Das Bundesministerium der Verteidigung in der Geschichte westdeutscher Staatlichkeit (Potsdam, 21./22.03.2024)
Nils Dirk
Tagungsbericht
Veröffentlicht am: 
22. Juli 2024
DOI: 
https://doi.org/10.15500/akm.22.07.2024

Eine umfassende und tiefgehende Analyse des Bundesministeriums der Verteidigung (BMVg) im Rahmen der jüngeren Behördenforschung steht noch aus. Vor diesem Hintergrund fand ein Workshop am ZMSBw statt, um verschiedene Perspektiven und Ansätze aufzugreifen und zu diskutieren. Der Quellenbegriff „Pentabonn“ aus den 1960er Jahren verweist auf die notwendige, internationale Perspektive der Forschung in Hinsicht auf die Untersuchung der behördlichen „Blackbox“ Bundesministerium der Verteidigung. Hinter diesem Vorhang versteckt sich eine Reihe grundlegender Forschungsfragen, welche die Bearbeitung dieses Forschungsdesiderates mit sich bringt. CHRISTOPH NÜBEL und MISCHA BOSE (beide Potsdam) ermöglichten in ihrem Einführungsvortrag einen Überblick: Nicht nur gilt es, Zeitgeschichte, Militärgeschichte und Behördenforschung zusammenzudenken. Auch stehen sich Themenfelder nahezu dichotom gegenüber: Zivile Verwaltung und militärische Führung, demokratische Werte und militärische Rationalität, staatliche Vernunftlogik und Prozesse von Akteuren, (ost-)deutsch-(west-)deutsche Dimensionen sowie personelle Kontinuitäten und Narrative der Distanzierung vom Nationalsozialismus. Als verständnisfördernd für die Forschung zum BMVg kann vor diesem Hintergrund das kulturhistorische Konzept der Staatlichkeit dienen, welches den Staat nicht als gegeben hinnimmt, sondern ihn als widerspruchsvolles Zusammenspiel vieler Akteure begreift. Die wesentlichen Fragen für die erste Sammlung von Forschungsergebnissen zur Geschichte des BMVg lauten also: Wie und durch wen wurde das BMVg aufgebaut? Welche Zäsuren – wenn überhaupt – gab es und welche Absichten verfolgten Politik, Militär sowie gesellschaftliche Akteure? Die vier Abschnitte der Tagung unterteilten sich in „Aufgabengebiete und Arbeitsweisen“, „Personal und Mentalitäten“, „Das BMVg und seine Minister“ sowie „Internationale Perspektiven“ und konnten ein breites Spektrum an einleitend aufgeworfenen Fragestellungen abdecken.

In der ersten Sektion zu „Aufgabengebiete und Arbeitsweisen“ stellte HEINER MÖLLERS (Potsdam) anhand des Fallbeispiels von General Wolfang Altenburg (1928–2023) dar, welchen Stellenwert dem Generalinspekteur (GI) im BMVg zukam. Hierbei wurden Grund zur Ernennung, Rolle und Legitimität als politische Schnittstelle zwischen militärischen und zivilen Abteilungen kritisch hinterfragt: Möllers stellte fest: der GI sei lediglich ein „König ohne Land“, eher ein Mediator zwischen den jeweiligen Inspekteuren der Teilstreitkräfte.

CARSTEN RICHTER (Berlin) gelang es, durch die Untersuchung des Referates für psychologische Kampfführung (PSK) im BMVg auf paternalistische Denkmuster der militärischen Akteure hinzuweisen. Die Annahme, eine "unmündige" Öffentlichkeit könne sich nicht alleine vor der "kommunistischen Propaganda" schützen, führte zu einer Entfremdung zwischen dem PSK, welches als PSV bis ins Jahr 1990 existierte, sowie gesellschaftlichen Akteuren. Dabei habe das PSK die selbst wahrgenommene Rolle eines neutralen Wissensvermittlers innerhalb der Demokratie verlassen; hin zu aktiven Eingriffen in das politische Geschehen.

Zwischen „Civilian Control“ (Dominanz des Zivilen) und „Civil Control” verortete NÜBEL seine Ausführungen zur Organisationskultur des BMVg. Anhand beider Begriffe beschrieb er die zwei Interpretationswege, welche zeitgenössische Mentalitäten veranschaulichen. Mit dem Ansatz der Staatlichkeit könne das BMVg als Repräsentation einer politischen Ordnung gesehen werden; diese sei aber keinesfalls gegeben, sondern werde in unterschiedlichen historischen Kontexten neu ausgehandelt und legitimiert. Dazu sei die Betrachtung von vier Dimensionen immanent wichtig: Internationalität, Legitimität, Gesellschaft und Vergangenheit als Rahmenbedingungen.

