Millionen von Angehörigen der Roten Armee gerieten während des Zweiten Weltkriegs in deutsche Kriegsgefangenschaft. Mehreren Tausend gelang die Flucht in die Schweiz. Sie spielten bei der Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen zwischen der Schweiz und der Sowjetunion eine zentrale Rolle. In der Sowjetunion wiederum waren die (ehemaligen) Kriegsgefangenen mit dem kollektiven Vorwurf des Verrats konfrontiert. Der Workshop diskutierte Kriegsgefangenschaft, schweizerische Internierungspraxis und Fragen der Repatriierung in ihrer Verflechtung. Dabei fanden auch Perspektiven der Kriegsgefangenen bzw. Internierten selbst sowie unterschiedliche Erfahrungen dieser heterogenen Gruppe Berücksichtigung. Der Workshop war eine Kooperationsveranstaltung der Professur für Neueste Allgemeine und Osteuropäische Geschichte der Universität Bern, des Deutschen Historischen Instituts Moskau (DHI Moskau) und der Forschungsstelle Diplomatische Dokumente der Schweiz (Dodis).
Einleitend stellt JULIA RICHERS (Universität Bern) zum Thema „Sowjetische Kriegsgefangene und schweizerische Internierungspraktiken im Zweiten Weltkrieg“ fest, dass eine Begriffserörterung von Kriegsgefangenen und Internierten notwendig sei, da diese in den Quellen und der Forschungsliteratur oft vermischt werden. In Öffentlichkeit und Forschung wird der Begriff „Flüchtling“ mit zivilen Geflüchteten assoziiert, im Workshop wird deshalb von „geflohenen Kriegsgefangenen“ gesprochen. In der Schweiz waren neben den polnischen Internierten, die im Juni 1940 in die Schweiz übertraten und die in der Bevölkerung auf großes Wohlwollen stießen, zwei weitere Gruppen aus Osteuropa zu nennen: Erstens waren dies sowjetische Kriegsgefangene, die aus Kriegsgefangenenlager der Achsenmächte in die Schweiz flohen. Zweitens kamen zivile jüdische Flüchtlinge, deren Aufnahme durch die Schweizer Behörden erschwert wurde, da sie nicht offiziell als politische Flüchtlinge galten und ab 1942 die Schweizer Grenzschließung erfolgte. Die konstruierte sowjetische Homogenität und die damit verbundenen Herausforderungen für die historische Forschung bilden den roten Faden des Workshops.
An die von Richers dargelegten unterschiedlichen behördlichen Zuständigkeiten für die schweizerische Internierung (Eidgenössisches Polizei und Justizdepartement für die zivile Internierung und Generalstab für die internierten Militärpersonen) verweist SACHA ZALA (Dodis/Universität Bern) im Anschluss auf die völkerrechtlichen Grundlagen der schweizerischen Internierungspraxis. Die Neutralität wurde zwar als „magischer Schutzschild“ für die Unversehrtheit des Landes angesehen, dennoch wurden die durch die Haager Abkommen von 1907 verbrieften Pflichten der Neutralen strikt befolgt. Die völkerrechtlich verpflichtende Internierung von über 100.000 Militärpersonen kontrastiert mit der harten und antisemitisch konnotierten behördlichen Politik gegen die Aufnahme jüdischer Flüchtlinge. Trotzdem wurden die internierten ehemaligen Kriegsgefangenen im Gegensatz zur politisierten Diskussion über die jüdischen Flüchtlinge und das Versagen der Schweizer Behörden sowohl in der öffentlichen Wahrnehmung als auch in der historischen Forschung bislang marginalisiert.
Als Abkehr von einer national geprägten Geschichtsschreibung und als Schwenk zur Verflechtungsgeschichte ist die Präsentation von CARMEN SCHEIDE (Universität Bern) mit dem Titel „Deutsche Besatzung der Ukraine. Mobilitätserfahrung und Kulturkontakte“ zu verstehen. Obwohl die historische Aufarbeitung zu den 5,7 Millionen Sowjetbürgern in deutscher Kriegsgefangenschaft erst spät begann, beurteilt Scheide den heutigen Forschungsstand als gut. Frontbriefe von Wehrmachtsangehörigen vermitteln Einblicke in damaligen Wahrnehmungen gegenüber sowjetischen Kriegsgefangenen. Die Aneignung von Fremdbildern der NS-Ideologie, die Wiederholung rassistischer Stereotype und die Betonung der eigenen kulturellen Überlegenheit stehen parallel zum ideologischen Aspekt des deutschen Angriffs auf die Sowjetunion im Juni 1941. Entgrenzte Gewalt, miserable Verpflegung, schlechte Hygiene und fehlende Infrastruktur führten zu hohen Todesraten unter den sowjetischen Kriegsgefangenen, wobei ein Großteil der insgesamt 3,3 Millionen Todesfälle aufgrund der von Scheide beschriebenen Bedingungen in den Kriegsgefangenenlager- und Befehlsstruktur bereits bis Februar 1942 dokumentiert sind. Auf Basis dieser Ausführungen plädiert sie für drei mögliche Forschungsperspektiven im Zusammenhang mit sowjetischen Kriegsgefangenen: Erstens, Regionalstudien zur Beleuchtung unterschiedlicher Behandlungen von nicht-russischen sowjetischen Kriegsgefangenen; zweitens, Arbeiten über die fehlende Erinnerungskultur und die Schicksale von sowjetischen Kriegsgefangenen und Zwangsarbeitern und drittens, die Hypothese des Kriegs als Mobilitätserfahrung.
