„In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ist der Soldat etwas geworden, was man fabriziert.“1 Schon Michel Foucault war bewusst, dass sich Militär und Gesellschaft historisch gegenseitig bedingten und beeinflussten – und dass sich diese Beziehungen veränderten. Das Verhältnis aus der Sicht von militärischer Bildung, Erziehung und Ausbildung zu beleuchten, war das Thema der epochenübergreifenden und interdisziplinären Jahrestagung des Arbeitskreises Militärgeschichte, die vom 4. bis 6. September in Stuttgart stattfand und von ISABELLE DEFLERS (München) und MARCUS STIEBING (Stuttgart) organisiert wurde.
CHRISTOPH LONDON (Aachen) eröffnete das erste Panel mit einem Vortrag zur militärischen Erziehung römischer Kaiser in der Spätantike. Diese habe im Kontrast zur Römischen Republik signifikant abgenommen. Eine methodische Problematik zeige sich stets im Spannungsverhältnis zwischen Panegyrik und Historiographie. Ein Beispiel hierfür sei die militärnahe Präsentation der Kaiser auf Münzen. HANNAH POTTHOFF (Chemnitz) analysierte die Ausbildung eines hochmittelalterlichen Ritters anhand des Versromans Parzival. Jene Erziehung habe nicht nur das Kriegshandwerk umfasst, sondern auch höfische Ideale wie Keuschheit, Treue und Ehrlichkeit. Die Gültigkeit dieser Werte sowie die Ausbildung selbst seien strikt ständegebunden gewesen. Dies habe sich wenige Jahrhunderte später verändert, wie ANETT LÜTTEKEN (Zürich) anhand der Zürcher Neujahrsblätter aufzeigte. Diese hätten sich an verschiedene Gesellschaftsschichten gerichtet und versucht, sich als maßgebliche politisch-militärische Publikation in der Schweiz zu positionieren. In Anlehnung an das Motto „Kriegskunst braucht Belesenheit“ lässt sich die Modernisierung des Militärs anhand der Blätter verdeutlichen, die sich allmählich zu einer militärwissenschaftlichen Zeitschrift wandelten.
PHILIP HAAS (Wolfenbüttel) eröffnete das Panel zur globalen Perspektive mit einem Vortrag über die Anpassungsfähigkeit der braunschweigischen Subsidientruppen im Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg. Diese seien für die asymmetrische Operationsführung und die klimatischen Bedingungen in Nordamerika nur unzureichend ausgebildet gewesen. Allein der interkulturelle Austausch mit britischen Soldaten und der indigenen Bevölkerung habe die fehlenden Fähigkeiten kompensiert. SANDER GOVAERTS (Göttingen) beleuchtete das wechselseitige Verhältnis von Militär und Biologie. Durch die Nähe des Soldatenberufs zur Natur habe das Militär als Vermittler gedient, der biologisches Wissen in die Wissenschaft einfließen ließ. Beispiele hierfür seien die Beiträge chinesischer Kavalleristen der Qing-Dynastie zur Veterinärmedizin oder die eng mit der Forstwirtschaft verbundene Jägerinfanterie. ANNA PEITERS (La Réunion) thematisierte in einem Zeitsprung die Ausbildung ruandischer Soldaten und Zivilisten für den Genozid an den Tutsi 1994, bei der neben „handwerklichen“ Aspekten wie dem „sorgfältigen“ Töten mit Hieb- und Stichwaffen vor allem psychologische Faktoren, wie beispielsweise die Erziehung zum Hass, um töten zu können, im Vordergrund gestanden hätten. Der Genozid sei als Ordnungsmaßnahme instrumentalisiert worden und sollte von einer euphorischen Stimmung getragen werden, die andere Menschen motivieren würde, sich am Morden und Plündern zu beteiligen. ALEXANDER REINEKE (Bochum) befasste sich mit den Wechselwirkungen zwischen Militär und Internet- bzw. Popkultur. Diese sei seit dem War on Terror vor allem durch eine Romantisierung und Ästhetisierung der „tacticoolen“ US-Spezialkräfte gekennzeichnet. Die damit einhergehende Kommerzialisierung habe einen Markt geschaffen, der eine wachsende pseudomilitärische Subkultur bediene, die sich militärisch ausbilde.
