, die die Epoche des Kalten Krieges nicht als historischen Container betrachten, sondern Kontinuitäten sowohl zur Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg als auch zu derjenigen nach 1989/91 herstellen. Durch solche Studien hat die Historiographie zum Kalten Krieg in den letzten Jahren an Komplexität und Breite gewonnen.

Abschnitt II: Der Status Quo

F: Wie sehr wird die aktuelle Forschung zum Kalten Krieg von den jüngeren "Turns" in den Geisteswissenschaften beeinflusst? Gibt es eine Kulturalisierung der Cold War Studies? Welche Rolle spielen Begriffe wie "Raum", "Emotionen", "Transnationalismus", "Aushandlungsprozesse" usw.?

A: Die Vielfalt geschichtswissenschaftlicher Ansätze und Methoden macht auch vor der Geschichte des Kalten Krieges nicht Halt. In Zürich wird beispielsweise gerade ein innovatives Forschungsprojekt zur Raum- und Wissensgeschichte des Bunkers durchgeführt. Weitere wissensgeschichtlich ausgerichtete Zürcher Projekte untersuchen etwa die Geschichte der Wettermodifikation oder diejenige der Raumfahrtmedizin. Emotionsgeschichtliche Forschungen wiederum haben gezeigt, wie die öffentliche Artikulation von Gefühlen - etwa Ängsten vor einem Atomkrieg - die politische Kultur von Gesellschaften veränderte. In meinen eigenen Forschungen zur Geschichte der Strahlenforschung und des Strahlenschutzes spielen Aushandlungsprozesse etwa bei der Regulierung von Strahlen eine wichtige Rolle. Solche Perspektiven und Kategorien stammen aus dem weiten Feld der Kulturgeschichte. Von einer Kulturalisierung der Cold War Studies zu sprechen, scheint mir aber einen negativen Beiklang zu haben: Impliziert wird, dass etwas - aber was? - verloren geht. Ich halte die Cultural Cold War Studies für eine Bereicherung.

F: Wo liegen mit Blick auf Akteure und Weltregionen die inhaltlichen Schwerpunkte der aktuellen Forschung?

A: Der Kalte Krieg war ein globaler Konflikt, wiewohl er in vielen Ländern und Regionen weniger als 'heisser', sondern vielmehr als imaginärer Konflikt wirkmächtig war. Ich beobachte - gewissermassen parallel zur Pluralisierung der geschichtswissenschaftlichen Ansätze und Forschungsperspektiven - auch eine Ausweitung der untersuchten Akteure und Regionen. In Bezug auf die Akteure entstehen aktuell vielversprechende Studien zu Neuen Sozialen Bewegungen und Nichtregierungsorganisationen, etwa der International Physicians for the Prevention of Nuclear War (IPPNW), aber auch zu internationalen Organisationen wie der International Atomic Energy Agency (IAEA) und zu transnational agierenden Unternehmen. Was die Regionen betrifft, so rücken einerseits der globale Süden, beispielsweise die postkolonialen Verbindungen zwischen den USA und den Philippinen, und andererseits regionale Verflechtungen, etwa die Beziehungen zwischen den USA und Mittelamerika, vermehrt in den Blick. Daneben gibt es zunehmend Studien zu Ländern wie der Schweiz, Österreich oder den skandinavischen Staaten, die nicht direkt in die geopolitischen Krisen und Konflikte des Kalten Krieges involviert waren, deren Gesellschaften vom Systemkonflikt aber dennoch stark geprägt wurden.

F: Wo stehen aus Ihrer Sicht die Schweizer Universitäten und Institute mit Blick auf die internationale Forschung zum Kalten Krieg? Gibt es Unterschiede oder Nachholbedarf?

