X. Teil: Krieg in der Ukraine – Zur Schlag- und Symbolkraft des Panzers und den historischen Hintergründen der Debatte über Panzerlieferungen an die Ukraine
Gundula Gahlen
Interview
Veröffentlicht am: 
10. Februar 2023
DOI: 
https://doi.org/10.15500/akm.10.02.2023

Die Ukraine erbat sich schon eine Woche nach Kriegsbeginn Anfang März 2022 Kampfpanzer westlicher Bauart. Lange Zeit wurden von der deutschen Regierung entsprechende Lieferungen ausgeschlossen. Nach wochenlangen politischen und öffentlichen Debatten erfolgte am 25. Januar 2023 die deutsche Zusage zur Lieferung von modernen Leopard-Panzern. Über die Schlag- und Symbolkraft des Panzers und die historischen Hintergründe der politischen und öffentlichen Debatte über Panzerlieferungen an die Ukraine gibt der Potsdamer Historiker Markus Pöhlmann Auskunft, der mit seiner Habilitationsschrift ein Grundlagenwerk zur Geschichte des Panzers in Deutschland bis 1945 vorgelegt hat.1

 

Welche Rolle spielt der Einsatz von Panzern aktuell in der Kriegführung in der Ukraine?

Da muss ich vorausschicken, dass ich selbst kein Fachmann für die heutige Panzerkriegführung bin. Ich lese und lerne seit einem Jahr buchstäblich jeden Tag Neues und kann diese Frage allenfalls aus der Perspektive des Weltkriegshistorikers bewerten. Es ist kein Geheimnis, dass die internationalen Fachleute vom Scheitern des russischen Überfalls im Februar vergangenen Jahres überrascht waren. Die Gliederung der Panzerkräfte im Rahmen der Bataillonskampfgruppen war zwar bekannt. Überrascht war man aber von der schlechten Führung und Performance derselben. Die russische Armee hat in Sachen Panzertechnik und -einsatz sicher viel aus den Konflikten in Tschetschenien, Georgien und Syrien gelernt. Das waren aber Lehren, die in der Ukraine ohne Bedeutung blieben. Nach dem Scheitern des Überfalls im Frühjahr 2022 musste die russische Armee so ziemlich alle militärischen Tactics, Techniques, and Procedures neu ausrichten und sie tut das immer noch. Sie muss die personellen und materiellen Verluste auch bei der Panzerwaffe ersetzen. Im Grunde läuft das gegenwärtig auf einen Abnutzungskrieg raus, bei dem natürlich gepanzerte Kräfte eine wichtige Rolle spielen werden.

Und die Ukraine?

In der Ukraine traf die russische Armee auf motivierte, seit Jahren auf diesen Kampf ausgebildete Streitkräfte, teilweise in vorbereiteten Stellungen, die für Panzer schwer zu durchbrechen waren. Die ukrainische Armee verfügte bald über hochmoderne Panzerabwehrlenkwaffen, über Kampfdrohnen und ein aus zahlreichen Quellen gespeistes nachrichtendienstliches Lagebild. Dazu kam, dass die russische Armee für ihre Panzerkräfte kaum Luftnahunterstützung ins Feld führen kann. Die Ukrainer sind findig in der Panzerabwehr, auch in der Handhabung und Instandsetzung des ausländischen Materials. Sie haben aber selbst erhebliche personelle und materielle Verluste erlitten. Dazu zählen auch gepanzerte Fahrzeuge aller Art. Diese sind aber eine unabdingbare Voraussetzung für jede neue Offensive, die den Aggressor aus dem Land vertreiben soll.

Ist das der Krieg, den Sie aus dem Zweiten Weltkrieg kennen?

Jedenfalls nicht der Krieg, von dem uns die populäre Panzerliteratur zur Wehrmacht seit 75 Jahren immer noch erzählt. Kein „Blitzkrieg“ mit operativ angesetzten Panzerkorps, bei dem schneidige Generale mit Staubbrille von vorne führen. Ich habe schon immer darauf hingewiesen, dass es neben dem operativen, offensiven Einsatz der deutschen Panzerwaffe im Angriff zwischen 1939 und 1942 noch eine zweite Phase gab, wo der Krieg für die Panzerwaffe zwischen 1943 und 1945 taktisch und im Rückwärtsgang verlief. Auch das war ein Abnutzungskrieg, bei dem die Panzerwaffe immer stärker an die Infanterie gebunden wurde. Die deutschen Verluste waren nicht mehr zu ersetzen. Improvisation und ein Nebeneinander von militärischer Low- und Hightech prägten den Panzerkampf, gerade auch beim Rückzug der Wehrmacht aus der Ukraine über Rumänien nach Ungarn und schließlich auf das Reichsgebiet. Die Streitkräfte präsentieren sich heute natürlich völlig anders. Was mir aber auffällt, ist, wie sehr die spezifischen Raumbedingungen dieses Kriegsschauplatzes an den Krieg in der Ukraine von 1941–44 erinnern. Das fängt bei der Witterung an und es geht weiter mit der Kanalisierung der Operationen durch die Flussverläufe und durch das bebaute, industriell geprägte Gelände im Donbas. Ich denke, da verspürten die Historikerinnen und Historiker des Zweiten Weltkrieges in den ersten Monaten heftige Déjà-vu-Effekte.

