„Connétable“, „Roi-Connétable“, „Connétable de l’ère nucléaire“
Ulrich Lappenküper
Aufsatz
Veröffentlicht am: 
28. Februar 2022
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DOI: 
https://doi.org/10.15500/akm.28.02.2022

In der Geschichte des 20. Jahrhunderts ist der Kreis der Personen, die Politik und Militär in sich vereinten, bemerkenswert groß. Doch kaum jemand hat als Soldat, Politiker und Schriftsteller so intensiv über das Verhältnis von Politik und Militär im Kontext der Militärgeschichte, der nationalen Verteidigung oder der Taktik und Strategie militärischer Aktionen nachgedacht wie General Charles de Gaulle. Und kaum jemand hat dieses Denken in seinen diversen Funktionen so umzusetzen vermocht wie er. Obwohl de Gaulles Überlegungen in seinen zahlreichen Werken breit dokumentiert sind,1 hat sich die Geschichtswissenschaft bisher nur selten systematisch mit ihnen auseinandergesetzt.2 Der folgende Aufsatz möchte einen kleinen Beitrag dazu leisten, diesem Desiderat der Forschung abzuhelfen, und stellt dazu drei Fragen in den Mittelpunkt der Betrachtung. Wie sah der Schriftsteller de Gaulle das Verhältnis von Politik und Militär? Wie gestaltete der Militär und Staatsmann ihre Beziehungen im Kriegsfall und in Friedenszeiten? Und welche Veränderungen lassen sich im militärisch-politischen Denken und Handeln de Gaulles im Laufe seines langen Lebens feststellen?

I.
1890 als Sohn eines Pädagogen in Lille geboren, befasste sich de Gaulle bereits als Schüler des Pariser Jesuitenkollegs mit militärischen Fragen. 1905 legte der 15-Jährige eine umfangreiche Arbeit über eine fiktive „Campagne d‘Allemagne“ vor, in der ein General de Gaulle die Umklammerung seiner Armee durch deutsche Truppen verhinderte und so das Vaterland rettete.3 Wenn der ebenso geschichtsinteressierte wie geschichtsbewusste junge Mann die Armee schon damals als „une des plus grandes choses du monde“ begriff,4 hing dies wohl auch damit zusammen, dass die französische Nation seines Erachtens in grauer Vorzeit durch die bewaffnete Macht geschaffen worden war.

Nach dem Abitur schlug de Gaulle 1909 ganz selbstverständlich die Offizierslaufbahn ein und erhielt von seinen Kameraden schon bald den Titel des „Connétable“ – ein militärischer Rang, den der höchste Offizier des Königs im alten Frankreich getragen hatte.5 Tatsächlich erklomm de Gaulle die militärische Karriereleiter innerhalb von 31 Jahren bis zum Brigadegeneral, von denen er notabene nur 16 Jahre bei der Truppe im In- und Ausland diente. Mit seinem militärischen Rang zufrieden geben mochte sich der „Intellektuelle in Uniform“6 jedoch offenbar nicht. Spätestens seit Beginn des Zweiten Weltkriegs wollte de Gaulle – um im Bild zu bleiben – „Connétable“ und „König“ gleichzeitig sein.

Der Aufstieg entwickelte sich höchst mühsam, auch deshalb, weil er mit seinen nonkonformistischen Überzeugungen immer wieder aneckte. Dass der Oberleutnant den Krieg 1913 als „une loi de la nature“ definierte und den Chauvinismus als „cent fois, mille fois“ besser fand, „qu’un patriotisme qui raisonne trop souvent“,7 dürfte in militärischen Kreisen noch auf Zustimmung gestoßen sein. Dass er trotz der „horreurs“ und „sacrifices“ des Ersten Weltkriegs8 das eigene Volk 1917 dazu aufrief, sich schon jetzt auf den nächsten Waffengang vorzubereiten, „pour assurer l’existence et la grandeur de la Patrie“,9 und sich Anfang der 1920er-Jahre als Direktor des Ausbildungszentrums der polnischen Armee in Warschau, als Ausbilder an der Offiziersschule Saint-Cyr oder Auszubildender an der Ecole supérieure de guerre intensiv mit der Organisation der Kriegsführung in einer parlamentarischen Demokratie auseinandersetzte, fand bei seinen Vorgesetzten weniger Gefallen.