GUNNAR TAKE (Stuttgart) widmete sich zu Beginn der zweiten Sektion „Personal und Mentalitäten“ den Personaltransfers zwischen Kanzleramt und BMVg im Wechselspiel zwischen Integration und Exklusion. Hierbei wirkte das Bundeskanzleramt einerseits inklusiv in einem restaurativen Grundkonsens, einer Reformablehnung oder der Etablierung eines Fachkräftemangel-Narratives, von dem NS-Belastete profitieren konnten. In einem „Schneeballsystem“ der Entlastung seien deren Karrieren ermöglicht und gefördert worden. Andererseits sei durch den auf zivile Beamte zurückgehenden Ausschluss vieler Offiziere die Bildung eines Korpsgeistes unter Soldaten im BMVg gezielt verhindert worden.

Eine Untersuchung von Mentalitäten präsentierte PETER LIEB (Potsdam) in der Vorstellung seiner geplanten Arbeit zur Untersuchung der ersten Heeresgenerale der Bundeswehr. Zentrale Fragen seien hierfür die Intensität der NS-Belastung sowie der Einfluss der Kriegserfahrung auf ihr weiteres Handeln. Ein Großteil der späteren Generalität sei zu Kriegsende durch gemeinsame Verwendungen sowie Kriegsgefangenschaft bei den West-Alliierten gut vernetzt sowie durch eine Frontverwendung insgesamt geprägt gewesen. Zudem sei auffällig, dass kaum Widerstandskämpfer einerseits oder überzeugte Nationalsozialisten andererseits Teil dieses Personenkreises gewesen seien. Somit sei eine problemlose Integration in die Innere Führung möglich gewesen.

MISCHA BOSE (Potsdam) formulierte im Rahmen seines Vortrags zur Sektion „Das BMVg und seine Minister“ die Überlappung zwischen Neubeginn und Kontinuität unter Helmut Schmidt (1918 – 2015) als Verteidigungsminister. Dessen Amtszeit sei von Reformprojekten geprägt gewesen, begleitet von gesellschaftlichen, finanz- sowie sicherheitspolitischen krisenhaften Entwicklungen. Im Rahmen von Parteipolitik und persönlichen Netzwerken könne demnach Schmidts Priorität nachgewiesen werden, einen Abzug von US-Truppen aus Deutschland zu verhindern sowie eigene Verteidigungsanstrengungen zu minimieren. Entscheidungen im Rahmen der Wehrstrukturreform seien in ihren Eckpunkten vor seinem Amtseintritt bereits beschlossen gewesen, lediglich die Umsetzung habe in den Händen des Ministers gelegen. Reformen seien demnach vielmehr als Prozesse mit immanenten Eigendynamiken zu verstehen. Ein Minister müsse widersprüchlichen Anforderungen genügen und übernehme dabei eine kommunikative Rolle.

LISA MARIE FREITAG (Potsdam) stellte ihre Untersuchung zu Entscheidungsprozessen im BMVg anhand der „Wehrrechtsnovelle“ unter Verteidigungsminister Manfred Wörner (1934–1994) sowie dessen Rolle dar. Während in den frühen Jahren des BMVg die Reform eher als „Fortschritt“ verstanden worden sei, sei sie in den 1980er Jahren wesentlich negativer besetzt worden. Dennoch sei die „Wehrrechtsnovelle“ als Notwendigkeit zu verstehen, in welcher Wörner zwar führend verantwortlich gewesen sei, jedoch wenig aktives Eingreifen praktiziert habe. Auch hier moderierte der Minister zwischen diversen Einflussfaktoren, um die Reform zum Erfolg zu führen.