Thematisch an die Erfahrung überlebender sowjetischer Kriegsgefangener anknüpfend widmet sich ESTHER MEIER (DHI Moskau) in ihrem Referat «Rückkehr und sicherheitsdienstliche Überprüfung. ‘Filtrationsakten’ ehemaliger sowjetischer Kriegsgefangener» dem Umgang der UdSSR mit sowjetischen Kriegsgefangenen. Bei Kriegsende 1945 befanden sich 5 Millionen Sowjetbürger außerhalb der Grenzen der UdSSR. Im Unterschied zum Ersten Weltkrieg war für die Führung der UdSSR eine Rückführung ihrer Staatsbürger nicht verhandelbar, weshalb auf der Konferenz von Jalta deren schnelle und „restlose“ Repatriierung beschlossen worden war. Das DHI Moskau ermittelt personenbezogene Daten zu sowjetischen Kriegsgefangenen mit dem Ziel individuelle Schicksale zu klären und Biografien zu rekonstruieren. Wichtige Quellen sind sogenannte Filtrationsakten, welche sowjetische Verhöre dokumentieren und die individuellen Umstände der Kriegsgefangenschaft ermitteln sollten. Kriegsgefangenschaft an sich wurde in der sowjetischen Propaganda mit Feigheit und Verrat assoziiert, weswegen sich die Ausweglosigkeit der eigenen Situation dementsprechend häufig in den Filtrationsakten findet. Die geläufige Annahme, dass das Filtrationsverfahren mit sowjetischer Lagerhaft endete, konnte laut Meier durch die gesichteten Dokumente nicht bestätigt werden. Eine verlässliche Quantifizierung der unterschiedlichen Wege und verhängten Todesurteile sei jedoch nicht möglich. Auf eine Nachfrage hin führt Meier aus, dass sie eine vollständige Erschließung der Quellen als utopisch erachte. Grundsätzlich seien für das Projekt Archive in allen Ländern von Interesse, in denen sich sowjetische Internierte aufhielten, darunter auch der Schweiz.
THOMAS BÜRGISSER (Dodis) führt in seinem Referat zur Wiederaufnahme der eidgenössisch-sowjetischen Beziehungen aus (siehe dazu die Zusammenstellung in der Datenbank Dodis), wie Kriegsgefangene zum Spielball der Diplomatie wurden. Nach anfänglich positiven Signalen gegenüber der neuen Führung in Moskau verunmöglichte der Schweizer Vorwurf an einer Mitschuld am Landesstreik 1918 und der darauffolgenden Ausweisung der sowjetischen Gesandtschaft eine Normalisierung der Beziehung mit den Bolschewiki. Der Freispruch von Moritz Conradi, dem Mörder des sowjetischen Diplomaten Vaclav Vorovskij im Jahr 1923, führte zum totalen Abbruch der Beziehungen und einem Wirtschaftsboykott der UdSSR gegen die Schweiz. Dass das Verhältnis der zwei Staaten in der Zwischenkriegszeit weiterhin gestört blieb, ist unter anderem auch der Brandrede des Schweizer Außenministers Giuseppe Motta gegen die Aufnahme der Sowjetunion in den Völkerbund geschuldet. Die UdSSR bezeichnete die Schweiz im Gegenzug nach Kriegsausbruch als Kriegsgewinnlerin Der Wandel zur Wiederannäherung setzte erst ein, nachdem der Sieg der Alliierten absehbar war. Als „Verhandlungsmasse“ dienten hierfür die bei Kriegsende rund 10.000 sowjetischen Internierten. Die Ziele der Schweiz waren primär die Repatriierung der sowjetischen Internierten nach Kriegsende und die Wiederaufnahme der offiziellen Beziehungen. Indem der Bundesrat nach anfänglichem Widerstand den Erpressungsversuchen der UdSSR nachgab, wurden zwei ehemalige Internierte gegen ihren Willen und ohne völkerrechtliche Grundlage in die Sowjetunion ausgeliefert. Wie Bürgisser treffend festhält, fielen deren Rechte der Realpolitik zum Opfer. Der Weg zur Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen war nun frei.
