Die Kriege in Afghanistan und im Irak entwickelten sich zeitgleich zu einer neuen, interaktiven Form der Internetnutzung, genannt „Web 2.0“. Soldaten der US-Streitkräfte wie auch der Koalitionen machten sehr schnell von diesen technischen Möglichkeiten Gebrauch und nutzten im Einsatzgebiet unterschiedliche neue Geräte und Software, sowohl für militärische Aufgaben als auch für den privaten Gebrauch. Sie haben vor Ort Zugang u.a. zu Internetangeboten und Videotelefonie, wobei die einzelnen Kontingente den Zugang und die private Internetnutzung für ihre Soldaten individuell mit nationalen Richtlinien regeln. Viele Soldaten dokumentieren ihren Kriegseinsatz mit Digitalkameras und Einträgen in sozialen Medien, auf Blogs (Milblogs) und in Emails. Diese Nutzung technischer Möglichkeiten revolutionierte Traditionen der Kriegskommunikation und -erzählung. Soldaten sind nicht länger auf Briefverkehr für den Kontakt mit ihren Angehörigen angewiesen; sie tauschen ihre Erfahrungen, Gedanken, aber auch Trivia mit Familien und Freunden wie auch mit völlig Fremden weltweit aus. Ihre Nutzung von Web 2.0 stellt ein Amalgam von traditioneller Frontberichterstattung, Memoiren, Feldpostbriefen und Kriegstagebüchern dar, in dem private und öffentliche Diskussion oftmals fließend ineinander übergehen.
Soldatische Onlinekommunikation aus dem Einsatzgebiet bietet individuelle, subjektive, und meist von unteren und mittleren Diensträngen geschriebene Perspektiven auf die jüngsten Konflikte. Ihre Interaktion mit Lesern, seien es die Familie, Freunde oder interessierte Fremde, zeigt wie die amerikanische Gesellschaft als Ganzes ihre Kriege erlebt, debattiert, und versucht, diese Kriegserlebnisse zu verarbeiten. Dieser Diskurs verwebt Prozesse und Praktiken, die sowohl in der Psychologie als auch der Kulturanthropologie und den Sozial- und Geisteswissenschaften als Kernelemente von Persönlichkeitsentwicklung, Gemeinschaftsbildung und von Heilprozessen verstanden werden.
Die Studie untersucht diese Elemente, um auszuloten, wie US-amerikanische Milblogs und soldatische Aktivität im Web 2.0 zur Moral der Truppe im Einsatz und zum Gemeinschaftsgefühl innerhalb der Gesellschaft beitragen, und wie sie sowohl Soldaten als auch Zivilgesellschaft in ihrem Prozess der Sinnkonstruktion im Diskurs über den Krieg unterstützen. Hier ist besonders interessant, wie die technischen Innovationen angewandt werden, um archaische, universale Traditionen der Verarbeitung von Kriegserlebnissen – etwa indianische Kriegerzeremonien – durch Narration der Erlebnisse und anschließende Reintegration in die Gemeinschaft fortzuschreiben. Es wird beobachtet, wie in der Abfolge von Kriegserzählung und Leserkommentar der Blogs Rituale entwickelt werden, die auf gegenseitiges Verständnis, das Ablegen von Zeugnis, sowie das Teilen und die Verarbeitung von Gefühlen wie Frustration, Trauer und Verlust abzielen.
In diesem Zusammenhang erweitert die Studie den Fokus bisheriger, primär medienwissenschaftlich-soziologisch orientierter Arbeiten zum Umgang mit Web 2.0 unter Soldaten um ethnologische, kulturwissenschaftliche und psychologische Komponenten. Frühe Untersuchungen zum Thema analysierten Blogger als „Citizen Journalists“ im Sinne der amerikanischen Schule des „New Journalism.“ In der hier vorgestellten Arbeit werden Milblogs vornehmlich als zeitgenössische zeremonielle Kriegsnarrative verstanden, die sowohl für Soldaten als auch für die Zivilgesellschaft therapeutisches Potential haben, da sie den Diskurs beider über die jeweilige Rolle und das gegenseitige Verhältnis im Krieg befördern.
Im Lauf des 20. Jahrhunderts hat die Militärpsychologie zunehmend komplexe Erklärungs- und Therapiemodelle für kriegsbedingten Stress, Kriegstrauma und posttraumatische Belastungsstörungen entwickelt. Besonders im Nachgang des Vietnamkrieges und der damit verbundenen Zerwürfnisse innerhalb der US-Gesellschaft hat die amerikanische Psychologie begonnen, der Unterstützung der Soldaten durch die Gesellschaft als Element der Traumabewältigung mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Der Blick auf gesellschaftliche Unterstützung bei der Reintegration von Kriegsheimkehrern hilft den Forschern, kulturelle und kulturspezifische Prozesse des Umgangs mit Gewalt im Diskurs zwischen Zivilgesellschaften und Kriegern bzw. Soldaten zu beleuchten. Einige dieser Studien beziehen sich hierbei auf die Kriegertraditionen indigener nordamerikanischer Völker, besonders deren kriegsbezogene Läuterungs-, Heilungs- und Ehrungszeremonien. Sie ziehen daraus Rückschlüsse, wie Soldaten im 21. Jahrhundert ihre Erlebnisse verarbeiten und zwischen den oft widersprüchlichen erlernten Verhaltensweisen, Regeln und Normen von Krieg und Frieden zu navigieren lernen können.