Ganz erheblich erschweren sollte sich de Gaulle seine Stellung 1924 durch sein erstes Buch, „La discorde chez l’ennemi“.10 Denn die Veröffentlichung verstieß nicht nur gegen den Korpsgeist der Militärs, die nichts davon hielten, militärische Probleme vor einem zivilen Publikum auszubreiten. Das zu Beginn proklamierte Credo, im Krieg gebe es kein universales System, nur Umstände und Persönlichkeiten, stellte auch einen „Affront gegen den Mainstream des Generalstabs und der Akademieführung“ dar.11 Dass de Gaulle seine Kritik ein Jahr darauf publizistisch zu einem Frontalangriff auf die defensive Militärdoktrin des Generalstabs steigerte, fügte seinem Ansehen weiteren Schaden zu. Wenn seine Karriere gleichwohl nicht in einer Sackgasse endete, verdankte er das seinem Mentor Philippe Pétain, dem Vizepräsidenten des Obersten Kriegsrates, der Hauptmann de Gaulle nach vorübergehender Kaltstellung beim Stab der Besatzungsarmee im Rheinland 1925 für zwei Jahre zum Instrukteur an der Kriegsakademie berief.

Wie die überlieferten Texte seiner Kurse12 und insbesondere sein 1932 publiziertes zweites Buch, „Le Fil de l’épée“,13 verdeutlichen, hatten sich in de Gaulles Überlegungen zu Politik und Militär mannigfache Maximen herausgebildet:

- die fundamentale Bedeutung militärischer Angelegenheiten im Allgemeinen sowie des Handelns von Staatsmännern und Militärs im Besonderen für die Geschichte,
- die durch geografische, politische, aber auch mentale Faktoren gegebene Verwundbarkeit Frankreichs,
- die aus der Verwundbarkeit geborene Notwendigkeit zur „préparation à la guerre“ als zentrale Aufgabe in Friedenszeiten,14
- die aus seiner intellektuellen Kriegsfixiertheit abgeleiteten Auffassungen über das Verhältnis von Politik und Militär,
- das Credo vom Primat der Politik.

Soldaten wie Politiker waren für de Gaulle „les meilleurs serviteurs de l‘Etat“.15 Ging es für den einen um den Gewinn und den Erhalt der Macht, zeichnete der andere für den Schutz der Nation verantwortlich. Zwischen beiden Sphären bestanden ein „défaut de sympathie réciproque“16 und zahlreiche Gegensätze, die in der Tatsache kulminierten, dass die „action guerrière, dans sa simplicité terrible, contraste avec les détours propres à l‘art de gouverner“.17 Desungeachtet waren beide Akteure de Gaulle zufolge aufgrund der stets gegebenen äußeren Bedrohung dazu verpflichtet zusammenzuarbeiten. Denn während der Krieg für den Soldaten geradezu die „raison d’être“ darstellte,18 konnte sich auch der Politiker dieses Themas nicht entziehen, „car l’histoire d’une guerre commence en temps de paix“.19 Nur die Regierung war vor und während einer militärischen Auseinandersetzung imstande, für die erforderlichen politischen, ökonomischen, diplomatischen und finanziellen Rahmenbedingungen zu sorgen; nur das Militär war befähigt, den Waffengang zu planen und auszuführen.20 Letztlich bestimmte ihr Verhältnis in den Augen de Gaulles „deux règles d’or“:21 „La conduite de la guerre appartient à l’homme d’Etat, les opérations sont le fait du militaire“.22 Beide Normen waren allerdings einer Grundregel unterworfen, dem Primat der Politik, der sich auch auf die Festlegung der Strategie in Kriegs- und Friedenszeiten erstreckte.23

Als Idealzustand empfand es de Gaulle, wenn die politische und die militärische Führung in einer Person vereint waren wie seinerzeit bei den „hommes d’exception“ Alexander dem Großen, Friedrich dem Großen oder Napoleon.24 Der Normalzustand sah freilich eine Teilung von Politik und Militär vor, wie sie seines Erachtens in geradezu vorbildlicher Weise Otto von Bismarck und Helmuth von Moltke während der sog. Einigungskriege vorgenommen hatten. „Dans le cadre politique qu‘a tracé Bismarck, c‘est Moltke seul qui est chargé de toute la tâche militaire. [...] Le ministre se gard d‘empiéter. Inversement, Moltke respecte avec scrupule le domaine qui n‘est pas le sein.“25