Unter Bezugnahme auf die von Bürgisser beschriebene Entwicklung der schweizerisch-sowjetischen Beziehungen und der Haager Konvention von 1907 beschreibt IHOR MARKUS (Universität Bern) die Ankunft der ersten sowjetischen Internierten in der Schweiz im Jahr 1941. Dabei lag der Fokus auf den im Schweizerischen Bundesarchiv gefundenen Quellen zu den ukrainischen geflüchteten Kriegsgefangenen, worunter Peter Bilan der Erste war.
Die Kollaboration sowjetischer Kriegsgefangener mit der Wehrmacht beleuchtet DANIEL BIẞMANN (DHI Moskau) in seinem Referat „‘Legionäre’ aus Zentralasien. Nationalsozialistische Mobilisierung, nationale Frage und sowjetische Reaktion.“ Unter Berücksichtigung der von Carmen Scheide dargelegten Einsatzbefehle der Wehrmacht, der Behandlung sowjetischer Kriegsgefangener und den hohen Todesraten schien eine Kollaboration mit der Besatzungsmacht nicht naheliegend. Trotzdem gab es deutsche Dienststellen, die ein Interesse an der Kooperation mit den sowjetischen Kriegsgefangenen hatten. Deren Mobilisierung und Rekrutierung dienten in der NS-Ideologie auch als Projektionsfläche für Orientalismus und Propaganda. Die Namen der Ostlegionen, wie beispielsweise die „Turkestanische Legion“ implizieren ethnische Homogenität, welche von den deutschen Stellen in der Realität aber kaum berücksichtigt wurden. Ab Ende 1943 wurden die „Legionäre“ aus Zentralasien primär in Westeuropa im Kampf gegen Partisanen eingesetzt, in dessen Kontext es zu einer hohen Anzahl an Überläufern zur alliierten Seite gab. Die von Esther Meier beschriebenen Filtrationsprozesse zielten nach Kriegsende auch darauf ab ehemalige Ostlegionäre zu identifizieren; ihnen drohten mehrjährige Haftstrafen oder die Verbannung. Neben strafrechtlichen Verfahren war der Ausschluss aus der kommunistischen Partei die gravierendste Konsequenz für ehemalige Legionäre, da sie zu einem Verlust der Einbindung in die soziale und politische Gesellschaft und verringerte Ausbildungs- und Berufschancen nach sich zog.
Beinahe gänzlich unbekannt war das Schicksal von zirka 300 aserbaidschanischen Internierten in der Schweiz und deren Einfluss auf die Repatriierungsfrage, welches LELIA ISCHI (Universität Bern/Dodis) aufgearbeitet hat. Im April 1945 passierte diese Gruppe in SS-Uniformen die Schweizer Grenze in Campocologno (Graubünden). Ihre Rückführung in die UdSSR beziehungsweise ihre Heimkehrverweigerung stuft Ischi als innenpolitische, nachkriegswirtschaftliche, migrationspolitische, völkerrechtliche, humanitäre und außenpolitische Herausforderung für die Schweiz ein. Der Bundesrat beschäftigte sich mehrfach mit diesen „Heimkehrverweigerern,“ um die ersehnte Wiederherstellung der Beziehungen zur Sowjetunion nicht zu gefährden. Diese Herausforderung ist im Kontext der von Esther Meiers in ihrer Präsentation dargestellten sowjetischen Forderung einer „restlosen“ Repatriierung und Thomas Bürgissers Beschreibung der schweizerisch-sowjetischen Wiederannäherung gegen Ende des Zweiten Weltkrieges zu sehen. Dass 1948 die Repatriation von über 200 aserbaidschanischen ehemaligen Kriegsgefangenen in die Türkei erfolgte, beurteilt Ischi angesichts der fragilen Beziehungen zwischen der Schweiz und der Sowjetunion als außenpolitisch riskant. Während andere, wissentlich gefährdete, sowjetische Internierte ohne völkerrechtliche Grundlage ausgeliefert wurden, hielten die Schweizer Behörden bei der aserbaidschanischen Gruppe an „humanitären Prinzipien“ fest. Gemäß Ischi zeigt jedoch das Festhalten am Transitprinzip und die Ausschaffung in die Türkei, dass der Umgang mit dieser Gruppe keineswegs als altruistisch, sondern als mit innen- und außenpolitischen Nützlichkeitserwägungen verbunden einzustufen ist.