Kriegerzeremonien sind nach wie vor zentrale Bestandteile indianischer kultureller Praktiken. Nach dem Weltbild vieler indigener Gemeinschaften verlangt die Entwicklung einer Person vom Zivilisten zum Krieger und schließlich zum Veteranen fundamentale soziale und kognitive Brüche im Selbstbild des Individuums. Die Zeremonien dienen dazu, Krieger auf diese Brüche vorzubereiten und sie beim Übergang zwischen diesen Stadien zu begleiten. Zeremonien für heimkehrende Krieger beinhalten oft die rituelle Narration des Erlebten (etwa in formalen Erzählrunden oder durch Gesang und pantomimischen Tanz). Im Gegenzug bekräftigt die Gemeinschaft durch Beifall, durch das symbolische rituelle Trocknen von Tränen, oder durch Ratschläge und Bekräftigung die Reintegration des Heimkehrers in die Gemeinschaft und den Dank der Gemeinschaft für den erwiesenen Dienst. Die Gemeinschaft unterstützt also aktiv die Wiedereingliederung der Heimkehrer und deren Verarbeitung des Kriegserlebnisses. Sowohl die Native Studies als auch Vertreter der Militärpsychologie argumentieren seit den 1980er Jahren, dass diese kulturspezifischen Prozesse auch Anregungen für die Reintegration und Traumatherapie nicht-indigener Soldaten bieten können. Unter anderem hat die hier vorgestellte Studie einige Inspirationen der Arbeit von Tom Holm und John P. Wilson zur Psychologie von Kriegerzeremonien zu verdanken. Letzterer hat in seiner psychiatrischen Forschung und Praxis Elemente indianischer Zeremonien (z.B. das Schwitzhüttenritual) in seine gemeinschaftsbasierten Therapiemodelle für nicht-indianische US-Soldaten integriert.
Dem Projekt liegt die These zugrunde, dass Milblogs ein gewisses Maß an Stressreduktion und Gemeinschaftsbildung, wie sie im Vergleich mit indianischen Zeremonien angeregt werden, bieten, und zwar noch während des Einsatzes im Kampfgebiet. Die Interaktion zwischen Bloggern und Publikum wird hier als ein wichtiges Werkzeug für die Erlebnisverarbeitung und die Navigation zwischen ziviler und militärischer Erfahrung und Realität verstanden. Ähnlich den zunehmend zahlreichen sozialen und therapeutischen Projekten für Heimkehrer (Schreibkurse, öffentliche Erzählrunden, Theater- und Kunstprojekte), bieten Milblogs eine Möglichkeit, Kriegserlebnisse mit der Zivilgesellschaft zu teilen und darüber in Austausch zu treten. Sie sind daher moderne Varianten der Kriegserzählung, durch die Zeugnis abgelegt, Diskurs angeregt und wechselseitige Unterstützung generiert werden kann.
Milblogger beschreiben und erklären das Leben im Kampfgebiet und öffnen Zivilisten so ein Fenster in die militärische Realität. Viele bieten auch einen Einblick in die Lebensumstände der einheimischen Bevölkerung. Das Publikum dieser Blogs ist oftmals in Unterstützergruppen (u.a. die „Soldiers' Angels“) organisiert und bietet im Gegenzug Aufmerksamkeit, Zuspruch und Mitgefühl. Die Blogs diskutieren oftmals aber auch Alltägliches, Popkultur oder Sport, was den Soldaten einen fortlaufenden Kontakt zur Normalität des Zivillebens ermöglicht. Dieser Austausch – wenngleich keine sichere Prophylaxe gegen PTBS – hilft, die sozialen und kognitiven Brüche zwischen Zivilleben und Kriegserfahrung zu verringern und er gilt bei Militärstrategen mittlerweile als wichtige Unterstützung für die Moral in der Truppe.
In den späten 1990er Jahren haben Psychologen wie James W. Pennebaker begonnen, den Beitrag des Schreibprozesses zur geistigen Gesundheit genauer zu untersuchen. Nicht nur ist Erfahrungsaustausch wichtig für die Gemeinschaftsbildung, auch das Individuum selbst durchläuft einen Prozess des Umgangs mit Erfahrung, wenn es im Rahmen eines Schreibprozesses Erinnerungen ordnet, Lücken füllt, und Erlebnisse kontextualisiert. Dieser Prozess hilft, Erfahrung zu integrieren und Erinnerungen zu kontrollieren und wird deshalb zunehmend in der Traumatherapie und zur Persönlichkeitsentwicklung eingesetzt. Zudem ist diese therapeutische und gemeinschaftsbildende Wirkung einem immer größer werdenden Kreis von Selbsthilfegruppen bewusst, wie etwa das Phänomen der Krebs-Blogs im angelsächsischen Raum oder den Niederlanden beweist.