Welche Bedeutung hatte für das anfängliche Zögern Deutschlands und die nachfolgend zunehmenden Waffen- und nun auch Panzerlieferungen die Erinnerung an den Krieg gegen die Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg? Welche Rolle spielte hier ein sich in den letzten elf Monaten zunehmend ausdifferenzierender Blick auf den Kriegsschauplatz Ukraine im Zweiten Weltkrieg?

Das zu klären wird die Aufgabe der Geschichtswissenschaft von morgen sein. Ich tippe aber beim Geschichtsbewusstsein und dessen Einfluss auf die Bewertung der russischen Aggression auf deutliche regionale und auf generationelle Unterschiede. Eines ist aber jetzt schon klar: Niemand hat das seit 75 Jahren in Deutschland mühsam und keinesfalls ausreichend erarbeitete Bewusstsein für den verbrecherischen Charakter des deutschen Krieges in der Sowjetunion derart nachhaltig relativiert wie der russische Präsident seit Februar 2022. Das Gewicht des historischen Arguments nimmt in Deutschland nach meiner Wahrnehmung schnell ab. Das trifft übrigens auch für die Länder zu, die zwischen 1939 und 1945 unter der deutschen Herrschaft gelitten haben. Ich erinnere nur an die baltischen Staaten, Tschechien, die Slowakei, mit Einschränkungen an Polen und natürlich auch an die Ukraine selbst. Das darf uns nicht als historische Entlastung willkommen sein. Es muss uns vielmehr Anlass gegeben, die deutsche Verantwortung mit Blick auf die unterschiedlichen Nationen und Bevölkerungsgruppen im mittelosteuropäischen Raum neu zu verstehen und neu zu kalibrieren. Gleichzeitig müssen wir uns auch in Erinnerung rufen, dass diese abnehmende Wahrnehmung der deutschen Verbrechen für Russland keinesfalls gilt. Dort pflastert die Propaganda die eigene Bevölkerung weiterhin tagtäglich mit dem stalinistischen Narrativ des sowjetischen Verteidigungskrieges gegen die Faschisten zu.

Ein Spezifikum der deutschen Berichterstattung über den Ukraine-Krieg ist, dass seit mehreren Monaten im Zuge der Diskussion um Militärhilfen in der Berichterstattung militärtechnische Beiträge gesendet werden, in denen einzelne Waffen wie in einem Werbefilm der Waffenindustrie vorgestellt werden. Ist das ein Novum im Zuge der „Zeitenwende“?

Das würde ich in Frage stellen wollen. Wenn Sie die Berichterstattung in anderen Ländern mitverfolgen, dann zeigt sich da kein anderes Bild. Außerdem stellt sich die Frage bestenfalls für die bewegten Bilder, weniger schon für die Printformate und gar nicht für den Audiobereich, also Radio oder Podcasts. In den sozialen Medien spielen, soweit ich das überblickte, weniger Werbebilder eine Rolle als vielmehr nutzergeneriertes Bildmaterial vom Krieg in der Ukraine mit teilweise deutlicher kommunikationspolitischer Tendenz bzw. schlicht War Porn. Was die Inhalte der Berichterstattung angeht, so befinden wir uns in einer einzigartigen gesamtgesellschaftlichen Bildungsanstrengung, nämlich einem medialen Crash-Kurs in Sachen Militär, Krieg und Sicherheitspolitik. Das treibt merkwürdige Blüten, aber inzwischen sehe ich auch Licht am Ende des Tunnels.

In der Debatte um deutsche Panzerlieferungen an die Ukraine meldeten sich auch immer wieder gerade aus der Bundeswehr besorgte Stimmen zu Wort, die vor einer Schwächung der Bundeswehr durch Panzerlieferungen angesichts begrenzter eigener Bestände warnten. Wie entwickelten sich die Bestände der Panzerwaffe in der Bundeswehr von 1955 bis heute und welchen Einschnitt stellte das Ende des Kalten Krieges dar?