II.
Seit der Machtübernahme der Nationalsozialisten intensivierte der 1933 zum Oberstleutnant beförderte Abteilungsleiter des Generalsekretariats im Conseil supérieure de la Défense seine Anstrengungen, die Dritte Republik vor den zunehmenden inneren wie äußeren Gefahren zu warnen. De Gaulle sorgte sich nicht nur um die nationale Unabhängigkeit, sondern, wie er schon 1932 in einem internen Papier hatte anklingen lassen, auch um die französische Weltgeltung, um Frankreichs Größe. Ganz in der Tradition des militärstrategischen französischen Denkens seit dem 18. Jahrhundert forderte er den Schutz des Territoriums durch Ausdehnung der Souveränität zum Rhein, überdies die Ausweitung des Kolonialbesitzes und schließlich ein Programm gezielter Gegenmachtbildung, wobei ihm ein Gleichgewichtssystem mit Frankreich, Großbritannien, Deutschland und den USA vorschwebte. Zu diesen klassischen Zielen französischer Machtpolitik kamen bei ihm ein wirtschaftliches und ein kulturelles Programm durch die Förderung der eigenen Sprache hinzu.26 Das bedeutendste Instrument zur Bewahrung der Größe war für de Gaulle freilich, wie er im 1934 veröffentlichten Buch „Vers l’armée de métier“ darlegte, die Streitmacht als „l’axe du monde“.27

Da Frankreich aufgrund seiner „figure physique et morale“ um seiner Existenz willen aufrüsten musste,28 propagierte de Gaulle den Aufbau einer 100.000 Mann starken Berufsarmee und wandte sich dazu – wie ein Politiker – sowohl an die staatlichen Instanzen wie auch an die Presse.29 Indem sich der Offizier überdies für die Ernennung eines „maître“ aussprach, der als Staatsmann und Militär die Führung des Landes in seinen Händen vereinen sollte,30 warf mancher Kritiker ihm einen Anspruch auf die Macht im Staat vor. Doch dies hatte de Gaulle offenbar (noch) nicht im Sinn.31

III.
Nach dem Ausbruch des Zweiten Krieges 1939 forcierte er als Kommandeur mehrerer Panzerbataillone den Ruf nach neuen Panzerdivisionen und griff im Januar 1940 mit einem Regierungsmitgliedern und Abgeordneten zugeleiteten Memorandum offen in die Politik ein.32 Vom neuen Regierungschef und Kriegsminister Paul Reynaud Anfang Juni zum Unterstaatssekretär für Verteidigung ernannt, regte der zum Brigadegeneral beförderte „de-facto-Kriegsminister“33 die Einrichtung eines „Ministère de la Conduite de la Guerre“ an34 und ließ sich dabei von dem seit Jahren gehegten Gedanken leiten, dass es im Krieg der Harmonisierung politischer und militärischer Aktionen bedürfe.35

Die militärische Katastrophe Frankreichs und die Machtübernahme seines früheren Mentors Philippe Pétain zwangen de Gaulle bald darauf ins Exil. Von London aus nahm er als selbsternannter „Chef des Freien Frankreichs“ den Kampf zur Rettung Frankreichs auf. Nachdem ihm die britische Regierung das Oberkommando über die französische Streitmacht und die Bildung einer zivilen Organisation zugestanden hatte, leitete de Gaulle seinem Selbstverständnis nach als „chef du Gouvernement“ und „chef des Armées“ persönlich „toute l’action de guerre française au-dehors et au-dédans“.36 Wie er im Rückblick seiner Kriegsmemoiren darlegte, stand für Frankreich nicht nur die Zurückdrängung des Feindes vom französischen Territorium auf dem Spiel, sondern „son avenir comme nation et comme État.“37 Die Bewahrung der Unabhängigkeit und die Wiederherstellung der Größe flossen für ihn unabdingbar zusammen, denn Frankreich „ne peut être la France sans la grandeur.“38 Im September 1941 errichtete de Gaulle ein Comité national français, das als Exilregierung provisorisch die staatliche Gewalt ausüben sollte. Nachdem er im Juli 1942 das „Freie“ in das „Kämpfende Frankreich“ umbenannt hatte, brachen zwischen ihm und dem von den USA zum zivilen und militärischen Chefkommandeur in Algier ernannten General Henri Giraud heftige Konflikte aus, weil Giraud den Krieg nur aus militärischer Perspektive wahrnahm. Wie ein Spiegelbild des Streits wirkte ihr Schlagabtausch nach Girauds eigenmächtiger Befreiung Korsikas 1943. Auf de Gaulles massive Klagen, vorab nicht über die Militäraktion informiert worden zu sein, erwiderte Giraud, sein Kontrahent argumentiere politisch. De Gaulle gab dies gern zu und beteuerte: „Or, la guerre, c‘est une politique.“39 Mit der Übertragung der vollen Entscheidungsgewalt auf das von ihm zunächst mit zwei Co-Präsidenten geleitete „Comité français de libération nationale“ (CFLN) konnte de Gaulle den Machtkonflikt Ende 1943 für sich entscheiden. Anfang April 1944 bestätigte er den Primat der Politik und sicherte sich neben dem Vorsitz im CFLN auch noch den Posten des „chef des armées“.40