Ähnlich wie indianische Veteranen, die ihre Kriegserfahrung durch kontinuierlichen Gemeinschaftsdienst in Ehrenpositionen innerhalb der Stammesstruktur einbringen, lässt sich beobachten, dass viele Milblogger durch ihren Schreibprozess ein Sendungsbewusstsein bzw. ein Gefühl für einen gesellschaftlichen Auftrag entwickeln. Blogger im Einsatzgebiet verstehen sich oft als Mentoren für ihre zukünftige Ablösung oder generell für jüngere Soldaten. Einige agieren als Kulturvermittler, indem sie dem heimischen Publikum lokale Sitten und Bräuche, aber auch die Auswirkungen des Krieges auf die lokale Bevölkerung erklären. Zahlreiche Blogger führen ihre Arbeit nach der Heimkehr fort und verstehen sich so als Sachverständige, die einen Informationsdienst anbieten. Andere dokumentieren ihre Probleme bei der Wiedereingliederung oder mit posttraumatischen Belastungen und führen somit parallel eine Mentorfunktion wie auch selbsttherapeutische Arbeit aus.
Es gilt bei der Betrachtung des therapeutischen Werts von Milblogs jedoch einige Widersprüche und Probleme zu bedenken. Da die militärische Führung nach anfänglichen Sicherheitspannen das Primat der operativen Sicherheit (OPSEC) im Umgang mit dem Internet festgelegt hat, können US-Soldaten aus dem Einsatzgebiet heraus bestimmte Themen nicht ansprechen (z.B. Einsatzdetails, Waffentechnik, Taktiken). Manche Erlebnisse können so entweder erst nach der Heimkehr, nach dem Ausscheiden aus dem Militärdienst, oder gar nicht öffentlich besprochen werden. Blogeinträge aus und nach dem Einsatz thematisieren daher also unterschiedliche Ereignisse und Gedanken und ziehen auch unterschiedliches Publikum an: der Großteil der Leser ist an „Action“ interessiert und widmet sich daher eher den Blogs aus dem Einsatzgebiet (oder wendet sich etwa anonymen YouTube-Videoclips von Autobombenexplosionen und Feuergefechten zu). Zudem wollen viele Soldaten den direkten Kontakt zur Heimat und ihren Alltagsproblemen lieber vermeiden: sie können die Probleme von Übersee aus nicht lösen und müssen sich auf ihren Auftrag konzentrieren. Außerdem äußern viele US-Soldaten den Verdacht, dass die Unterstützung der Zivilbevölkerung in den (neuen) Medien letztendlich recht oberflächlich sei, denn viele Heimkehrer treffen auf Ignoranz, sobald sie etwa versuchen, durch das komplizierte System der Veterans Administration zu navigieren oder einen Job zu finden.
Selbst wenn man diese Einschränkungen einbezieht, lässt sich sagen, dass Milblogs und andere Web 2.0 Inhalte die lange, universelle Tradition der Kriegserzählung und Erfahrungsbewältigung mittels Interaktion zwischen Soldaten/Veteranen und der Zivilgesellschaft fortführen. Dieser Austausch hat durchaus therapeutisches Potenzial, da er Persönlichkeitsentwicklung, (Re-)Integration und Gemeinschaftsbildung fördert. Führende Militärpsychologen wie Jonathan Shay fordern eine Einbeziehung der Zivilgesellschaft in den Wiedereingliederungsprozess und sie verweisen auf den Sozialvertrag zwischen Gesellschaft und Soldaten: da der Staat im Auftrag der Gesellschaft Soldaten aufwändig ausbildet und in ihrem Namen in Kriegseinsätze schickt, muss die Gesellschaft auch für die Wiedereingliederung der Soldaten verantwortlich gemacht werden. In der vorgestellten Studie soll herausgearbeitet werden, dass Milblogs für die diskursive Verhandlung genau dieser gesellschaftlichen Verantwortung eine Plattform bieten und Rituale – also symbolische Kommunikation – entwickeln, um zur Integration, Katharsis und Heilung von Soldaten und Zivilgesellschaft beitragen.
Die Arbeit wird zur Zeit als Postdoc-Projekt am Institut für Anglistik und Amerikanistik der TU Dresden von Frau Prof. Katja Kanzler betreut und ist Teil des DFG-Projektes „Selbst-Bewusste Erzählungen“. Aktuelle Informationen zur Studie, zum Gesamtprojekt und zu begleitenden Veranstaltungen sind unter http://www.selbst-bewusste-erzaehlungen.de nachzulesen.