Das Geschehen an der Ostfront des Zweiten Weltkriegs war in der zweiten Kriegshälfte im Wesentlichen durch mehrere, zeitlich versetzte Rückzüge der deutschen Wehrmacht aus den eroberten Gebieten und dem gleichzeitigen Vorrücken der Roten Armee geprägt. Die zweite Kriegshälfte ist von der westlichen Forschung bisher deutlich weniger beachtet worden, als die deutschen Offensiven bis 1942. Insbesondere das Verhalten der deutschen Soldaten auf dem Rückzug und die dabei begangenen Verbrechen stellen Forschungsdesiderate dar.
Thema
Nach dem Scheitern des Angriffs auf Moskau im Winter 1941/42 wurde die Wehrmacht zu ebenso improvisierten wie verlustreichen Rückzügen gezwungen, ehe sie Ende Januar 1942 ihre Front wieder vorläufig stabilisieren konnte. Das deutsche Oberkommando des Heeres hatte diese Rückzüge zuerst freigegeben, bevor sie Hitler zwischenzeitlich kategorisch verbat. Vom ersten Tag der sowjetischen Gegenoffensive an versuchten die deutschen Truppen, durch eine Politik der "Verbrannten Erde", vor allem das Abbrennen von Häusern und Vorräten, den sowjetischen Vormarsch zu behindern. Die Zivilbevölkerung der aufgegebenen Gebiete wurde der Roten Armee entgegengetrieben.
Anfang des Jahres 1943 folgten zwei länger geplante und vorbereitete Rückzugsbewegungen: Nach der deutschen Niederlage bei Stalingrad drohte die Heeresgruppe A im Kaukasusgebiet abgeschnitten zu werden. Da die schwierige Räumung des Kaukasus lange hinausgezögert wurde, fand sie unter erheblichem Zeitdruck statt, war aber intensiv vorbereitet. Der Fokus deutscher Zerstörungspraktiken verschob sich von der Behinderung des sowjetischen Vormarschs auf wirtschaftlich wichtige Objekte. Erstmals führten die deutschen Soldaten rund 150.000 Zivilisten mit sich – zu diesem Zeitpunkt noch größtenteils freiwillig.
Im März 1943 räumten die 4. und 9. Armee den Frontbogen von Rshew und Wjasma mit der sogenannten Büffelbewegung. Diese wurde von den Generalstabsoffizieren rund einen Monat lang akribisch vorbereitet. Die eigentliche Bewegung lief dann nahezu reibungslos. Zurück blieb ein weitgehend zerstörtes und entvölkertes Gebiet. Die beiden Armeen und die Heeresgruppe Mitte feierten die Absetzbewegung als einen vermeintlichen "Musterrückzug".
Nach der gescheiterten Sommeroffensive 1943 bei Kursk war die Wehrmacht indes zu derartigen Operationen immer weniger in der Lage. Die Ausweichbewegungen auf die Höhe des Dnjeprs im Nord- und Mittelabschnitt sowie die Räumung des sogenannten Kuban-Brückenkopfs verliefen noch relativ kontrolliert. Bei den Rückzügen in der Ukraine 1943/44 gelang es der Roten Armee jedoch immer häufiger, rückwärtige Stellungen zu durchbrechen, bevor sie von den deutschen Truppen ausreichend besetzt waren. Die sehr weitreichend und systematisch geplanten Zerstörungen und Zwangsevakuierungen wurden angesichts dieser Lage stark improvisiert und priorisiert. Widerstandshandlungen der örtlichen Bevölkerung häuften sich und waren zunehmend erfolgreich.
All diese Tendenzen kulminierten im Sommer 1944 in Weißrussland. Angesichts der mangelnden Beweglichkeit der Wehrmacht verkündete Hitler im Frühjahr 1944 das "Ende der Operationen" und den Übergang zur starren Verteidigung mit sogenannten festen Plätzen als Ankerpunkten. Mit Beginn der sowjetischen Offensive in Weißrussland wurden zahlreiche deutsche Divisionen in den festen Plätzen eingeschlossen. Zahlreiche deutsche Truppenteile wurden durch überholende Verfolgung eingekesselt und versprengt.