KLAUS STORKMANN (Potsdam) verglich im Rahmen der Sektion „Internationale Perspektiven“ die zwei deutschen Verteidigungsministerien, Ministerium für Nationale Verteidigung und das BMVg, auf personeller, struktureller sowie funktionaler Ebene. Hierbei seien diverse Überschneidungen erkennbar, zumeist jedoch von oberflächlicher Natur. So handelte es sich bei dem Ministerium in Straußberg um ein militärisches Kommando nach sowjetischer Struktur, welches weniger Raum für ziviles Personal bot sowie vor allem operative Aufgaben innehatte. Das Ministerium in Bonn hingegen müsse als Fachressort mit integrierten, militärischen Führungsstäben verstanden werden, in welchem nicht nur mehr ziviles Personal auch in höheren Verantwortungsebenen zu finden war – die militärische Führung verfügte über keine operative Führungsverantwortung.

MATTHIAS DISTELKAMP (Berlin) präsentierte den Übergang in Spanien von der Diktatur unter Franco hin zur Demokratie als internationalen Vergleichsfall. Dessen Ziel sei ebenso wie in der Bundesrepublik die institutionelle Unterordnung des Militärs unter einer zivilen Führungsstruktur gewesen. Das Militär war fortan der spanischen Exekutive unterstellt und von einem bundesdeutschen Ansatz beeinflusst, jedoch ohne Integration der Inneren Führung.

In den abschließenden Kommentaren verwies ANETTE WEINKE (Jena) auf die zunehmende Relevanz der Behördenforschung. Zudem beziehe die aktuelle Behördenforschung immer weitere, neue Parameter für eine möglichst ganzheitliche Darstellung mit ein. FRIEDRICH KIESSLING (Bonn) betonte die Wichtigkeit der Demokratieperspektive und erachtete die vier von Nübel aufgebrachten Forschungsdimensionen, nämlich Staatlichkeit als Leitperspektive, die Internationale Verortung des BMVg, das Hinterfragen von Zäsuren sowie die Aufgabe des reinen Bezugs auf den Nationalsozialismus als erkenntnisfördernd. ALARIC SEARLE (Potsdam) stellte abschließend die Grundsatzfrage, ob eine Behördenforschung von einer Behörde von ‚innen heraus‘, wie dem ZMSBw, betrieben werden könne. Dies wurde von sämtlichen Workshop-Teilnehmern als unproblematisch wahrgenommen.

Das seit den 1960er Jahren als „Pentabonn“ bekannte BMVg ist ein attraktiver Forschungsgegenstand, umfassende Forschungen blieben jedoch bislang aus. Nahezu alle im Workshop diskutierten Dimensionen von Staatlichkeit – Aufgaben, Mentalitäten, Strukturen, Internationalität – bleiben damit in Bezug auf das BMVg Forschungsdesiderate. Mit dem Projekt „Staatlichkeit und Streitkräfte“ am ZMSBw soll daher der Versuch unternommen werden, anhand des Vehikels BMVg neue Perspektiven auf die bundesdeutsche Geschichte zu ermöglichen.

 

Konferenzübersicht

Sven Lange (Potsdam): Begrüßung
Mischa Bose, Christoph Nübel (Potsdam): Einführung in den Workshop

Sektion I: Aufgabengebiete und Arbeitsweisen
Heiner Möllers (Potsdam): Ministerielle Arbeit des Generalinspekteurs: Das Beispiel Wolfgang Altenburg
Carsten Richter (Berlin): Der geheime Staat. Organisation und Praktiken der Psychologischen Kampfführung im BMVg
Christoph Nübel (Potsdam): „Civilian Control”. Machtkämpfe zwischen zivilen und militärischen Abteilungen im BMVg

Sektion II: Personal und Mentalitäten
Gunnar Take (Stuttgart): Personaltransfers zwischen Kanzleramt und BMVg in der Ära Adenauer
Peter Lieb (Berlin): Generale im BMVg: Erfahrungen zwischen Diktatur und Demokratie

Sektion III: Das BMVg und seine Minister
Mischa Bose (Potsdam): Neubeginn oder Kontinuität? Helmut Schmidt als Reformminister
Lisa Marie Freitag (Potsdam): Das BMVg in der Zeit Wörners

Sektion IV: Internationale Perspektiven
Klaus Storkmann (Potsdam): Die deutschen Verteidigungsministerien im Vergleich
Matthias Distelkamp (Berlin): Von der personalisierten zur institutionalisierten Befehlsgewalt – Das spanische Verteidigungsministerium während der Demokratisierung nach der Franco-Diktatur

Abschlussdiskussion
Friedrich Kießling (Bonn): Kommentar
Annette Weinke (Jena): Kommentar
Alaric Searle (Potsdam): Abschlusskommentar

 

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut durch Daniel R. Bonenkamp.