Sie haben zum 1. März 2013 die Leitung der Bibliothek für Zeitgeschichte (BfZ) übernommen. Gratulation. Können Sie uns kurz Ihren bisherigen wissenschaftlichen Werdegang schildern?
Ich bin sowohl Historiker als auch Bibliothekar. 1998-2004 studierte ich Geschichte und Politikwissenschaft an den Universitäten Osnabrück und Sheffield. Anschließend promovierte ich zum Thema „Zwangsarbeit im Ersten Weltkrieg. Deutsche Arbeitskräftepolitik im besetzten Polen und Litauen 1914-1918“ am Max-Weber-Kolleg der Universität Erfurt. 2008-2009 absolvierte ich im Rahmen der Promotion einen Auslandsaufenthalt am Centre d’Etudes et de Documentation Guerre et Societés contemporaines (CEGES-SOMA) in Brüssel. Die Dissertation über Zwangsarbeit im Ersten Weltkrieg erschien 2012 bei F. Schöningh, außerdem habe ich zahlreiche Aufsätze zum Thema veröffentlicht. 2009-2011 machte ich dann das Referendariat für den höheren Bibliotheksdienst an der Zentral- und Landesbibliothek Berlin. Im Anschluss daran bin ich noch einmal in die Wissenschaft zurückgekehrt, als ich an der Freien Universität Berlin die Koordination des DFG-Projekts „1914-1918-online. International Encyclopedia of the First World War“ übernahm. Hier habe ich nicht nur einen guten Überblick über die internationale Forschungslandschaft zum Ersten Weltkrieg bekommen, sondern auch einen Einblick in die Herausforderungen und Potentiale der Digital Humanitas. Beides kommt mir bei meiner neuen Position sehr zugute.
Stellenneubesetzungen werden heute im Kulturbereich oft dafür genutzt, den Rotstift anzusetzen. Wie gestalteten sich für Sie die Verhandlungen mit der Württembergischen Landesbibliothek, in welche die BfZ ja seit 2000 eingegliedert ist?
Da die BfZ integraler Bestandteil der Württembergischen Landesbibliothek (WLB) ist, braucht sie keine Verhandlungen mit dieser zu führen. Vielmehr ist sie seit 2000 in der vorteilhaften Lage, auf eine hervorragende Infrastruktur und eine solide Finanzierung zurückgreifen zu können. Nichtsdestotrotz muss natürlich auch die WLB mit ihren Mitteln haushalten. Deswegen wurden mit meinem Dienstantritt die Positionen des Leiters der BfZ und seines Stellvertreters zusammengelegt. Dies entspricht meinem Profil als Historiker und Bibliothekar, führt allerdings dazu, dass wir unsere Aktivitäten in Zukunft stärker fokussieren müssen. Außerdem wurde die Schriftenreihe der BfZ eingestellt, um die vorhandenen Personalkapazitäten verstärkt für die Erschließung und Digitalisierung einsetzen zu können.
Sie blicken mit Jürgen Rohwer und Gerhard Hirschfeld auf zwei Vorgänger zurück, die, was die wissenschaftlichen Interessen angeht, nicht unterschiedlicher sein konnten: Rohwer kam 1959 aus dem Umfeld der Wehrforschung und förderte in besonderer Weise die Marinegeschichte des Zweiten Weltkrieges. Hirschfeld, der ihm 1989 folgte, hat dagegen großen Anteil am Durchbruch der Mentalitäts- und Kulturgeschichte des Ersten Weltkrieges in der deutschsprachigen Wissenschaftslandschaft. Welche eigenen Schwerpunkte werden Sie in den kommenden Jahren setzen?
Aufgrund meiner Erfahrungen durch meine Dissertation und meine Tätigkeit bei „1914-1918-online“ ist es mir ein Anliegen, dass Regionen wie Ost- und Südosteuropa, die bisher in der Forschung zum Ersten Weltkrieg wenig Beachtung gefunden haben, verstärkt in den Blick genommen werden.
Meine eigenen wissenschaftlichen Interessen werden allerdings weit weniger ausschlaggebend sein für die zukünftige Ausrichtung der BfZ als vielmehr die Anforderungen der Wissenschaft im 21. Jahrhundert und die Herausforderungen des Digitalen Zeitalters. Die BfZ ist eine der größten Spezialbibliotheken für Zeitgeschichte in Europa. Sie verfügt über einmalige Sondersammlungen zu den Themen „Zeit der Weltkriege“, „Marine“ sowie „Neue Soziale Bewegungen“. In Zukunft wird es darauf ankommen, dass diese Bestände stärker als bisher mithilfe moderner Suchinstrumente im Internet recherchierbar und präsent sind. Gerade für jüngere Forscher und auf internationaler Ebene ist heute vielfach nur das sichtbar und relevant, was über das Internet gefunden wird. Dies wird sich langfristig auch auf die Nutzungsfrequenz von Bibliotheken auswirken. Entsprechend stellen wichtige Fördermittelgeber wie die DFG zurzeit ihre Förderung für Bibliotheken dahingehend um, dass zukünftig nur noch Einrichtungen gefördert werden, die ihre Bestände online nachweisen. Die BfZ wird Ihre Aktivitäten daher in Zukunft verstärkt auf die Erschließung und Präsentation ihrer Bestände im Internet konzentrieren.