Den Abschluss des Workshops bildete das Referat von REGINA FRITZ (Universität Bern) mit dem Titel „Sowjetische Häftlinge im KZ Mauthausen. Methodische Herausforderungen in einem Oral History-Projekt.“ Im Rahmen zweier Projekte untersuchte Fritz die heterogene Gruppe von ungefähr 40.000 sowjetischen Häftlingen im KZ Mauthausen. Selbst die Gruppe der sowjetischen Kriegsgefangenen war nicht homogen, sondern bestand aus „Arbeitsrussen,“ „Legionären“ und Kriegsgefangenen, welche nach Mauthausen zur Exekution geschickt wurden. Die dabei notwendige Unterscheidung der inhaftierten Sowjetbürger nach Nationalität wird durch die Quellenlage und die Pauschalisierung als vermeintlich einheitliche sowjetische Kriegsgefangene erschwert. Ein Instrument für das verbesserte Verständnis dieser Heterogenität sind Interviews, welche die Forschungsgruppe mit überlebenden ehemaligen Häftlingen des KZ führte. Oral History ermöglicht den Zugriff auf Informationen über Häftlingshierarchien, Haftgründe, Prägungen, Herkunft und individuelle Faktoren wie den Zeitpunkt der Ankunft, welche einen Mehrwert in Bezug auf obiges Problem bieten und als Ergänzung zur schriftlichen Quellenlage betrachtet werden können.
Verflechtungsgeschichtliche Perspektiven, die Probleme der konstruierten sowjetischen Homogenität und der Aufruf zur Arbeit an case studies mit Blick auf Überlebensstrategien sowjetischer Kriegsgefangener waren die Hauptthemen des Workshops und der Abschlussdiskussion. Die Teilnehmenden haben mit Ihren Forschungsarbeiten Gegenbeispiele zur historiographischen Homogenisierung der sowjetischen Kriegsgefangenen geleistet und sich der Herausforderung einer Präzisierung der sowjetischen Opferzahlen während dem Zweiten Weltkrieg gewidmet.
Tagungsprogramm
9.00–9.20 Julia Richers (Universität Bern) und Sacha Zala (Dodis/Universität Bern) – Sowjetische Kriegsgefangene und schweizerische Internierungspraktiken im Zweiten Weltkrieg
Hintergründe und Einordnung (Moderation: Sacha Zala)
9.20–10.00 Carmen Scheide (Universität Bern) – Deutsche Besatzung der Ukraine. Mobilitätserfahrung und Kulturkontakte
10.00–10.40 Esther Meier (DHI Moskau) – Rückkehr und sicherheitsdienstliche Überprüfung. «Filtrationsakten» ehemaliger sowjetischer Kriegsgefangener
10.40–11.10 Kaffeepause
11.10–11.50 Thomas Bürgisser (Dodis) – Wiederaufnahme der Beziehung Schweiz–Sowjetunion bei Ende des Zweiten Weltkriegs
NS-Nationalitätenpolitik, Kriegsmobilität und die Folgen (Moderation: Carmen Scheide) 13.40–14.20 Ihor Markus (Universität Bern) – Die ersten sowjetischen Flüchtlinge während des Zweiten Weltkriegs in der Schweiz
14.20–15.00 Daniel Bißmann (DHI Moskau) – «Legionäre» aus Zentralasien. Nationalsozialistische Mobilisierung, nationale Frage und sowjetische Reaktion
15.00–15.40 Lelia Ischi (Universität Bern/Dodis) – Die Heimkehrverweigerer. Zur Repatriierungsfrage aserbaidschanischer Internierter in der Schweiz
15.40–16.00 Kaffeepause
Methodische Reflexionen und Forschungsperspektiven (Moderation: Julia Richers) 16–16.40 Regina Fritz (Universität Bern) – Sowjetische Häftlinge im KZ Mauthausen. Methodische Herausforderungen in einem Oral History-Projekt
16.40–18.00 Abschlussdiskussion
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut durch Alexander Reineke und Daniel R. Bonenkamp.
Zitierempfehlung: Philippe Bucher, Workshop Kriegsgefangenschaft und Internierung (Universität Bern, 24.3.2023), in: Portal Militärgeschichte, 12. Februar 2024, DOI: https://doi.org/10.15500/akm.12.02.2024 (Bitte fügen Sie in Klammern das Datum des letzten Aufrufs dieser Seite hinzu).