Auf der Hochzeit des Kalten Krieges, Mitte der 1980er Jahre, verfügte die Bundeswehr über rund 3.000 Kampfpanzer, heute über weniger als 300. Für diese Entwicklung gibt es viele, übrigens auch gute Gründe. Wichtig scheint mir nur: Das bedeutet eine Verringerung dieser speziellen militärischen Fähigkeit um 90 Prozent. Stellen Sie sich einmal ähnlich umfassende Reduzierungen in anderen Bereichen vor – zum Beispiel bei Krankenhausbetten, Werkzeugmaschinen, Kindergartenplätzen oder der Bestuhlung der Opernhäuser. 90 Prozent! Beim Abbau der speziellen militärischen Fähigkeit „Panzer“ gilt, was für das ganze System Streitkräfte gilt: Runtergefahren ist es schnell. Aber es wieder hochzufahren erfordert einen breiten gesellschaftlichen Konsens und Geld, das dann andernorts fehlt; es braucht Personal, das auf dem freien Markt umworben wird; es braucht Material und Infrastruktur und es braucht vor allem viel Zeit. Ich fürchte, dass wir gerade diese Zeit nicht mehr haben.

Auch hier lohnt der Blick in die deutsche Militärgeschichte. Da gab es im 20. Jahrhundert drei entsprechende, in der jeweiligen Zielsetzung aber gänzlich unterschiedliche Rüstungsanläufe: 1900–1914, 1933–1939 und 1955 bis etwa 1960. Zwei dieser drei Hochrüstungsphasen sind nicht gut ausgegangen. Das heißt für mich keinesfalls, dass man es deshalb unterlassen soll. Aber man muss sich im Klaren sein, je höher der Zeitdruck ist, desto schärfer wird die Anstrengung. Das Buch, das ich dieses Jahr mit dem größten Gewinn wiedergelesen habe, war übrigens die „Seltsame Niederlage“ von Marc Bloch. Ein französischer Historiker und Reserveoffizier jüdischen Glaubens analysierte 1940 angesichts der Kapitulation Frankreichs vor der totalitären Aggression die Unfähigkeit der eigenen Gesellschaft, „den Krieg zu denken“. Da können wir sehr bittere Einsichten lesen, die seit letztem Jahr auch für ein deutsches Publikum von ungeheurer Relevanz sind.

Gerade die Panzer-Diskussion erscheint als Kristallisationspunkt, der sich für die deutschen Parteien besonders gut dazu eignet, um die eigene Kriegsposition herauszustellen. Inwieweit hängt dies mit dem Objekt Panzer und dessen spezifischer Symbolkraft zusammen?

Das Besondere am Waffensystem Panzer ist tatsächlich, dass hier neben der kinetischen Wirkung eine starke symbolische Wirkung zu beobachten ist. Das ist so seit dem 15. September 1916, als erstmals britische Tanks vor den deutschen Stellungen an der Somme herankrochen. Das einzelne Fahrzeug wirkt durch die Mischung aus archaischer Gewalt und der Anmutung von Hochtechnologie. Dabei ist die Symbolik extrem wandelbar: Der Panzer war immer schon ein Symbol für die Niederlage oder den Sieg im Krieg, für Rüstung, für Besatzungsherrschaft und für Unterdrückung. Am Ende steht die Waffe für das Militärische an sich – denken Sie nur an die Karikaturen in Tageszeitungen.

Das Problem, das ich als Militärhistoriker in der aktuellen Panzerdebatte sehe, ist, dass hier das einzelne Waffensystem zum Heilsbringer bzw. zur Eskalationsmaschine überhöht wird. Kampfpanzer für sich genommen sind nur ein Haufen teurer Stahl und Elektronik auf Ketten. Wir müssen sie verstehen als Teil eines hochtechnologischen Systems zur Ausübung organisierter Gewalt, welches aus Menschen, Material und Verfahren besteht. Dieses System muss man gegen den Willen des Gegners zum tödlichen Einsatz bringen und man muss es auf Dauer durch aufwändige Versorgungsketten am Laufen halten. Panzer zu liefern ist eine komplexe und nachhaltige Verpflichtung. Das müssen alle verstehen, die dabei mitentscheiden, und auch diejenigen, die nur mitreden.

 

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut durch Jannes Bergmann und Paul Fröhlich.

 

Zitierempfehlung: Gundula Gahlen, Interview mit Dr. habil. Markus Pöhlmann. X. Teil: Krieg in der Ukraine – Zur Schlag- und Symbolkraft des Panzers und den historischen Hintergründen der Debatte über Panzerlieferungen an die Ukraine, in: Themenschwerpunkt „Krieg in der Ukraine. Militär- und gewaltgeschichtliche Hintergründe“, hg. von Jannes Bergmann/Paul Fröhlich/Gundula Gahlen, Portal Militärgeschichte, 10. Februar 2023, URL: https://portal-militaergeschichte.de/gahlen_interview_poehlmann, DOI: https://doi.org/10.15500 /akm.10.02.2023 (Bitte fügen Sie in Klammern das Datum des letzten Aufrufs dieser Seite hinzu).

  • 1. Markus Pöhlmann, Der Panzer und die Mechanisierung des Krieges. Eine deutsche Geschichte 1890 bis 1945, Paderborn 2016 (Zeitalter der Weltkriege 14).
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