A: Die Epoche des Kalten Krieges stellte für die schweizerische Geschichtswissenschaft bis vor kurzem ein Forschungsdesiderat dar. Dies hatte mindestens zwei Gründe: Zum einen stand im Zuge der Raubgold-Debatte und der Diskussion um die nachrichtenlosen Vermögen in den Neunzigerjahren zunächst die Erforschung der Geschichte der Schweiz während des Zweiten Weltkrieges im Vordergrund. Zum anderen waren die Quellenbestände zum Kalten Krieg aufgrund der gesetzlichen Archivsperrfristen bis vor kurzem grösstenteils noch gar nicht zugänglich. Diese Sachlage hat sich in jüngster Zeit verändert: Im Einklang mit der internationalen historischen Forschung wendet sich nun auch die schweizerische Geschichtsforschung zunehmend der Epoche des Kalten Krieges zu, und in den Archiven sind nun Quellen bis in die Achtzigerjahre hinein einsehbar. So entstanden in den letzten Jahren verschiedene Dissertations- und Habilitationsprojekte. Es handelt sich bei diesen aber überwiegend um Einzel- oder kleinere Forschungsprojekte. Ein grösseres, vom Schweizerischen Nationalfonds finanziertes, an den Universitäten Zürich und Fribourg angesiedeltes Forschungsprojekt untersucht "The Cold War as Political Imagination". Zudem hat sich am "Zentrum Geschichte des Wissens" der ETH und der Universität Zürich kürzlich ein "Netzwerk Wissen und Kalter Krieg" gebildet, das sich intensiv mit der Wissensgeschichte des Kalten Krieges beschäftigt. Als erstes Produkt unserer Gruppe soll im nächsten Jahr in der Reihe "Nach Feierabend. Zürcher Jahrbuch für Wissensgeschichte" ein Band zur "Kälte des Kalten Krieges" erscheinen. In Zürich entsteht also ein Diskussions- und Forschungszusammenhang, in dem die Cold War Studies aus einer wissensgeschichtlichen Perspektive erweitert werden.

Abschnitt III: Zukunftsperspektiven

F: Besteht im Kontext der jüngeren Forschungsentwicklung die Gefahr, dass der Kalte Krieg zunehmend zum "Catch-All-Term" wird, also als attraktives Label für alles benutzt wird, was zeithistorisch als relevant und interessant gilt?

A: Es führt nicht weiter, wenn einfach alles, was zwischen 1947/48 und 1989/91 passiert ist, in einen Zusammenhang mit dem Kalten Krieg gestellt wird. Für mich ist es in erster Linie eine empirische Frage, welche historischen Entwicklungen mit dem Kalten Krieg als Systemkonflikt zu tun hatten und welche nicht. Holger Nehring hat in einem Review-Artikel mit dem Titel "What was the Cold War?" jüngst einige Anregungen gegeben, in welche Richtung eine Beantwortung dieser Frage gehen könnte. Zentral dabei ist der "war-like character" des Kalten Krieges, der auch für den imaginären Kalten Krieg prägend wirkte. Zum einen kann unter diesem Blickwinkel John Lewis Gaddis' einflussreiche These eines "langen Friedens" nochmals grundsätzlich kritisiert werden. Zum anderen lässt sich zeigen, wie massiv der Kalte Krieg etwa auch in Ländern wie der Schweiz, die scheinbar am Rande des Systemkonflikts standen, Ressourcen mobilisiert, Macht zementiert, gesellschaftliche Konfliktlinien gezogen und Lebensläufe geprägt hat.

F: Falls es eine "Kulturalisierung" der Cold War Studies gibt: Ist diese mit einem Verkümmern der klassischen Politik-, Diplomatie- und Militärgeschichte des Kalten Krieges verbunden? In welchen (neuen?) Formen ließen sich diese Forschungsfelder in Zukunft revitalisieren? Oder denken Sie, dass wesentliche Neuimpulse vor allem von einem Forschungsfeld ausgehen werden, dass sich als "Cultural Cold War Studies" versteht?