In der Endphase des Krieges kämpfte die Wehrmacht meist auf Reichsgebiet oder auf dem Gebiet (ehemaliger) Verbündeter. Zum einen sank damit nochmals die Bereitschaft zu geplanten Rückzugsbewegungen. Zum anderen erforderte dies nach Ansicht der Befehlshaber eigentlich ein größeres Maß an Rücksicht auf die Bevölkerung. Bestimmte Verhaltensweisen, wie das wahllose Abbrennen von Häusern oder das Plündern von Vorräten auf Rückzügen, waren im Verhalten der deutschen Soldaten jedoch bereits fest verankert.
Ziele und Fragen
Das Hauptziel des Forschungsprojekts ist eine systematische Untersuchung des Vorgehens der Wehrmacht bei Rückzügen auf breiter empirischer Basis. Erstens soll analysiert werden, wie historische Referenzpunkte, vorangegangene Erfahrungen und Planungen in Bezug auf Rückzugsbewegungen im Verhalten der deutschen Soldaten wirksam wurden und wie sich solche Konzepte im Kriegsverlauf veränderten. Zweitens ist die konkrete Praxis der Rückzüge vor Ort zu untersuchen. Drittens werden die Auswirkungen der deutschen Rückzugsbewegungen untersucht – vor allem deren Wahrnehmung durch Angehörige von Wehrmacht und Roter Armee sowie sowjetische Zivilisten.
Von einer Untersuchung der deutschen Rückzüge sind bedeutende Impulse für die historische Forschung zu erwarten. Im Vordergrund steht dabei die Historisierung der zweiten Kriegshälfte. Das Bild des Zweiten Weltkriegs insgesamt verändert sich, sobald man Situationen betrachtet, in denen deutsche Soldaten und zivile Dienststellen nicht mehr als dominante Eroberer und Besatzer auftreten konnten. Die Erforschung der deutschen Rückzüge eröffnet zudem einen Blick darauf, wie sich die Perspektiven auf das Kriegsende und die europäische Nachkriegsordnung im Verlauf der zweiten Kriegshälfte entwickelten. Wichtige Beiträge sind auch zu der mittlerweile etwas in den Hintergrund getretenen, vor einigen Jahren aber breit geführten Debatte über die Beteiligung der Wehrmacht an NS-Gewaltverbrechen zu erwarten. Dass nach jetzigem Kenntnisstand vornehmlich Frontsoldaten die Zerstörungs- und Vernichtungspraktiken auf Rückzügen durchführten, macht deren Erforschung unverzichtbar für eine informierte Debatte.
Untersuchungsschwerpunkte
Die Untersuchung konzentriert sich auf folgende fünf Schwerpunkte, die nach jetzigem Kenntnisstand bedeutende Einschnitte im Rückzugsgeschehen markierten: 1) Die Winterkrise der Heeresgruppe Mitte 1941/42; 2) Den Rückzug der Heeresgruppe A aus dem Kaukasusgebiet im Januar 1943; 3) Die Räumung des Frontbogens von Rshew im März 1943; 4) Den Rückzug aus der Ostukraine im Spätsommer 1943; 5) Die Rückzugsbewegungen in Weißrussland, Litauen und Polen im Sommer 1944. Die Rückzugsbewegungen vom Sommer 1944 bis zum Kriegsende werden in Form eines Ausblicks behandelt.
Quellen
Als Quellengrundlage dienen vor allem Akten der Wehrmacht aus dem Bundesarchiv-Militärarchiv Freiburg und dem Zentralarchiv des russischen Verteidigungsministeriums (CAMO). Ergänzend werden persönliche Aufzeichnungen deutscher Befehlshaber und Soldaten sowie Berichte westlicher Beobachter ausgewertet. Um sowjetische Perspektiven auf die deutschen Rückzüge zu analysieren, kann auf verschiedene Quelleneditionen sowie Interviews mit der Bevölkerung der zurückeroberten Gebiete durch eine sowjetische Historikerkommission (Minc) zurückgegriffen werden.
Das Forschungsprojekt wird durch Prof. Dr. Ulrich Herbert am Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte des Historischen Seminars der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg im Breisgau betreut.