IV.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges sah sich de Gaulle vor die doppelte Aufgabe gestellt, einen „État juste et fort“ aufzubauen und ihn vor innerer wie äußerer Bedrohung zu sichern. Gelingen konnte dies seines Erachtens nur, wenn „le peuple et le guide“ an einem Strang zogen.41 Als „guide“ sah er sich selbstverständlich selbst, denn er wahrte die Souveränität und Würde Frankreichs.42

Obwohl ihm die im Oktober 1945 gebildete Koalition des Tripartisme aus Kommunisten, Volksrepublikanern und Sozialisten das Amt des Regierungschefs übertrug, kam es rasch zu Meinungsverschiedenheiten, die in den Beratungen über die Verfassung der Vierten Republik zum Bruch führte. De Gaulle schwebte eine Art „monarchie“43 mit einem „Chef de l’Etat, placé au dessus des partis“ vor,44 was die Koalition eingedenk der Erfahrungen mit dem Etat français strikt ablehnte. Enttäuscht über die vom ihm so wahrgenommene Rückkehr des Parteienregiments, erklärte de Gaulle am 20. Januar 1946 seinen Rücktritt und zog sich mit Aplomb ins politische Eremitendasein zurück: Am 16. Juni führte er dem Volk mit einer großen Rede unmissverständlich vor Augen, wie er sich die Rolle des Staatschefs in der neuen Republik vorstellte: als alleiniger Inhaber der „pouvoir éxecutif“ und als „garant de l’indépendance nationale et des traités conclus par la France.“45

Ein gutes Jahrzehnt später sollte es ihm tatsächlich gelingen, seine Vorstellungen umzusetzen, und zwar dank einer Armee, die ihm die Mittel dazu lieferte, „d‘encadrer le pays en contraignant les récalcitrants.“46 Als der Algerienkonflikt Frankreich 1958 an den Rand eines Bürgerkriegs führte, waren es die Streitkräfte in Algier, die mit ihrem Ruf nach de Gaulle seiner Rückkehr zur Macht den Weg ebneten. Von der Nationalversammlung in Paris mit außerordentlichen Vollmachten für die Ausarbeitung einer neuen Verfassung ausgestattet, machte sich der Ministerpräsident Anfang Juni an die Arbeit, seine „certaine idée de la France“47 umzusetzen: die Idee eines ewigen Frankreich, dem durch seinen Rang48 und seine Größe eine besondere Stellung in der Welt zukam. Die für ihn unteilbare „grandeur“ der Republik49 identifizierte er mit deren Macht,50 namentlich mit der militärischen Macht, die er in den Dienst eines Ideals und der globalen Verantwortung Frankreichs stellte.51

Mit der am 4. Oktober 1958 verkündeten Verfassung der Fünften Republik setzte de Gaulle seine Vorstellungen weitgehend um. Sie kreierte ein Herrschaftssystem, in dem die Exekutive auf allen Ebenen an Macht gewann und die zivile mit der militärischen Führung des Staates vereint wurde.52 Nach der Wahl zum Präsidenten übernahm de Gaulle Anfang 1959 sowohl das Amt des Staatschefs als auch das des „chef des armées“.53 Dank seiner Persönlichkeit wie durch die von ihm als „domaine réservé“ reklamierte Richtlinienkompetenz für die „affaires concernant l'Algérie, la Défense, les Armées, les Affaires étrangères et la Communauté“54 regierte der General-Präsident, so konstatierte der Bonner Botschafter Herbert Blankenhorn, „wie ein konstitutioneller Monarch“.55 Mit der vom Volk im Oktober 1962 gebilligten Direktwahl gang es de Gaulle, seine Machtstellung als „Roi-Connetable“56 plebiszitär abzusichern. Nun kam es ihm darauf an, Frankreichs Rolle in der Welt neu zu justieren.

V.
Wenngleich die Republik in den Augen de Gaulles zur westlichen Welt gehörte, erhob er für sie von Anbeginn an einen globalen Weltmachtanspruch. Verantwortung in der internationalen Staatengesellschaft zu übernehmen, setzte im Zeitalter der Pax Atomica aber voraus, dass die Westmächte Frankreich ein Mitspracherecht „à la préparation et à l’emploi des armes atomiques stratégiques“ einräumten.57 Denn die Atombombe war für de Gaulle „un fait qui est à la base de tout“.58

