Noch vor Beginn des im Sommer 2014 einsetzenden Gedenkmarathons – einhundert Jahre nach Beginn des Ersten Weltkrieges – versammelte sich vom 28. Februar bis zum 1. März 2014 eine Reihe ausgewiesener Kenner der Materie an der ETH Zürich. Auf der Tagung „An der Front und hinter der Front: Der Erste Weltkrieg und seine militärischen und gesellschaftlichen Gefechtsfelder“ stand vor allem der institutionelle und gesellschaftliche Wandel während und in Folge des Ersten Weltkrieges im Mittelpunkt der Vorträge und Diskussionen.
In dem Ende 2015 erschienenen Konferenzband beleuchten 19 Historiker aus Europa und den USA verschiedene militär-, sozial-, wirtschafts- und kulturgeschichtliche Aspekte des „Großen Krieges“. Das Buch gliedert sich in sechs Themenkomplexe. Der erste ist der Dynamik und Globalität der Kriegführung gewidmet. Georges-Henri Soutou beschreibt in seinem Aufsatz kenntnisreich die Dilemmata des Stellungskrieges und die Suche nach alternativen Strategien, um den damit verbundenen Stillstand zu überwinden. Seine Tour d'Horizon führt ihn dabei von den ersten Durchbruchsversuchen 1915 über Peripheriestrategien bis hin zur „Totalisierung“ der Kriegführung. Stig Förster verweist in seinem Beitrag auf das, was den Ersten Weltkrieg tatsächlich zu einem „Weltkrieg“ machte, seinen globalen Charakter und die gravierenden Kriegsfolgen im Nahen Osten und in Ostafrika, die angesichts der nach wie vor prägenden Fixierung auf die großen Materialschlachten an der Westfront nur allzu leicht aus dem Blick geraten. Folgerichtig plädiert er für eine globale Weltkriegsgeschichtsschreibung.
Die beiden folgenden Aufsätze von Günther Kronenbitter und Ian F. W. Beckett sind dem Komplex „Wandel der Streitkräfte 1914-1918“ zugeordnet. Kronenbitter analysiert dabei aber weniger den Wandel der k.u.k. Armee als vielmehr deren grundlegende strukturelle Defizite. Diese bestanden vor allem in einer wenig leistungsfähigen Verwaltung, einer damit zusammenhängenden chronischen Fehlallokation der ohnehin knappen Ressourcen sowie dem Mangel an professionellen Offizieren und Unteroffizieren. Den Hauptgrund für die im Vergleich zum deutschen Verbündeten eher dürftigen Leistungen der österreichisch-ungarischen Truppen sieht Kronenbitter jedoch in der Mentalität der Kommandeure, welche sich in umständlicher Befehlsgebung, der mangelnden Bereitschaft, eigeninitiativ zu handeln und Verantwortung zu übernehmen, sowie dem Streben nach der Gunst der Vorgesetzten manifestierte.(66) Ian F. W. Beckett konzentriert sich demgegenüber vor allem auf den Wandel der Rekrutierung für die British Army und die im Dienst- und Ausbildungsalltag anzutreffenden Frustrationspotentiale.
Der dritte Komplex thematisiert den Wandel der Kampfführung während des Ersten Weltkrieges. Dimitry Queloz untersucht dazu den unmittelbar nach dem Scheitern der „offensive a outrance“ im August 1914 einsetzenden sukzessiven Doktrinwandel der französischen Armee, während Gerhard P. Groß die operativen Konzepte der 1. bis 3. OHL einer kritischen Revision unterzieht. Bemerkenswert ist der Aufsatz von Michael M. Olsansky über die insgesamt 86 Kriegsschauplatzmissionen, die Schweizer Offiziere vor allem an die Westfront unternahmen, um sich über die aktuellen Entwicklungen des Kriegsbildes aus erster Hand zu informieren. Dazu gehörten auch vordergründig paradox anmutende Eindrücke, wie die des Oberst Moritz von Wattenwyl über die Beweglichkeit der einzelnen Waffengattungen des deutschen Westheeres Ende 1914: „Die beweglichste Waffe ist die schwere Art[illerie] des Feldheeres. Sie war immer da, wo man sie haben wollte. Dann kommt die Infanterie. Die langsamste [Waffe] ist die Kavallerie. Da heisst es immer, die Pferde können nicht mehr.“(117) Olsansky's Beitrag verdeutlicht auch die unterschiedlichen Modi institutionellen Lernens unter Kriegs- und Friedensbedingungen. Für die neutrale Schweizer Armee blieben die „geborgten Kriegserfahrungen“ zunächst ohne unmittelbare Folgen. Erst ab 1918 wurde die Ausbildung allmählich an das veränderte Kriegsbild angepasst, während die rüstungspolitischen Konsequenzen noch bis in die 1930er Jahre auf sich warten ließen.(126)
Die folgenden zwei Aufsätze von Roger Chickering und Michael Epkenhans stehen unter der Überschrift „Der Erste Weltkrieg – ein totaler Krieg?“ Chickering geht dabei der Frage nach, ab wann der Erste Weltkrieg total wurde? Abweichend von der bisherigen Deutung, weist er dabei dem „long year 1915“(135) – mit den Phänomenen: Gaskrieg, ausgedehnter Stellungskrieg, U-Bootkrieg, dem Genozid an der armenischen Bevölkerung im Osmanischen Reich, der kriegswirtschaftlichen Ausbeutung der besetzten Gebiete sowie dem Einsatz von Zwangsarbeitern – eine entscheidende Rolle zu. Michael Epkenhans besichtigt demgegenüber in seinem Aufsatz über die Entstehung der Lüge vom „Dolchstoß“ die deutsche Befindlichkeit an Front und Heimatfront am Ende dieses ersten „totalen Krieges“.