FRANZISKA QUAAS (Marburg) begann das dritte Panel zu Konzepten und Rezeptionen mit der Frage, inwieweit römische Militärliteratur im Frühmittelalter zur militärischen Bildung genutzt wurde. Schriftsteller wie Vegetius seien zwar rezipiert worden, der Einfluss jedoch aufgrund der veränderten Kriegsrealität mit kleineren Heeren und andere Taktiken stark begrenzt gewesen. DOHN AVRAHAM (Ramat Gan) behandelte in seinem Vortrag seinen Begriff eines Romantischen Militarismus im Deutschland des 19. Jahrhunderts. Dieser ergebe sich aus dem Spannungsverhältnis von zunehmendem Liberalismus und der autoritären Kultur des Militärs. Das Ergebnis sei der Staatsbürger in Uniform sowie die militärische Erziehung als Ausdruck einer freien und egalitären Gesellschaft. Die militärische Erziehung von Kindern der Belarussischen SSR in den 1930er-Jahren diskutierte YULIYA VON SAAL (München). Da der Stalinismus Kinder als ‚kleine Erwachsene‘ behandelte, obwohl dieses Kindheitskonzept in andern Teilen Europas schon lange überholt war, habe er Kinder und Jugendliche in die Landesverteidigung integriert. Diese Bellifizierung verwässerte die Grenzen zwischen zivilem und militärischem Bereich. MICHAEL CÀP (Prag) gab einen Einblick in die Reorganisation des tschechoslowakischen Offizierskorps nach dem Ersten Weltkrieg. Seit der Loslösung von Österreich-Ungarn habe dieses eine eigene Kultur angestrebt, die mit dem Offizier als Standesberuf gebrochen habe.
Den Abschluss des zweiten Konferenztages bildete eine Podiumsdiskussion zum Verhältnis von Aufklärungsanspruch und militärischem Auftrag unter dem Begriff des Military Enlightenment. Aus erziehungswissenschaftlicher Perspektive verstand JULIA KURIG (Hamburg) die Aufklärung auch als Erziehungs- und Bildungsprogramm, das zu einer Universalisierung und Normierung im Militär beigetragen habe. DANIEL HOHRATH (Ingolstadt) referierte in einem Eingangsstatement über den Wandel der Militärwissenschaften. Wie andere Wissenschaften habe sich auch diese von einer „Kriegskunst“ zu einer ergebnisoffenen Militärwissenschaft gewandelt, zu deren Erforschung Militärakademien gegründet worden seien. JUTTA NOWOSADKTO (Hamburg) vertiefte diesen Aspekt anhand eines Vergleichs zweier militärischer Ausbildungsorte. Die Praktische Artillerie- und Genieschule auf dem Wilhelmstein im Steinhuder Meer war ein Beispiel der Akademisierung der Artillerie. Die schaumburg-lippische Hochfürstliche Leibgarden Kompagnie sei ein Beispiel für die zunehmende ständische Durchmischung. TILMAN VENZL (München) illustrierte anhand des Schriftstellers und späteren Dozenten an der Münchner Militärakademie Joseph Maria von Babo den Einfluss von Militärdramen auf die militärische Aufklärung.
Der letzte Konferenztag wurde durch zwei parallellaufende Panels eröffnet. ANNA WILLI (Nottingham) referierte über die Rolle des römischen Militärs bei der Verbreitung der lateinischen Sprache in Germanien. Das Militär sei ein wesentlicher Faktor für die Verbreitung gewesen, habe diese aber nicht aktiv forciert. Das Lateinische habe sich organisch durch die Interaktion zwischen zivilen und militärischen Akteuren ausgebreitet. TRISTAN SCHMIDT (Kattowitz) ging auf die Ausbildung byzantinischer Heerführer im 11. und 12. Jahrhundert ein. Diese sei standesgebunden gewesen und innerhalb der Familie erfolgt. Auch die körperliche Fitness und die Gunst des Kaisers spielten laut Schmidt eine wesentliche Rolle.
Im neuzeitlichen Panel sprach ZSOLT VITÀRI (Pécs) über die ungarische Militärjugendorganisation Levante bis 1945, die sich im Gegenteil zu anderen faschistischen Jugendorganisationen wie der Hitlerjugend aufgrund ethnischer, religiöser und politischer Konkurrenzen nie richtig etablieren konnte und einen „wenig gelungenen Versuch“ darstellte. CHRISTIAN STACHELBECK (Potsdam) untersuchte die taktische und operative Ausbildung der Offiziere der Reichswehr unter dem Einfluss Hans von Seeckts. Die zahlenmäßige Unterlegenheit gegenüber potenziellen Gegnern sollte durch eine hochqualitative Ausbildung ausgeglichen werden. Jeder Offizier sollte in der Lage sein, nach dem Prinzip der Auftragstaktik zu führen. Zusammen mit der von Seeckt propagierten Doktrin des Bewegungskrieges sieht Stachelbeck diese Aspekte auch als Grundlagen für die Anfangserfolge der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg.
Im zeitlichen Kontrast dazu referierte ERIK BURKART (Trier) über mittelalterliche Fechtmeister. Das Erlernen der Technik als Wissensform sei Ausdruck des adligen Standesbewusstseins im Sinne einer Resilienzstrategie. Gleichzeitig sei diese Form der Selbstbildung nicht standesgebunden gewesen und habe einen breiteren Markt gehabt. Das zeige sich an Fechtmeistern, die teils dem Handwerkerbürgertum entstammten. CORNELIA GROSSE (Potsdam) schloss das vierte Panel mit einem Vortrag über die Rolle der historischen Bildung für angehende Offiziere in der Bundeswehr. Diese sei von Anfang an integriert gewesen, habe aber wenig Beachtung gefunden. Erst in Reaktion auf politische Skandale in der Bundeswehr in den 1970er- und 1980er-Jahren sei sie stärker fokussiert worden.
Das letzte Panel zu Räumen und Institutionen wurde von DANIEL KAH (Stuttgart) eröffnet. Er diskutierte die Rolle des griechischen Gymnasions als Ort und frühestes Beispiel militärischer Ausbildung. Obwohl es sich bei den Gymnasien um öffentliche Räume handelte, seien sie auch für die Ausbildung der Epheben genutzt worden. Hier konnten sowohl Körper trainiert als auch Schlachtordnungen eingeübt werden. MARCUS STIEBING (Stuttgart) untersuchte die Architektur der Theresianischen Militärakademie in der Burg von Wiener Neustadt vor dem theoretischen Hintergrund von Michel Foucaults Disziplin- und Machttheorie. Am Beispiel der Tugend des Schweigens zeigte Stiebing, wie Raum und Rituale gezielt als Mittel zur Machtausübung und Disziplinierung der Kadetten eingesetzt wurden. HELENE HELDT (Hamburg) zog im letzten Vortrag der Tagung einen Vergleich zwischen drei preußischen Institutionen, den sogenannten Pflanzschulen. Obwohl das Militärwaisenhaus, die Unteroffiziersschule und die Kriegsschule unterschiedliche Ziele verfolgten, seien sie von den gleichen gesellschaftlichen, sozialen, und technischen Entwicklungen ihrer Zeit geprägt gewesen.
In der Abschlussdiskussion wurde deutlich, dass militärische Erziehung, Ausbildung und Bildung jeweils immer soziale, materielle, normative und affektive Dimensionen umfassen, die sich teils überschneiden. Deutlich wurde auch die Differenzierung der Analysekategorien selbst. Erziehung und Ausbildung waren zumeist Gegenstand von Machtverhältnissen, während Bildung seit der Aufklärung auch als Prozess verstanden werden kann, der Machtstrukturen aufbrechen konnte. Militärische Bildung und Erziehung waren in der Antike und im Mittelalter vor allem standesgebunden, wurden aber im Zeitalter der Aufklärung auch anderen Schichten zugänglich und spiegelten damit den Zeitgeist wider. Das Militärische war etwas, das durch alle Epochen hindurch geschaffen und idealisiert wurde, sei es durch die spätantiken Kaiser auf Münzen oder die zum Schweigen erzogenen österreichischen Kadetten in Wiener Neustadt. Auch die epochenübergreifende Rolle der Geschlechterverhältnisse kam in vielen Vorträgen zum Ausdruck.2 Für zukünftige Konferenzen wäre es daher wünschenswert, Geschlecht als Analysekategorie stärker zu berücksichtigen. Bezüglich einer stärkeren Betonung globaler Perspektiven muss berücksichtigt werden, dass die Geschichte der militärischen Erziehung, Bildung und Ausbildung außerhalb Europas anderen Axiomen und Konventionen unterlag.
Konferenzübersicht
Begrüßung durch den Direktor der Württembergischen Landesbibliothek
Lukas Grawe (Warstein/Rüthen): Begrüßung durch den Vorstand des Arbeitskreises für Militärgeschichte e. V.
Isabelle Deflers (München) / Marcus Stiebing (Stuttgart): Upbringing, Training, and Education in the Military – An Introduction
Panel I: Quellen
Moderation: Jannes Bergmann (Berlin)
Christoph London (Aachen): Über Leichenberge reiten oder im Feldherrenzelt Vergil schmökern? Die militärische Erziehung am spätantiken Kaiserhof zwischen Idealisierung und Ablehnung
Hannah Potthoff (Chemnitz): Ritter werden – Ritter sein. Der mittelalterliche Krieger zwischen Ausbildung und Ideal
Anett Lütteken (Zürich): „Waffen seyn ein schön Geräth / Wan der Man sie wohl versteht.“ Militärische Erziehung im Spiegel der Zürcher Neujahrsblätter des 18. Jahrhunderts
Neues aus der Militärgeschichte
Lukas Grawe (Warstein/Rüthen) / Takuma Melber (Heidelberg): Neues vom Arbeitskreis Militärgeschichte
Jannes Bergmann (Berlin): Neues vom Portal Militärgeschichte
Isabelle Deflers (München) / Marcus Stiebing (Stuttgart): Der Forschungsverbund MKGD / AGM
Elisabeth Jena (Jena): Der tapfere Hausmann. Familientrennungen im Zweiten Weltkrieg und ihre Auswirkungen auf Geschlechterrollen am Beispiel des Ehepaares Hans und Maria Jakob (Wilhelm-Deist-Preisträgerin 2024)
Panel II: Globale Perspektiven und Zugänge
Moderation: Takuma Melber (Heidelberg)
Philip Haas (Wolfenbüttel): Bedingt bereit für den Krieg in Übersee. Ausbildung für und Anpassung der „braunschweigischen“ Subsidientruppen an die nordamerikanischen Verhältnisse während des Amerikanischen Unabhängigkeitskrieges
Sander Govaerts (Göttingen): Soldiers as Naturalists. Military Service and the Development of Biological Science in a Global Perspective, 1200–1800
Anne Peiter (La Reunion): „Pour tuer sans vacillation autant d’humains, il fallait détester sans indécision. “ Zur Normalisierung von Tötung und genozidaler Gewalt im „Training“ von ruandischen Soldaten und Zivilist:innen vor 1994
Alexander Reineke (Bochum): „Tacticool“. The Proliferation of the Training and Aesthetics of Military Forces on Social Media during the War on Terror
Panel III: Konzepte und Rezeption
Moderation: Jannes Bergmann (Berlin)
Franziska Quaas (Marburg): Quia necessarium aestimavi… Reichweiten und Grenzen der Rezeption römischer Militärratgeber in der Kriegführung der Karolinger- und Ottonenzeit
Doron Avraham (Ramat Gun): Romantic Militarism. Military Education and the Formation of German Liberal Society in the Nineteenth Century
Yuliya von Saal (München): Bellifizierte Kindheit. Militärpatriotische Erziehung von Kindern und Jugendlichen in der Sowjetunion der 1930er-Jahre
Michal Cáp (Prag): Shaping the Gentleman-Officer in the Democratic Army? The Interplay of Military Culture and Education in interwar Czechoslovakia
Podiumsdiskussion: „Aufklärung und Militär“
Moderation: Isabelle Deflers (München) / Marcus Stiebing (Stuttgart)
Julia Kurig (Hamburg) / Jutta Nowosadtko (Hamburg) / Tilmann Venzl (München) / Daniel Hohrath (Ingolstadt)
Panel IVa: Akteure und Interaktionen
Moderation: Takuma Melber (Heidelberg)
Anna Willi (Nottingham): All Roads Lead to Latin? The Role of the Military in the Latinatization of the North-Western Roman Provinces
Tristan Schmidt (Kattowitz): Privileged and Professional. Education and Training of High Military Leaders in Byzantinum, 11th/12th c.
Panel IVb: Akteure und Interaktionen
Moderation: Christa Hämmerle (Wien)
Zsolt Vitári (Pécs): Konkurrenz oder Zusammenwirken nationalpolitischer und vormilitärischer Ambitionen. Die Staatsjugend „Levente“ als Hauptakteurin der vormilitärischen Erziehung in Ungarn
Christian Stachelbeck (Potsdam): General Hans von Seeckt und die taktische Aus- und Fortbildung der Offiziere des Reichsheeres 1920 bis 1926
Panel IV: Akteure und Interaktionen
Moderation: Christa Hämmerle (Wien)
Eric Burkart (Trier): Fechtmeister als Experten der Kampfkunst vom 14. bis zum 16. Jahrhundert
Cornelia Grosse (Potsdam): Historische Bildung als Ausnahmezustand? Die Politisierung von Militärgeschichte in der Offiziersausbildung der Bundeswehr
Panel V: Räume und Institutionen
Moderation: Lukas Grawe (Warstein/Rüthen)
Daniel Kah (Stuttgart): Das griechische Gymnasion als Ort militärischer Ausbildung
Marcus Stiebing (Stuttgart): Von der Residenz zur Akademie. Die Wiener Neustädter Burg aus raumsoziologischer Perspektive
Helene Heldt (Hamburg): „Pflanzschule des deutschen Heeres“. (Vor)Militärische Bildungsanstalten der Garnisonstadt Potsdam im Vergleich
Abschlussdiskussion
Moderation: Isabelle Deflers, (München) / Marcus Stiebing (Stuttgart)