Da die Angloamerikaner auf seine Vorschläge nicht eingingen, ordnete der General-Präsident den Aufbau einer nationalen Atomstreitmacht an, die selbstverständlich unter der Verantwortung eines Mannes stehen musste, der die politische und die militärische Macht in sich vereinte – de Gaulle. Nach dem erfolgreichen ersten Atombombentest in der algerischen Wüste im Februar 1960 konkretisierte der „Connétable de l'ère nucléaire“59 den Aufbau der „Force de frappe“ und nahm zugleich ein höchst ambitiöses Programm zur außen- und sicherheitspolitischen Einigung Europas in Angriff. Je unnachgiebiger die USA im Zuge der verteidigungspolitischen Wende von der „massive retaliation“ zur „flexible response“ auf ihre Vormachtrolle in der Atlantischen Allianz beharrten und außerdem die Entspannung zur Sowjetunion suchten, desto stärker pochte de Gaulle auf eine europäische Sicherheitsallianz, deren Fundament eine „union entre la France et l'Allemagne“ sein sollte.60 Da die Verteidigung für ihn stets „la base de la politique“61 darstellte und der amerikanische Schutzschirm löchrig zu werden drohte, musste sich Europa vom „système de mythes“ der NATO verabschieden und seine eigene Verteidigung organisieren, „fondée sur la défense des nations qui la composent, et alliée à l'Amérique“.62

Wenngleich die von Vielen nur „bombinette“, von de Gaulle selbst „bombette“ titulierte „Force de Frappe“63 keines der militärischen Probleme Frankreichs lösen konnte, besaß sie in seiner Unabhängigkeits- und Großmachtpolitik eine eminente politische Funktion: Der Besitz der Bombe fungierte gewissermaßen als Souveränitätsbeweis der Grande Nation und diente ferner als Beitrag zur Wiederherstellung des Weltgleichgewichts.64

Da weder die Bundesrepublik noch die übrigen europäischen Partner de Gaulles Ruf nach einer verteidigungspolitischen Identität Europas folgen mochten,65 erklärte der General-Präsident den NATO-Staaten 1966, „à ne plus participer au système de l’‘intégration‘“;66 außerdem ordnete er für Frankreich die Verteidigungsbereitschaft „tous azimuts“67 an und forderte die antagonistischen Militärblöcke der NATO und des Warschauer Pakts zur Aufhebung der „division du monde en deux camps opposés“ auf.68

Als er im Zuge der Maiunruhen 1968 innenpolitisch in eine höchst prekäre Lage geriet, flüchtete sich de Gaulle zu den französischen Truppen in Baden-Baden und hoffte so, persönlichen Schutz zu gewinnen, aber auch „Konfusion und Unruhe“ im Lande zu schaffen.69 Erst ein Appell des Kommandierenden Generals Jacques Massu an seine „Soldatenehre“ veranlasste den Präsidenten, seine Amtsgeschäfte in Paris wieder aufzunehmen.70 Obwohl zwischen Anspruch und Wirklichkeit eine immer größere Lücke klaffte, hielt de Gaulle bis zu seinem Rücktritt im April 1969 an seiner nuklear grundierten „politique nationale“71 fest. Denn auch in Zeiten der Pax Atomica galt für ihn der alte Leitspruch der Römer: Si vis pacem para bellum.

VI.
Politik und Militär waren für Charles de Gaulle Ebenen mit geteilten Funktions- und Handlungslogiken und zugleich interagierende Sphären, die idealerweise von einer Person verbunden werden sollten – und zwar zur Abwehr äußerer Gefahren wie zur höheren Ehre der französischen „grandeur“. Nie ließ er, ob als militärstrategischer Analytiker oder Militärschriftsteller, Staatspräsident oder „chef des Armées“, einen Zweifel daran zu, dass der Politik der Primat zukam. Gleichwohl neigte auch der Staatsmann de Gaulle dazu, in Uniform aufzutreten, „tout en se présentant d’abord et toujours comme un soldat“.72 Wäre es nach seinem Willen gegangen, hätten denn auch an der Trauerfeier zu seinem Abschied von dieser Welt weder Präsidenten noch Minister teilgenommen. „Seules, les Armées françaises pourront participer officiellement, en tant que telles“, so hatte es de Gaulle 1952 testamentarisch festgelegt.73 Doch da die Republik sich über diesen Willen hinwegsetzte, verneigten sich Ende 1970 nicht nur Soldaten, sondern auch Politiker vor dem großen Kriegsherrn und großen Staatsmann, der wie kaum ein anderer Franzose in schwierigsten Phasen der französischen Geschichte die militärische und die politische Macht in sich vereint hatte.

 

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut durch Christoph Nübel.

 

Zitierempfehlung: Ulrich Lappenküper, Charles de Gaulle als Militär und Staatsmann. „Connétable“, „Roi-Connétable“, „Connétable de l’ère nucléaire“, in: Themenschwerpunkt "Militär und Politik", hg. von Wencke Meteling/Christoph Nübel, Portal Militärgeschichte, 28. Februar 2022, URL: https://portal-militaergeschichte.de/lappenkueper_de_gaulle, DOI: https://doi.org/10.15500/akm.28.02.2022 (Bitte fügen Sie in Klammern das Datum des letzten Aufrufs dieser Seite hinzu).