Die fünf Beiträge des fünften Themenkomplexes thematisieren die „Kriegslehren“ verschiedener europäischer Militärorganisationen nach 1918. Für die Reichswehr hebt Markus Pöhlmann die Fixierung auf eine bewegliche Kampfführung unter Verwendung des Auftragsverfahrens hervor, die allerdings der erst ab Mitte der 1930er Jahre praktisch realisierbaren Heeresmotorisierung und -mechanisierung bedurfte. Aus deutscher Sicht besonders interessant sind die Aufsätze von Michael M. Olsansky, Wim Klinkert und Adrian Wettstein. Olsansky schildert die Idiosynkrasien der Doktrindebatte in der Schweizer Armee, wobei sich die französischsprachigen Westschweizer mit der Revue Militaire Suisse vor allem am französischen, während die Deutschschweizer mit der Allgemeinen Schweizerischen Militärzeitschrift sich stärker an der deutschen Taktikschule orientiert hätten. So wurden die 1920/21 entstandenen „Grundlagen für die Gefechtsausbildung“ zu einer Art deutsch-französischem Patchworkprodukt, dessen Weiterentwicklung zäher Aushandlungsprozesse bedurfte.(181) Wim Klinkert verweist in seinem Aufsatz vor allem auf das problematische Verhältnis von Militär und Gesellschaft in den Niederlanden. Die Wünsche des Militärs nach einer grundlegenden Modernisierung der Streitkräfte entsprechend des gewandelten Kriegsbildes und einer verbesserten sportlichen Befähigung der jugendlichen Bevölkerung hatten angesichts einer grundsätzlich militärkritischen Haltung der niederländischen Gesellschaft wenig Aussichten auf Erfüllung. Gleichsam als Gegenstück zum deutschen Fall beschreibt Adrian Wettstein den konzeptionellen und technologischen Stillstand der französischen Armee in der Zwischenkriegszeit. Dieser fand seinen Ausdruck in der 1921 mit der „Instruction provisoire sur l' emploi tactique des grandes unites“ festgeschriebenen Doktrin der methodisch geführten Schlacht, der "bataille conduite", bei der die Bewegungen der Infanterie und der sie unterstützenden Panzer weitgehend starr an die Feuerpläne der – somit als Taktgeber der Schlacht fungierenden – Artillerie gekoppelt wurden.(214f) Wie Wettstein anschaulich nachweisen kann, spielten die persönlichen Kriegserfahrungen der Urheber der Instruktion, allen voran des Kommissionsvorsitzenden Philippe Petain, bei deren Entstehung eine entscheidende Rolle, während der dann fast zwei Jahrzehnte andauernde doktrinelle nicht zuletzt dem technologischen Stillstand infolge verknappter und zudem fehlgeleiteter Rüstungsinvestitionen geschuldet war. Der fünfte Beitrag dieses Komplexes ist den Kriegserfahrungen der British Military Intelligence gewidmet. Sönke Neitzel erörtert darin die Stärken und Schwächen der britischen Nachrichtendienste während des Weltkrieges. Für die Jahre 1918 bis 1935 diagnostiziert Neitzel eine Tendenz zur intellektuellen Stagnation sowie eine nur gering ausgeprägte Reflexion der Schwachstellen des eigenen modus operandi.
Der sechste und letzte Themenkomplex ist mit dem Titel „Kriegserinnerung. Manifestation des Gedenkens“ überschrieben. Darin vergleicht Gerd Krumeich die Formen und Rituale der Erinnerung an den „Großen Krieg“ in Deutschland und Frankreich. Martin Schmitz schildert die verzerrte Erinnerung der k.u.k. Militärelite an den Weltkrieg und den Zusammenbruch der Donaumonarchie, während Beatrice Ziegler Selbstbild und Geschichtspolitik der Schweizer Armee im Hinblick auf ihre Rolle zwischen 1914 und 1918 analysiert. Komplex und Band werden beschlossen von Roman Rossfelds Beitrag über die bislang kaum erforschten Schweizer Rüstungsexporte während des Ersten Weltkrieges.
Auch wenn die Zusammenstellung der Aufsätze zu Themenkomplexen mitunter etwas bemüht anmutet, so halten die Beiträge dieses insgesamt gelungenen Sammelbandes zahlreiche Anregungen und manchen Erkenntnisgewinn bereit.
An der Front und hinter der Front. Der Erste Weltkrieg und seine Gefechtsfelder. Hrsg. von Rudolf Jaun, Michael M. Olsansky, Sandrine Picaud-Monnerat, Adrian Wettstein. Baden: Hier und Jetzt 2015 (= Serie Ares, 2), 320 S. 43 s/w Abb., ISBN 978-3-03919-345-5 , 44,00 €.