Die Digitalisierung der Bibliotheks- und Archivbestände ist im vollen Gange. Sie selbst kommen ja direkt aus einem ambitionierten digitalen Wissenschaftsprojekt. Was die BfZ angeht, so ist hier auf den ersten Blick noch wenig davon zu spüren. Ihr unmittelbarer Nachbar in Stuttgart, das Württembergische Hauptstaatsarchiv, ist da mit seinen Militaria-Beständen schon sehr viel weiter. Wo sehen Sie Potenziale der Digitalisierung? Wo sind der BfZ Grenzen gesetzt?
Wie schon gesagt ist es das erklärte Ziel der BfZ, die Erschließung ihrer Bestände und die Recherchierbarkeit im Internet voranzutreiben. Hier ist noch viel zu tun, weil der Erschließungszustand der Bestände sehr unterschiedlich ist. Ich bin aber optimistisch, dass wir die Situation bis zum Jubiläumsdoppeljahr 2014/2015 gerade für Bestände zum Ersten Weltkrieg wesentlich verbessern und ein attraktives Informationsangebot schaffen können. Zusätzlich zur Erschließung werden wir auch die Digitalisierung vorantreiben. Während die WLB bisher vor allem mittelalterliche Handschriften und frühneuzeitliche Drucke digitalisiert hat, wird die Digitalisierung demnächst auch auf die Zeitgeschichte ausgedehnt. Ein Anfang wurde bereits mit der seit Januar 2013 im Netz recherchierbaren Plakatsammlung gemacht. Es bietet sich an, interessante Bestände der BfZ zum Ersten Weltkrieg wie Flugblätter oder Fotos zu digitalisieren und auf innovative Weise zu präsentieren, beispielsweise in Form eines Portals oder mit Hilfe einer virtuellen Ausstellung. Mir schwebt außerdem vor, unsere Digitalisate mit anderen Informationsangeboten wie „1914-1918-online“, „Cendari“ oder den digitalisierten Feldzeitungen der Universitätsbibliothek Heidelberg zu verknüpfen. Auf diese Weise können räumlich verteilte Bestände zusammengeführt und dem Nutzer umfassende Informationen zu einem Thema präsentiert werden.
Sie treten die Leitung der Bibliothek ein Jahr vor dem 100. Jahrestag des Ausbruchs des Ersten Weltkrieges an. Damit nicht genug: In 2015 jährt sich auch die Gründung der Franckschen Kriegssammlung, welche den Grundstock Ihrer Sammlung bildet. Wie wird sich die Bibliothek bei diesen beiden Jahrestagen präsentieren?
Unter anderem bedingt durch den Leitungswechsel befinden sich die Jubiläums-Aktivitäten der BfZ derzeit noch im Planungsstadium. Insofern kann ich Ihnen noch keine konkreten Aussagen über unser Programm machen. Neben einer Verstärkung der digitalen Präsenz wird es sicherlich eine Ausstellung geben. Darüber hinaus werden sich die Vorträge in der Vortragsreihe in nächster Zeit verstärkt mit dem Ersten Weltkrieg auseinandersetzen. So wird z. B. als „Vorreiter“ am 10. Juni 2013 John Horne über „Total War: The French Experience in the Great War“ sprechen.
Apropos Erster Weltkrieg: In Frankreich und in Großbritannien sind großzügige Programme aufgelegt worden, um das Gedenken an 1914-18 politisch und wissenschaftlich auf vielfältige Weise zu pflegen. In Deutschland ist dagegen bislang wenig Aktivität zu verspüren. Wie bewerten sie diese Zurückhaltung und wo sehen sie wissenschaftlichen bzw. erinnerungspolitischen Handlungsbedarf?
In Deutschland sieht sich die wissenschaftliche und vor allem die öffentliche Auseinandersetzung mit dem Ersten Weltkrieg mit dem Problem konfrontiert, dass sie noch immer im Schatten des Zweiten Weltkrieges steht. Dies lässt sich etwa daran ablesen, dass der Zweite Weltkrieg im Fernsehen und in der öffentlichen Diskussion momentan wesentlich präsenter ist als der „Große Krieg“, wie er in Großbritannien und Frankreich genannt wird, obwohl zum Zeitraum 1939-1945 momentan kein runder Gedenktag anliegt, sondern im Gegenteil zu den Jahren 1914-1918. Dies hat meiner Meinung nach damit zu tun, dass der Erste Weltkrieg für die Deutschen – im Gegensatz zu anderen Nationen – heute keinen identitätsstiftenden Charakter hat. Vielmehr haben viele Deutsche Schwierigkeiten, diesen Krieg überhaupt sinnvoll zu verorten. Dies erklärt vielleicht auch, warum sich die Bundesregierung erst spät und auch nur halbherzig des Themas angenommen hat. Im Jahr 2014 werden die Jubiläumsaktivitäten jedoch auch in Deutschland erheblich zunehmen. Eine große Zahl an Publikationen wird auf den Markt kommen. In zahlreichen Museen sind Ausstellungen geplant. Projekte wie „EFG 1914“ oder „Europeana Collections 1914-1918“, die mit umfangreichen deutschen und europäischen Mitteln wichtiges Quellenmaterial digitalisieren, werden ab 2014 ihre Angebote der Öffentlichkeit präsentieren. Die weltweit durchgeführte, massenhafte Bereitstellung von Quellen inklusive Kontextinformationen kann der Forschung ganz neue Impulse geben, z. B. im Bereich der Vergleichs- und Verflechtungsgeschichte. Es wird spannend sein zu sehen, ob dies wirklich passiert oder ob sich das Interesse für das Thema nach 2014 weitgehend erschöpft hat.