  • 1. Aus der Fülle der Werke sei vor allem auf die Edition seiner Briefe und Aufzeichnungen verwiesen: Charles de Gaulle, Lettres, Notes et Carnets, 13 Bde. [LNC, I-XIII], Paris 1980-1997; von besonderem quellenmäßigen Wert erwiesen sich außerdem die Documents diplomatiques français 1954-1969, Bd. 1-36 [DDF, 1954-1969]. Hrsg. vom Ministère des Affaires étrangères, Commission de Publication des Documents Diplomatiques Français, Paris 1987-2012.
  • 2. Vgl. grundlegend Pierre Messmer/Alain Larcan, Les écrits militaires de Charles de Gaulle. Essai d’analyse thématique, Paris 1985; s.a. Alain Larcan, Armées et défense nationale. Concepts constants et dominants de la pensée de Charles de Gaulle. In: De Gaulle en son siècle. Actes des Journées internationales tenues à l'UNESCO, Paris, 19-24 novembre 1990. Hrsg. vom Institut Charles de Gaulle, 7 Bde., Paris 1991/92, Bd. 4, S. 19-31. Aus der Reihe der biografischen Studien über de Gaulle wurden folgende Bücher mit Gewinn herangezogen: Jean Lacouture, De Gaulle, 3 Bde., Taschenbuchausgabe, Paris 1986; Wilfried Loth, Charles de Gaulle, Stuttgart 2015; Peter Schunck, Charles de Gaulle. Ein Leben für Frankreichs Größe, Berlin 1998; Johannes Willms, Der General. Charles de Gaulle und sein Jahrhundert, München 2019.
  • 3. Charles de Gaulle, Lettres, Notes et Carnets 1905 – 1918 [LNC, I], Paris 1980, S. 7-23.
  • 4. Charles de Gaulle, Mémoires de guerre. L‘appel 1940-1942 [MG, I], Paris 1954, S. 2.
  • 5. Vgl. Willms, Der General, S. 20.
  • 6. Thomas Niklas, Charles de Gaulle. Held im demokratischen Zeitalter, Göttingen/Zürich, S. 19.
  • 7. Konferenz de Gaulles „Du patriotisme“, 1913. In: ders. LNC, I, 67-78, S. 75 u. 69.
  • 8. Konferenz de Gaulles „De la guerre“, Ende 1916. In: ders., LNC, I, S. 413-459, S. 459.
  • 9. Konferenz de Gaulles „De la direction supérieure de la guerre“, Mitte 1917. In: ders., LNC, I, S. 460-497, S. 497.
  • 10. Charles de Gaulle, La discorde chez l’ennemi, Paris 1924.
  • 11. Loth, Charles de Gaulle, S. 27.
  • 12. Vgl. „Etude“, Januar 1926. In: Charles de Gaulle, Lettres, Notes et Carnets 1919 – Juin 1940 [LNC, II], Paris 1980, S. 261-272.
  • 13. Charles de Gaulle, Le Fil de l’épée [FE], Paris 1932.
  • 14. Ansprache de Gaulles „Qualités du chef“, 1925. In: ders., LNC, II, S. 219-229, S. 220.
  • 15. De Gaulle, FE, S. 167.
  • 16. Ebd., S. 152.
  • 17. Ebd., S. 149f.
  • 18. Ebd., S. 157.
  • 19. Ebd., S. 153.
  • 20. Vgl. Ansprache de Gaulles „De la conduite de la guerre (II)“, 1925. In: ders., LNC, II, S. 234-240, S. 235.
  • 21. Messmer/Lacran, Les écrits, S. 440.
  • 22. De Gaulle, FE, S. 170.
  • 23. Vgl. Messmer/Lacran, Les écrits, S. 377.
  • 24. De Gaulle, FE, S. 170.
  • 25. Ebd., S. 174f.
  • 26. Vgl. Aufzeichnung de Gaulles, 1932. In: Eric Roussel, Charles de Gaulle, Paris 2002, S. 987-992.
  • 27. Charles de Gaulle, Vers l’armée de metier [VAM], Paris 1934, S. 251.
  • 28. De Gaulle, VAM, S. 46.
  • 29. Vgl. de Gaulle, MG, I, S. 12.
  • 30. De Gaulle, VAM, S. 249.
  • 31. Allerdings veröffentlichte de Gaulle 1938 ein weiteres Buch, mit dem er seinen Ruf als Militärexperte zu festigen hoffte: Charles de Gaulle, La France et son armée, Paris 1938. Zu seinen Motiven vgl. seine Antworten auf den Fragebogen des Verlags Plon. In: ders., Lettres, Notes et Carnets Juin 1940 – Juillet 1941 [LNC, III], Paris 1981, S. 424f.