A: Ich halte nicht viel von methodologischer Dogmatik oder Schwanengesängen. Vielmehr begrüsse ich eine Pluralität von Forschungsansätzen. Theorien und Methoden sind als Angebote zu verstehen, die Fragestellungen anleiten und den Blick auf Quellen schärfen. Meine eigenen Forschungen zur Geschichte der Strahlenforschung und des Strahlenschutzes in der Schweiz sind zwar kultur- und wissensgeschichtlich orientiert. Viele Akteure, die in meiner Arbeit wichtige Protagonisten bilden, sind aber Teil der Bundesverwaltung, wobei gerade militärischen Stellen eine grosse Bedeutung zukommt. Mir wurde erst im Verlaufe der Arbeit bewusst, dass ich auch Politik- und Militärgeschichte betreibe, wenngleich dies nicht der Ausgangspunkt meiner Forschungen war. Was ich für überholt halte, sind Untersuchungen, die ausschliesslich auf einige wenige mächtige weisse Männer fokussieren. Eine kultur- bzw. gesellschaftsgeschichtlich informierte Politik-, Diplomatie- und Militärgeschichte ist hingegen keineswegs obsolet. Zudem führt das Auftauchen neuer Ansätze nicht automatisch dazu, dass ältere Ansätze verschwinden. Die Wirtschaftsgeschichte und neue Formen der Sozialgeschichte - so etwa die Geschichte der Arbeit - haben in jüngster Zeit beispielsweise wieder ganz neue Impulse erfahren.

F: Das jüngst aus der Taufe gehobene Berliner Kolleg Kalter Krieg betont in seiner Forschungsagenda die Durchlässigkeit des Eisernen Vorhangs und die Grenzen der Wirkungsmacht des Kalten Krieges. Laufen Historiker hier nicht auch Gefahr, ihren eigenen Forschungsgegenstand zu demontieren?

A: Es gehört zum Kerngeschäft der Historikerin und des Historikers, die eigenen Kategorien und Erklärungsansätze kritisch zu hinterfragen. Insofern sind wir nicht nur 'Spielverderber' für andere, sondern auch für uns selber. Die Geschichtswissenschaft ist ein empirisches Fach, und es ist eine empirische Frage, wo sich der 'Eiserne Vorhang' tatsächlich als durchlässig erwies und in welchen Bereichen die Trennlinien des Kalten Krieges scharf konturiert waren. Dasselbe gilt für die Frage nach der Wirkungsmacht des Kalten Krieges. Forscht man zum Kalten Krieg, so stösst man immer wieder auf Entwicklungen und Zusammenhänge, die nur wenig mit dem Systemkonflikt zu tun hatten. Hier ist es wichtig, eine Offenheit zu bewahren. Aus der vermeintlichen 'Demontage' eines Forschungsgegenstandes können so wieder neue Fragestellungen entstehen.

F: Welche neuen Impulse für die Geschichtswissenschaft, aber auch für andere Disziplinen, könnte in den nächsten Jahren von den Cold War Studies ausgehen? In welche Richtung werden sich die Cold War Studies entwickeln?

A: Neue Impulse für die Geschichtswissenschaft erhoffe ich mir unter anderem von den Cultural Cold War Studies. Die Kulturgeschichte handelte sich bisweilen nicht ganz unverschuldet den Ruf ein, den Zugang zu politisch und gesellschaftlich relevanten Fragen verloren zu haben. Gerade die Cultural Cold War Studies bieten hier eine Chance, weil sie zeigen, wie sich Kultur- und Wissensgeschichte mit Politik- und Militärgeschichte verbinden lassen. Der Fokus innerhalb der Cold War Studies wird sich von den Fünfziger- und Sechziger- noch mehr auf die Siebziger- und Achtzigerjahre verlagern. Nimmt man hier etwa - wie jüngst Philipp Ther - die Verknüpfung von Neoliberalismus und Kaltem Krieg in den Blick, stellen sich auch neue Periodisierungsfragen, die die traditionellen Epochengrenzen des Kalten Krieges neu konfigurieren. An einer internationalen Konferenz, die 2015 unter dem Titel "The Good Years" auf dem Monte Verità stattfand, wurde etwa diskutiert, ob es nicht sinnvoll wäre, die Jahre 1979 bis 2008 als Epoche zu fassen. Auch die transnationale und postkoloniale Erweiterung der Cold War Studies wird sich noch verstärken. Insgesamt denke ich, dass die Ausweitung und Ausdifferenzierung der Cold War Studies noch einige Zeit andauern wird. In einigen Jahren werden dann Syntheseleistungen gefragt sein, die die neuen Forschungsergebnisse der Einzel- und Fallstudien zusammenfassend präsentieren und kommentieren.

Das Interview führte Dr. Christoph Nübel.

Im letzten Teil der Reihe am 15. August 2016: Dr. Frank Reichherzer (Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr, Potsdam, Deutschland)