Russlands völkerrechtswidrige Besetzung der Krim 2014 führte in der Bundeswehr zu einer Refokussierung auf die Landes- und Bündnisverteidigung (LV/BV). Das von 1992/93 bis zum Abzug aus Afghanistan im Vordergrund stehende Internationale Krisenmanagement rückte hingegen in den Hintergrund. Russlands Überfall auf die Ukraine im Februar 2022 hat auf diese innermilitärische Entwicklung wie ein Katalysator gewirkt und darüber hinaus grundlegende politische und öffentliche Debatten zur Wehrpflicht und anderen Fragen der Daseinsvorsorge in der Bundesrepublik Deutschland angestoßen.
Dieses Umdenken und die daraus folgenden Diskussionen führten in Politik, Gesellschaft und Bundeswehr zu der historisch unterlegten Frage, wie sich Staat und Streitkräfte in einer Allianz idealerweise auf einen Verteidigungskrieg vorbereiten sollen. Spannungs- und Verteidigungsfall, LV/BV, General Defense Plan, Territoriale Verteidigung, Kosten für Sicherheit, Gesamtverteidigung, nukleare Teilhabe und Kritische Infrastruktur: Diese Schlagworte dominieren seither die Fachdebatten und legen Vergleiche mit dem Zeitalter des Kalten Kriegs und der Ost-West-Blockkonfrontation nahe. Wenngleich Deutschland heute – anders als damals – nicht „Frontstaat“ ist, sondern als logistische „Drehscheibe“ fungieren würde, ist die Verteidigung Europas erneut eine gemeinsame Aufgabe der NATO- Staaten und ihrer in Europa stationierten Streitkräfte.
Die großen Linien des Kalten Kriegs hat die historische Forschung klar herausgearbeitet. Unklar hingegen blieb, welchem „erweiterten Sicherheitsbegriff“ (Christopher Daase) und welchem Verständnis von militärischer und ziviler Sicherheitsvorsorge die damaligen staatlichen Akteure folgten. Ebenso ist wenig erforscht, wie diese Sicherheitsvorsorge in den einzelnen Staaten und auch in den supranationalen Zusammenschlüssen konzeptionell angelegt und organisatorisch umgesetzt wurde – was einen Rückschluss auf die Motive der Akteure zulassen könnte.
Historische Untersuchungen zu Sicherheitskonzepten einzelner Staaten sind auch deswegen Desiderate, weil bei der „Suche nach Sicherheit“ (Eckart Conze) die staatliche Sicherheitsvorsorge mit ihren militärischen und zivilen Aspekten wie auch der zivil- militärischen Verschränkung vielfach nicht einbezogen wurde: Bei historiographischen Debatten zum „Sicherheitsbegriff und Sicherheitsverständnis“ von Staaten und Gesellschaften wurden militärische Aspekte vielfach der nicht verteidigungsbezogenen Perspektive nachgeordnet. Konkrete Vorbeugemaßnahmen der nationalen zivilen und militärischen Sicherheit werden dabei in solchen Erörterungen weitgehend nicht analysiert oder (Militär-) Fachzeitschriften überlassen. Die Akteure, die mit der staatlichen Daseinsvorsorge befasst waren, blieben infolge dieser methodisch-theoretischen Vorannahmen ebenso im Dunkeln wie die Mechanismen, die staatliches und militärisches Handeln im Ost-West-Konflikt gewährleisteten.
Vor dem Hintergrund der aktuellen militärpolitischen Entwicklungen nimmt das Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr diese Defizite der historischen Forschung zum Anlass, auf seiner 64. Internationalen Tagung für Militärgeschichte (ITMG) über wesentliche Dimensionen militärischer und ziviler Verteidigungsvorsorge auf staatlicher und zwischenstaatlicher Ebene im Kalten Krieg zu diskutieren. Im Fokus steht die Zeit zwischen dem NATO-Doppelbeschluss 1979 und dem Mauerfall 1989, die zahlreiche Anknüpfungspunkte für laufende Debatten bietet.
Die Leitfragen lauten:
1. Wie haben sich die unterschiedlichen NATO-Streitkräfte in der Bundesrepublik Deutschland auf den Verteidigungsfall („V-Fall“) vorbereitet?
2. Welche Rolle spielten militärische und zivile Vorstellungen, Planungen und Doktrinen für die Verteidigungsplanungen?
3. Welche nationalen wie internationalen Rechtsgrundlagen gab es dafür?
4. Wie sahen Konzeptionen der (zivil-militärischen) Gesamtverteidigung in der Bundesrepublik aus, und wie wurden sie umgesetzt?
5. Welche Akteure waren beteiligt, und wie wurden sie gesamtstaatlich orchestriert?
6. Wie wurde „Gesamtverteidigung“ in der bundesdeutschen Öffentlichkeit, nicht zuletzt in der Friedensbewegung und der Kulturszene, wahrgenommen, diskutiert und in Medien dargestellt?
7. Wie haben die „NATO-Frontstaaten“ Norwegen, Türkei und Griechenland und die „Drehscheibenstaaten“ wie Belgien, Großbritannien oder Frankreich ihre Verteidigungsplanungen organisiert?
8. Welche alternativen Sicherheits- und Verteidigungskonzepte gab es in neutralen Staaten wie Finnland, Österreich und der Schweiz?
9. Wie haben außereuropäische Staaten mit Westbindung (z.B. Israel und Süd-Korea) die europäischen Verteidigungsplanungen wahrgenommen und diese zumindest teilweise adaptiert?
10. Gab es in den Staaten der Warschauer Vertragsorganisation in den 1980er Jahre Konzepte zur Gesamtverteidigung, und welcher Art waren diese?
Organisatorische Hinweise
Bitte richten Sie Ihren Vorschlag für einen Vortrag oder ein Panel bis zum 30. April 2025 an die unten genannte Kontaktadresse. Der Vorschlag sollte ein 1-2-seitiges Abstract in deutscher oder englischer Sprache sowie einen CV mit kurzem Publikationsverzeichnis enthalten.
Die Tagung findet vom 5. bis 7. November 2025 in Dresden statt. Konferenzsprachen sind Deutsch und Englisch. Eine Simultanübersetzung steht nicht zur Verfügung.
Das ZMSBw übernimmt für die Referentinnen und Referenten die Kosten für Fahrt und Unterkunft in Anlehnung an das Bundesreisekostengesetz.
Organisatoren: Dr. Heiner Möllers und Dr. Peter Lieb
Kontaktadresse: ZMSBwITMG@bundeswehr.org