  • 32. Vgl. Memorandum de Gaulles, 26.01.1940, im Auszug in: ders., MG, I, S. 23f.
  • 33. Loth, Charles de Gaulle, S. 51.
  • 34. Vgl. Aufzeichnung de Gaulles, 12.01.1940. In: ders., LNC, III, S. 462-465.
  • 35. Vgl. Konferenz de Gaulles „De la conduite de la guerre“, 1925. In: ders., LNC, II, S. 229-234; „Etude“ dess., Januar 1926. In: ebd., S. 261-272; Aufzeichnung dess., 1933. In: ebd., S. 370-372; Aufzeichnung dess., Juli 1939. In: ders., LNC, III, S. 435-448.
  • 36. De Gaulle an Pompidou, 19.07.1950. In: ders., Lettres, Notes et Carnets Mai 1945 – Juin 1951 [LNC, VI], Paris 1984, S. 434f., S. 435.
  • 37. De Gaulle, Mémoires de guerre. L’unité 1942-1944 [MG, II], Paris 1956, S. 1.
  • 38. De Gaulle, MG, I, S. 1.
  • 39. De Gaulle, MG, II, S. 145.
  • 40. Zur Ordonanz de Gaulles vom 04.04.1944 vgl. Messmer/Lacran, Les écrits, S. 353 u. 448.
  • 41. De Gaulle, MG, II, S. 322.
  • 42. Vgl. Charles de Gaulle, Mémoires de guerre. Le Salut 1944-1946 [MG, III], Paris 1959, S. 88.
  • 43. De Gaulle, MG, III, S. 237.
  • 44. Rede de Gaulles in Bayeux, 16.06.1946. In: ders., MG, III, S. 647-652, S. 651.
  • 45. Ebd., S. 652.
  • 46. Ebd., S. 238.
  • 47. De Gaulle, MG, I, S. 1.
  • 48. Vgl. de Gaulle, MG, III, S. 43-90.
  • 49. De Gaulle, VAM, S. 251.
  • 50. Vgl. Rede de Gaulles in Hassi-Messaud, 17.03.1957. In: ders., Lettres, Notes et Carnets Juin 1951 – Mai 1958 [LNC, VII], Paris 1985, S. 313f., S. 313.
  • 51. Vgl. Dekret de Gaulles, 04.01.1946, zitiert in: Messmer/Lacran, Les écrits, S. 353.
  • 52. Vgl. Art. 15 der Verfassung der Französischen Republik, 3.10.1958. In: Colette Bourdache, Les années cinquantes. La vie politique en France, l‘économie, les relations internationales, l’Union française, Paris 1980, S. 510-524, S. 512.
  • 53. Ordonnanz de Gaulles, 7.1.1959, zitiert in: Messmer/Lacran, Les écrits, S. 353; de Gaulle an Debré, 26.10.1959. In: ders., Lettres, Notes et Carnets Juin 1958 – Décembre 1960 [LNC, VIII], Paris 1958, S. 278f., S. 279.
  • 54. De Gaulle an Premierminister Michel Debré, 08.02.1960. In: ders., LNC, VIII, S. 329.
  • 55. Bundesarchiv Koblenz, Nachlass Herbert Blankenhorn, Bd. 98a, Bl. 135-142, Tagebucheintragung 7.10.1959.
  • 56. Zum Begriff des Roi-Connétable unter Bezugnahme auf Friedrich II. von Preußen vgl. Theodor Schieder, Roi-Connétable. In: ders., Friedrich der Große. Ein Königtum der Widersprüche, Frankfurt am Main/Bern/Wien, S. 341-364.
  • 57. Unterredung zwischen de Gaulle und US-Außenminister Foster Dulles vom 05.07.1958. In: Documents diplomatiques français 1958/II. Hrsg. vom Ministère des Affaires étrangères, Commission de Publication des Documents Diplomatiques Français, Paris 1993, S. 22-30, S. 28. Vgl. grundlegend Frédéric Bozo, Deux stratégies pour l'Europe. De Gaulle, les Etats-Unis et l'Alliance atlantique, 1958–1969, Paris 1996; Ralph Dietl, Emanzipation und Kontrolle. Europa in der westlichen Sicherheitspolitik 1948-1963. Eine Innenansicht des westlichen Bündnisses, Bd. 2: Europa 1958-1963 Ordnungsfaktor oder Akteur?, Stuttgart 2007; Maurice Vaïsse, La grandeur. Politique étrangère du général de Gaulle 1958-1969, Paris 1998.
  • 58. Unterredung zwischen de Gaulle und dem US-Abgeordneten Scranton vom 20.09.1968. In: Documents diplomatiques français, 1968/II. Hrsg. vom Ministère des Affaires étrangères, Commission de Publication des Documents Diplomatiques Français, Paris 2010, S. 462-468, S. 465.
  • 59. Lacouture, De Gaulle, Bd. 3, S. 106.
  • 60. Unterredung zwischen de Gaulle und Adenauer vom 29.07.1960. In: Documents diplomatiques français, 1960/II. Hrsg. vom Ministère des Affaires étrangères, Commission de Publication des Documents Diplomatiques Français, Paris 1996, S. 163-168, S. 166; vgl. ausführlich Ulrich Lappenküper, Die deutsch-französischen Beziehungen 1949-1963. Von der „Erbfeindschaft“ zur „Entente élémentaire“, 2 Bde., München 2001. Notes au sujet de l’Europe de Gaulles, 17.07.1961. In: ders., Lettres, Notes et Carnets Janvier 1961 – Décembre 1963 [LNC, IX], Paris, S. 107f., S. 107.
  • 61. Notes au sujet de l’Europe de Gaulles, 17.07.1961. In: ders., Lettres, Notes et Carnets Janvier 1961 – Décembre 1963 [LNC, IX], Paris, S. 107f., S. 107.
  • 62. Unterredung zwischen de Gaulle und Alphand vom 24.05.1961. In: Hervé Alphand, L'étonnement d'être. Journal (1939-1973), Paris 1977, S. 350-354, S. 351.
  • 63. Zitiert nach: Lacouture, De Gaulle, Bd. 3, S. 484.
  • 64. S. Pressekonferenz de Gaulles im Elysée, 10.11.1959. In: ders., Discours et Messages. Avec le Renouveau (Mai 1958-Juillet 1962) [DM, III], Paris 1970, S. 133-135.
  • 65. Vgl. Martin Koopmann, Das schwierige Bündnis. Die deutsch-französischen Beziehungen und die Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland 1958-1965, Baden-Baden 2000; Ulrich Lappenküper, Die deutsch-französische Sicherheitspartnerschaft zwischen Kommerz, Kontrolle und europäischer Einigung. In: Jörn Leonhard (Hrsg.), Vergleich und Verflechtung. Deutschland und Frankreich im 20. Jahrhundert, Berlin 2015, S. 79-104; Wilfried Loth (Hrsg.), Crises and Compromises: The European Project 1963–1969, Baden-Baden, Brüssel 2001.
  • 66. De Gaulle an Bundeskanzler Ludwig Erhard, 09.03.1966. In: ders., Lettres, Notes et Carnets Janvier 1964 – Juin 1966 [LNC, X], Paris 1987, S. 263f., S. 264 ; s.a. die Schreiben de Gaulles an Präsident Lyndon B. Johnson, 07.03.1966, und an Premierminister Harold Wilson, 09.03.1966. In: ebd., S. 261f. u. 264f.; Frédéric Bozo, Chronique d'une décision annoncée: le retrait de l'organisation militaire (1965-1967). In: Maurice Vaïsse/Pierre Mélandri/Frédéric Bozo (Hrsg.), La France et l'OTAN 1949-1996, Brüssel 1996, S. 331-358; Helga Haftendorn, Kernwaffen und die Glaubwürdigkeit der Allianz: Die NATO-Krise von 1966/67, Nuclear History Program (NHP), Baden-Baden 1994.
  • 67. Unterredung zwischen de Gaulle und Peyrefitte vom 09.05.1962. In: Alain Peyrefitte, C'était de Gaulle. „La France redevient la France“, Paris 1994, S. 288-290, S. 290.
  • 68. Unterredung zwischen de Gaulle und dem türkischen Präsident Sunäy vom 01.11.1968. In: DDF, 1968/II, S. 748-755, S. 750.
  • 69. Äußerung seines Schwiegersohnes Alain de Boissieu gegenüber Pierre Messmer, zitiert nach: Loth, Charles de Gaulle, S. 272.
  • 70. Loth, Charles de Gaulle, S. 274.
  • 71. Unterredung zwischen de Gaulle und Präsident Sunäy der Türkei vom 01.11.1968. In: DDF, 1968/II, S. 748-755, S. 749.
  • 72. Messmer/Larcan, Les écrits, S. 447.
  • 73. Testament de Gaulles, 16.02.1952. In: ders., LNC, VII, S. 58f., S. 59.
Perspektiven: