Die Reichswehr und die pragmatische Annäherung an die Republik 1919/20 – III. Teil: „Neue Forschungen zur Reichswehr“
Peter Keller
Aufsatz
Veröffentlicht am: 
04. Januar 2023
DOI: 
https://doi.org/10.15500/akm.09.01.2023

Es gibt historische Begriffspaare, die untrennbar miteinander verwachsen sind. „Preußen“ und „Machtstaat“ gehört zum Beispiel dazu. Oder auch „Deutschland“ und „verspätete Nation“, ebenso „Novemberrevolution“ und „steckengeblieben“. Ein weiterer dieser semantisch-siamesischen Zwillinge ist „Reichswehr“ und „Staat im Staate“.

Natürlich ist unser Blick auf die Armee der ersten deutschen Republik inzwischen nicht mehr so starr, wie das populäre Schlagwort vom „Staat im Staate“ womöglich noch nahelegt. So haben unter anderem Michael Geyer,1 Johannes Hürter2 und Rüdiger Bergien3 zum Teil schon vor einiger Zeit unseren Blick dafür geschärft, dass die Reichswehr die selbstgewählte Isolation ab der zweiten Hälfte der 1920er Jahre zunehmend hinter sich ließ und auf die aktive politische Einflussnahme umschaltete. Vordringliches Ziel dieses Manövers war es, die zivile Staatlichkeit für eigene Zwecke zu instrumentalisieren und die geheime Wiederaufrüstung voranzutreiben. Eine wirkliche Annäherung an die Republik – verstanden als Anerkennung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit – war hingegen nicht angestrebt. In passender Ergänzung hat Patrick Oliver Heinemann erst kürzlich die „paralegale“ Mauer aus selbstgeschaffenen und selbstreklamierten Sonder-, Neben- und Überrechten vermessen, mit der sich das Militär systematisch vom demokratischen Gemeinwesen abzuschotten versuchte.4

Die Quintessenz aus bald sieben Jahrzehnten Reichswehrforschung könnte also kaum eindeutiger sein: Auch wenn es Zeiten gab, in denen die Armee die selbstgewählte Abkapselung verließ und auf die Republik zuging, hat sie diese innerlich nie wirklich akzeptiert. Im demokratischen Staatswesen blieb sie bis zu dessen Ende immer ein Fremdkörper.

Mit diesem Befund kann man es bewenden lassen – aber muss man es auch? Ebenso gut lässt sich die Frage stellen, ob der Reichswehr das gerade beschriebene Schicksal in die Wiege gelegt war. Stand von Anfang an unabänderlich fest, dass die Armee sich nie richtig in die Republik integrieren würde? Oder hätte vielleicht die Chance bestanden, die Streitkräfte fester an den demokratischen Staat zu binden?

Fragen wie diese führen zurück in die Gründungsphase der Reichswehr. Gemeint sind damit die Monate, die zwischen der Verabschiedung des Gesetzes über die Bildung einer vorläufigen Reichswehr im Frühjahr 19195 und dem Beginn der Ära Hans von Seeckt im Frühjahr 19206 lagen; die Spanne also, in der die Reichswehr zwar schon existierte, ihre endgültige Form und ihren Ort im Verfassungsgefüge der deutschen Republik aber noch nicht gefunden hatte. War es die Zeit der „Frühlingsgefühle“ zwischen Reichswehr und Republik?

An dieser Stelle setzt der vorliegende Beitrag ein. Kernthese ist, dass in der frühen Reichswehr Bestrebungen vorhanden waren, den Schulterschluss mit der Republik zu suchen. Wichtigster Protagonist dieser Bestrebungen war der damalige preußische Kriegsminister und spätere erste Chef der Heeresleitung Walther Reinhardt. Im Folgenden soll näher umrissen werden, welche Zielsetzungen Reinhardt und einige ihm gleichgesinnte Offiziere verfolgten, welche konkreten Formen der von ihnen propagierte Kurs einer Annäherung an die Republik annehmen konnte und woran er schließlich scheiterte.

Überlegungen zur neuen deutschen Armee

Am 28. Februar 1919 erschien in der Zeitschrift „Welt-Echo“ eine Ausgabe, die komplett einem Thema gewidmet war: der Neubegründung der militärischen Verhältnisse in Deutschland. Den Leitartikel „Wehrhaftigkeit“ hatte Reichswehrminister Gustav Noske persönlich beigesteuert. Noske konstatierte darin, dass die junge Republik aus außen- wie aus innenpolitischen Gründen auf eine Streitmacht nicht verzichten könne. Das Land müsse wieder wehrhaft werden. Andere Beiträge behandelten die Bedeutung der Technik für die Heeresrüstung, stellten Überlegungen zur Erneuerung der Befehlsgewalt an oder befassten sich mit der militärischen Jugenderziehung.7

Ein Artikel trug den Titel „Das künftige Heer“ und stammte aus der Feder eines namentlich nicht näher genannten Generalstabsoffiziers. Dieser hielt sich nicht mit langen Vorreden auf. Gleich in den ersten Absätzen kam er auf den Punkt: Deutschland brauche eine neue Armee! Diese werde den Vorgaben entsprechen müssen, die die Alliierten dem Reich im kommenden Friedensvertrag auferlegen würden. Außerdem werde sie dem Gebot der finanziellen Sparsamkeit verpflichtet sein. Vor allem aber müsse sie auf „demokratischer Grundlage“ organisiert werden: „Das letztere bedeutet, daß beim Heeresdienst keine Vorrechte einzelner Stände bestehen dürfen, daß zu den Führerstellen Männer aus allen Schichten emporsteigen können, daß die eiserne Strenge der Disziplin soweit als möglich gemildert wird und daß Dienst und Verwaltung im Heer unter Mitwirkung aller Volksgenossen sich vollziehen.“8

Nach einigen Ausführungen dazu, wie eine solche Armee aussehen könne – konkret schwebte dem Verfasser eine Art Milizsystem nach Schweizer Vorbild vor –, kam er zum Ende des Aufsatzes schließlich zu seiner eigentlichen Forderung:

„Inwieweit diese Vorschläge in die Tat umgesetzt werden können, kann nicht vorausgesehen werden. Es gibt auch andere Möglichkeiten. Ein Ziel aber darf bei der Neuaufrichtung unseres Heeres nicht aus dem Auge gelassen werden: daß Volk und Heer, nicht mehr getrennt durch Kasernenmauern, Berufs- und ständische Schranken, zu einem einzigen Organismus verschmelzen!“9

Das klang deutlich anders als das Meiste, was man im untergegangenen Kaiserreich von einem Generalstabsoffizier zum Verhältnis zwischen Militär und Gesellschaft gehört hätte. Der Gedanke, dass die Streitkräfte nicht aus der Bevölkerung hervorragen, sondern unter Aufgabe jeder Sonderstellung danach streben sollten, eins mit ihr zu sein, wäre in den alten Zeiten von der Mehrzahl der Kameraden des namenlosen Verfassers als unerhört zurückgewiesen worden. Das doppelte Schockerlebnis von Revolution und Kriegsniederlage hatte die Karten allerdings neu gemischt. Das, was zuvor als selbstverständlich gegolten hatte, musste nun damit rechnen, auf den Prüfstand gestellt zu werden. Das galt nicht nur, aber auch für die Heeresverfassung.

Walther Reinhardt und der Reichswehr-Ausschuss

Dass Anfang 1919 über die Neu- und Wiederaufrichtung des Militärs diskutiert wurde, hatte allerdings sehr viel profanere Gründe: In der bewaffneten Macht herrschte das blanke Chaos. Die alte Armee zeigte Zerfallserscheinungen und konnte ihrer Pflicht, die innere und äußere Sicherheit des Landes zu garantieren, kaum mehr nachkommen. Ihr zur Seite getreten war ein buntes Konglomerat aus Freiwilligenverbänden, Freikorps, Volkswehren, Sicherheitstruppen und vielen weiteren solchen Formationen, die in Reich und Bundesstaaten als militärische Notbehelfe die Aufgaben der Streitkräfte wahrnahmen.10

Zukunftsfähig war ein solches Organisationsgewirr nicht. Im Gegenteil: Es war ineffizient, teuer und unübersichtlich. Auf die Dauer musste eine andere Lösung gefunden werden. Diese kam in Gestalt des sogenannten Reichswehr-Ausschusses. Der besagte Ausschuss war mit Billigung des Rats der Volksbeauftragten im Januar 1919 beim preußischen Kriegsministerium eingesetzt worden. Vorsitzender des nur mit Offizieren und Unteroffizieren besetzten Gremiums war Oberst Richard von Pawelsz, sein eigentlicher Spiritus Rector aber der preußische Kriegsminister Walther Reinhardt.11

Hauptaufgabe des Ausschusses sollte es sein, die gesetzlichen und organisatorischen Grundlagen für eine Übergangsarmee zu schaffen, in die die verfügbaren Truppen nach und nach überführt werden sollten. Weiter reichte das Mandat des Gremiums nicht. Keineswegs war es sein Zweck, Konzeptionen für eine dauerhafte Heeresverfassung vorzulegen. Das hinderte den Ausschuss nicht daran, sich trotzdem sehr viel weitreichendere Gedanken über die Ausgestaltung der neu zu schaffenden Reichswehr zu machen. Auch das Verhältnis zwischen Militär und Republik spielte in diesen Überlegungen eine Rolle. In einer aus dem Ausschuss hervorgegangenen und mutmaßlich von Reinhardt inspirierten, wenn nicht gar mitverfassten Denkschrift findet sich dazu der beachtenswerte Absatz:

„In weiten Schichten wird die alte Armee unter Führung ihres Offizierskorps als ‚Hort der Reaktion‘ angesehen. Diese Ansicht läßt sich nicht von heute auf morgen ändern, es ist auch durchaus verständlich, dass die Tradition des [k]aiserlichen Deutschlands dem Republikaner eine Gefahr bedeutet. Angesichts der drohenden Lage ist es daher besser, solch schwer zu überwindende und kostbare Zeit raubende Widerstände nicht erst zu erwecken und unter entschiedener Lösung von unserer militärischen Vergangenheit der jungen Republik ein junges republikanisches Heer zu schenken.“12

Die Reichswehr als führender Stand der Nation

Äußerungen wie diese haben Reinhardt mitunter den Ruf eines überzeugten Republikaners eingetragen.13 Diese Einschätzung ist allerdings verfehlt. Reinhardt ging es weniger um das neue Staatswesen als vielmehr um ganz andere Dinge. Hinter den Kulissen nahm er dabei kein Blatt vor den Mund. In einem Gespräch mit seinem Freund Albrecht von Thaer hatte der preußische Kriegsminister bereits Ende 1918 dargelegt, wonach ihn eigentlich dürstete. Er wollte „ein freies Deutschland, möglichst wieder in seinen alten Grenzen, mit starker, modernster Armee, mit neuesten Waffen“. Alles andere, und dazu gehörte auch die Staatsform, hatte dahinter zurückzutreten.14

Ähnlich freimütig äußerte sich Reinhardt im März 1919 gegenüber Mitarbeitern im preußischen Kriegsministerium: Vordringliche Aufgabe der nächsten Zeit sei der maximale Widerstand gegen die Forderungen der Entente, der Sieg über den „Bolschewismus“ und anschließend der nationale Wiederaufstieg.

„Die Basis dazu bildet der Block aus den mittleren politischen Parteien, auf dem die Regierung steht. Die Aufgabe ist so groß und schwer, daß wir sie nur lösen können, wenn wir im Inneren einig sind. Das ist schwer, weil das Zusammenhalten nach der Mitte niemals die agitatorische Zugkraft hat, wie das Abschwenken nach dem Flügel. Der Bürgerkrieg muß vermieden werden, denn neigen wir den Flügeln zu, so schwenken die Flügel aufeinander ein.“15

Die Republik war in diesen Konzepten also primär ein Mittel zum Zweck. Ihre Aufgabe sollte es sein, dem Militär zuzuarbeiten und dieses beim Erreichen seiner Ziele – die unausgesprochen mit denen der Nation gleichgesetzt wurden – zu unterstützen. In einem Schreiben an das preußische Ministerium des Innern deklarierte Reinhardt die Streitkräfte Ende Dezember 1919 folgerichtig zum „Hüter der Verfassung“.16 Besser konnte die seinen Überlegungen innewohnende Rollenverteilung zwischen militärischer und ziviler Sphäre kaum beschrieben werden.

Abbildung 2: Entwurf der neuen Reichswehruniform (Hauptstaatsarchiv Stuttgart M 660-034 Bild 117)

Bereitschaft zu Zugeständnissen an die Republik

Es blieb nicht bei Worten und Gedanken. Wenn die Armee sich die Unterstützung der republiktragenden Kräfte sichern wollte, dann musste sie auch selbst Kooperationsbereitschaft signalisieren. Um das zu bewerkstelligen, war Reinhardt bereit, gewissen Wünschen vor allem der Sozialdemokratie entgegenzukommen. Bereits im Januar 1919 – also noch bevor mit der Aufstellung der Reichswehr begonnen wurde – hatte er dem Offizierskorps das Ablegen der symbolträchtigen Schulterstücke befohlen und war damit einer wichtigen Forderung der politischen Linken nachgekommen. Diese sollten durch schmucklose Ärmelstreifen ersetzt werden.17 Im Gegenzug hatte er aushandeln können, dass sowohl der Rat der Volksbeauftragten als auch der Zentralrat der deutschen Republik zustimmten, die Soldatenräte zu entmachten und die militärische Kommandogewalt wieder in die Hand des Offizierskorps zu legen.18

In den eigenen Reihen brachte Reinhardt dieser Schritt offene Kritik bis hin zu Gewaltandrohungen ein.19 Viele seiner Kameraden – darunter auch Spitzenmilitärs wie Wilhelm Groener oder Hans von Seeckt – konnten nicht verstehen, warum der Kriegsminister bereit war, eines der wichtigsten Distinktionsmerkmale des Offizierskorps, das spätestens seit dem November 1918 politisch und emotional hochaufgeladen war, freiwillig zu opfern. Reinhardt selbst rechtfertigte sein Vorgehen demgegenüber immer wieder damit, dass es sich um reine Äußerlichkeiten handele und er glaube, den Interessen der Armee am besten dienen zu können, wenn er im Kleinen zu Kompromissen mit den neuen Regierenden bereit sei und sich dadurch umgekehrt deren Entgegenkommen bei militärischen Fragen sichere.20

Bereitschaft zu Zugeständnissen an die Revolution zeigte Reinhardt auch auf anderen Gebieten. Insbesondere trieb er die Institutionalisierung der sogenannten Vertrauensleute in der Reichswehr voran. Die von den Mannschaften zu wählenden Vertrauensleute waren die unmittelbaren Nachfolger der zunächst entmachteten und später abgeschafften Soldatenräte. Kommandogewalt hatten sie nicht. Allerdings sollten sie in allen Fragen der Disziplin, der Fürsorge und des Solds als offizielle Interessenvertretung der einfachen Dienstgrade gegenüber den jeweiligen Truppenführern dienen. Die Maßnahme sollte deutlich machen, dass die Armee aus den Fehlern des Ersten Weltkriegs gelernt hatte und die Sorgen der Mannschaften künftig ernster genommen werden sollten als in der Vergangenheit.21

In der Frage der Reichsfarben agierte Reinhardt ebenfalls konzilianter als so mancher seiner Standesgenossen. Er erkannte an, dass die Nationalversammlung sich für die Farben schwarz-rot-gold entschieden hatte und die Reichswehr nicht mehr die traditionsreiche schwarz-weiß-rote Kokarde führen konnte. Um den Wünschen der Republik entgegenzukommen, ohne die vielen Traditionalisten in der Armee zu verprellen, die unter keinen Umständen eine schwarz-rot-goldene Kokarde tragen wollten, setzte er die Einführung der sogenannten Adlerkokarde durch, die einen schwarzen, rotbewehrten Adler auf goldenem Grund zeigte.22 Wie wenig selbstverständlich diese Haltung war, zeigte sich daran, dass die Adlerkokarde unmittelbar nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten umgehend durch eine schwarz-weiß-rote Kokarde ersetzt wurde.23

Abbildung 3: Werbeplakat der Reichswehr, 1919 (Generallandesarchiv Karlsruhe 456 F 6 Nr. 296)

Heinz Hürten hat recht, wenn er darauf verweist, dass sich das Gros des deutschen Offizierskorps um 1919/20 mit der Republik arrangiert hatte.24 Dessen ungeachtet bestanden innerhalb des Militärs aber doch unterschiedliche Auffassungen darüber, wie weit man bei der Annäherung an den neuen Staat tatsächlich gehen sollte.

Noch Jahre später mokierte sich Groener in einer Unterredung mit Seeckt über Walther Reinhardt:

„Ich habe während meiner Tätigkeit als 1. Generalquartiermeister verschiedentlich Anlaß gehabt, an der Charakterfestigkeit des damaligen Preußischen Kriegsministers Obersten Reinhardt zu zweifeln. Der Obersten Heeresleitung war unter anderem ein Brief Reinhardts aus der Zeit bekannt geworden, in der er noch nicht Kriegsminister war und in dem er dem damaligen Vorsitzenden des Rats der Volksbeauftragen Ebert gegenüber sehr weitreichende, mit den Absichten der Obersten Heeresleitung nicht übereinstimmende Zusicherungen hinsichtlich der Demokratisierung der Heereseinrichtungen machte.“25

Breiten- und Tiefenwirkung des pragmatischen Kurses

Reinhardt ist der bekannteste und am besten zu greifende Protagonist der Kräfte in der Reichswehr, die bereit waren, den aktiven Schulterschluss mit der Republik zu suchen. Er war aber nicht der einzige. Auch andernorts waren integrationswillige Verlautbarungen zu vernehmen. Diese gipfelten in der Forderung, die künftige Reichswehr zu einer „vielseitige[n] Organisation für das Volkswohl“ umzuformen, die sich in so vielen Bereichen wie möglich aktiv in den Dienst der Gesellschaft stellen sollte. Dadurch sollte der lädierte Ruf der Streitkräfte aufpoliert und ihr politisches Gewicht gestärkt werden.26 In einer württembergischen Reichswehrformation diskutierten die Offiziere darüber, wie man es eigentlich mit dem Wahlrecht halten wolle. Auch wenn die meisten Truppenführer für politische Enthaltsamkeit plädierten, wurde doch anerkannt, dass die Armee vom Wahlrecht auch profitieren könne. Immerhin würde sie viele tausend Wahlberechtigte stellen und könne bei geschlossenem Stimmverhalten leicht dafür sorgen, dass im Reichstag wehrfreundliche Politiker vertreten seien, die ihren Einfluss zugunsten des Militärs geltend machen würden.27

Andernorts ging es noch handfester zu. Auf einer Besprechung im preußischen Kriegsministerium über Aufklärung, Fortbildung und Fürsorge im Heer äußerte Hauptmann Arno von Moyzischewitz vom Korps Lüttwitz Ansichten, die noch kurze Zeit zuvor kaum denkbar gewesen wären:

„Wir haben mit der Liga zum Schutz Deutscher Kultur gearbeitet und haben diese Liga auch pekuniär unterstützt, um diese Plakate herauszubringen. Wir haben aus den Truppen und auch aus der Bevölkerung heraus scharf verurteilende Ansichten über die Plakate zu hören bekommen, die wir zur Truppe senden. Wir haben deshalb die Propaganda im Wort organisiert. Wir haben uns mit politischen Parteien in Verbindung gesetzt, um Redner zu bekommen, die wir zur Truppe senden, und zwar mit allen Parteien einschließlich der Mehrheits-Sozialisten. Gute Redner der Mehrheits-Sozialisten sind besonders wirksam, weil sie die Bedenken logisch widerlegen können.“28

In diesen Worten spiegelte sich die Eigenart des von Reinhardt vertretenen Kurses besonders deutlich wider. Die Armee versuchte, die republiktragenden Kräfte für eigene Zwecke ins Geschirr zu nehmen. Nolens volens konnte sie sich von diesen dann aber auch nicht mehr abschotten. Das galt auch auf personeller Ebene. Eine bayerische Reichswehr-Werbestelle wies ihre Offiziere explizit dazu an, auch unter den Arbeitern Freiwillige zu werben:

„Sagen Sie der organisierten Arbeiterschaft, daß gerade ihr Interesse es fordert, die Regierung, der Führer ihrer Partei das Gepräge geben, zu festigen und zu stärken. Sagen Sie den Arbeitern, dass es darum vor allem ihre Pflicht ist, recht zahlreich in die Reichswehr einzutreten, daß gerade die Reichswehr nicht in den Dienst der Reaktion und einer bevorzugten Klasse, sondern in den Dienst des Fortschrittes, der Allgemeinheit, des Volkes gestellt wird.“29

Bisweilen befragte die Armee auch lokale Gewerkschaftsverbände, um sich einen Eindruck davon zu verschaffen, wie ein potenzieller Freiwilliger einzuschätzen war.30 Die sogenannten „erwünschten Kreise“, aus denen sich die spätere Reichswehr rekrutieren sollte, umfassten um 1919/20 also durchaus noch das sozialdemokratische Milieu. Vor der Hand sollte durch diese Maßnahme das Interesse des Militärs an zuverlässigen Soldaten bedient werden. Tatsächlich eröffnete sie den republikstützenden Kräften umgekehrt aber auch gewisse Einflussmöglichkeiten auf die Personalpolitik der Armee. Eine Fortsetzung dieses Kurses hätte auf lange Sicht womöglich zu einer besseren gesellschaftlichen und sozialen Durchmischung der Reichswehr beitragen können, als dies tatsächlich der Fall war.

Abbildung 4: Adlerkokarde der Reichswehr (Museum Berlin-Karlshorst Inv.-Nr. 208257)

Der Kapp-Lüttwitz-Putsch als Wendepunkt in der Geschichte der Reichswehr

Das abrupte Ende der Annäherungsversuche der Reichswehr an die Republik kam mit dem Kapp-Lüttwitz-Putsch im März 1920. Als klar wurde, dass die meuternde Marine-Brigade Ehrhardt im Begriff war, auf Berlin zuzumarschieren, forderte Reinhardt, nunmehr Chef der Heeresleitung, den Aufständischen unter allen Umständen mit Waffengewalt entgegenzutreten. Er berief sich dabei auf das Argument, die Armee müsse gerade in der Krise zeigen, dass sie auf der Seite der verfassungsmäßigen Regierung stehe. Seeckt hielt dem sinngemäß die Phrase „Reichswehr schießt nicht auf Reichswehr“ entgegen und fügte hinzu, ein Schießbefehl berge für die bewaffnete Macht ein großes Risiko in sich. Es sei nicht geklärt, ob die Truppe einer solchen Weisung überhaupt Folge leisten werde. Schlimmstenfalls könne die Armee sogar auseinanderbrechen.31

Die Reichsregierung entschied sich für die Auffassung Seeckts. Reinhardt war damit desavouiert. Wenige Tage nach dem Ende des Putschversuchs räumte er seinen Posten. Ihm folgte Seeckt, also genau der Mann, der wie kein anderer für das Konzept einer von der zivilen Staatlichkeit abgeschotteten Armee stand und seine Visionen auch bald Wirklichkeit werden ließ.32

Reinhardt selbst kommentierte seinen Abtritt als wichtigster Offizier der Reichswehr folgendermaßen:

„Ich war von vornherein fest entschlossen, wenn einmal infolge von Rückschlägen oder Mißerfolgen der Minister Noske aus dem Sattel geworfen würde, mit diesem den Dienst niederzulegen, denn, meine Herren, ich habe die Verantwortung für das, was unter der Firma gemacht worden ist, voll mitgetragen, nicht etwa aus einer Art Treue, nein, ich habe aus voller Ueberzeugung die Art der Geschäftsführung und die Art der Führung unserer Organisation und Aufbaupläne mit dem Minister Noske zusammen gemacht. Ich habe mich persönlich dabei so sehr wie möglich zurückgezogen, das habe ich nicht zu bedauern, sondern ich begrüsse es als ein Mittel, erheblich mehr zu erreichen, als sich wohl die Meisten im Nov. 1918 geträumt hätten.“33

Treffender ließ sich die von ihm verkörperte Politik der pragmatischen Annäherung der Reichswehr an die Republik kaum zusammenfassen.

Zusammenfassung

Gab es sie also, die „Frühlingsgefühle“ zwischen der frühen Reichswehr und der ebenso frühen Republik? Die Antwort fällt doppeldeutig aus: Klar ist, dass eine schmale, aber einflussreiche Strömung um Walther Reinhardt bereit war, bis zu einem gewissen Grad den Ausgleich mit der Republik zu suchen. Ihre Bereitschaft, zu diesem Zweck politische Kompromisse mit den neuen Regierenden einzugehen, reichte deutlich weiter, als es beim Gros der professionellen Militärs der Fall war. Am plastischsten zeigte sich dies an den bereits beschriebenen Verwerfungen, die die Verordnung über das Ablegen der Schulterstücke innerhalb des Offizierskorps auslöste.

Republikaner im eigentlichen Sinne des Wortes waren Reinhardt und seine Kameraden trotzdem nicht. Letztlich ging es ihnen darum, den demokratischen Staat für die eigenen militärischen Fernziele einzuspannen. Überspitzt gesagt war das neue Gemeinwesen für sie eher das Mittel als der Zweck. Darin ähnelten sie auf verblüffende Weise den Kreisen um Wilhelm Groener und Kurt von Schleicher, die ab der zweiten Hälfte der 1920er Jahre allmählich die Oberhand in der Reichswehr gewannen und inzwischen ebenfalls zu der Auffassung gelangt waren, der angestrebte machtstaatliche Wiederaufstieg Deutschlands lasse sich am besten auf dem Weg des politischen Pragmatismus und der Kooperation mit der Republik erreichen.

Ein Unterschied zwischen beiden Annäherungsbewegungen besteht freilich doch: Walther Reinhardt und die ihm gleichgesinnten Offiziere zeigten ihren Willen, dem neuen Staatswesen politische Konzessionen anzubieten, bereits zu einem Zeitpunkt, als dieses noch von republiktreuen Parteien dominiert wurde. Vielleicht wirkt eine solche Kompromissbereitschaft dann doch schwerer als eine solche, die gegenüber Kräften geleistet wurde, die im Wesentlichen selbst eher republikskeptisch waren.

In der Ära Reinhardt streckte die Reichswehr ihre Fühler in Richtung der jungen Republik aus. Obwohl sie dies aus eigennützigen Motiven tat, öffnete sie den republikstützenden Kreisen damit auch Tore in die Armee; Tore, die in der Ära Seeckt schnell geschlossen wurden und sich in dieser Form nie wieder öffnen sollten.

 

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut durch Jannes Bergmann und Wencke Meteling.

 

Zitierempfehlung: Peter Keller, Frühlingsgefühle. Die Reichswehr und die pragmatische Annäherung an die Republik 1919/20 – III. Teil: „Neue Forschungen zur Reichswehr“, in: Themenschwerpunkt „Neue Forschungen zur Reichswehr“, hrsg. von Jannes Bergmann/Paul Fröhlich/Wencke Meteling, Portal Militärgeschichte, URL: https://portal-militaergeschichte.de/keller_fruehlingsgefuehle, DOI: https://doi.org/10.15500/akm.09.01.2023 (Bitte fügen Sie in Klammern das Datum des letzten Aufrufs dieser Seite hinzu).

  • 1. Michael Geyer, Aufrüstung oder Sicherheit? Die Reichswehr in der Krise der Machtpolitik 1924–1936, Wiesbaden 1980.
  • 2. Johannes Hürter, Wilhelm Groener. Reichswehrminister am Ende der Weimarer Republik 1928–1932 (Beiträge zur Militärgeschichte 39), München 1993.
  • 3. Rüdiger Bergien, Die bellizistische Republik. Wehrkonsens und „Wehrhaftmachung“ in Deutschland 1918–1933 (Ordnungssysteme 35), München 2012.
  • 4. Patrick Oliver Heinemann, Rechtsgeschichte der Reichswehr 1918–1933 (Krieg in der Geschichte 105), Paderborn u.a. 2018.
  • 5. Reichsgesetzblatt (RGBl.) 1919, S. 295.
  • 6. Zur Bedeutung der Ära Seeckt für die Reichswehr vgl. exemplarisch Sönke Neitzel, Deutsche Krieger. Vom Kaiserreich zur Berliner Republik – eine Militärgeschichte, Berlin 2020, S. 85–87; Heinemann, Rechtsgeschichte, S. 74–99.
  • 7. Vgl. Welt-Echo vom 28.02.1919. Unvollständige Ausgabe der Zeitschrift enthalten in: Hauptstaatsarchiv Stuttgart (HStAS) M 660/034 Bü. 15/1, unfol. Online unter: http://www.landesarchiv-bw.de/plink/?f=1-1278170-111 (zuletzt abgerufen am 03.10.2022).
  • 8. Ebd.
  • 9. Ebd.
  • 10. Vgl. Peter Keller, „Die Wehrmacht der Deutschen Republik ist die Reichswehr“. Die deutsche Armee 1918–1921 (Krieg in der Geschichte 82), Paderborn u.a., S. 51 –101.
  • 11. Vgl. William Mulligan, The Creation of the Modern German Army. Walther Reinhardt and the Weimar Republik 1914–1930 (Monographs in German History 12), New York/Oxford 2004, S. 59–65; Keller, Wehrmacht, S. 154–161.
  • 12. Denkschrift über die Aufstellung einer Reichswehr, Februar 1919, in: HStAS M 660/034 Bü 16,1, unfol. Online unter: http://www.landesarchiv-bw.de/plink/?f=1-1278235-4 (zuletzt abgerufen am 03.10.2022).
  • 13. Vgl. exemplarisch Waldemar Erfurth, Die Geschichte des deutschen Generalstabes von 1918 bis 1945, Göttingen 1957, S. 57.
  • 14. Zitat aus: Albrecht von Thaer, Generalstabsdienst an der Front und in der OHL. Aus Briefen und Tagebuchaufzeichnungen 1915–1919, Göttingen 1958, S. 284 (Eintrag vom 14.12.1918). Vgl. außerdem ausführlich Keller, Wehrmacht, S. 166–170.
  • 15. Referat des preußischen Kriegsministers Walther Reinhardt bei einer Besprechung im preußischen Kriegsministerium, 31.03.1919, in: HStAS M 660/034, Bü. 16/1, unfol. Online unter: http://www.landesarchiv-bw.de/plink/?f=1-1278235-51 (zuletzt abgerufen am 08.10.2022).
  • 16. Schreiben des Chefs der Heeresleitung, Generalmajor Reinhardt, an das preußische Ministerium des Innern über die Neuordnung der Polizeigewalt gegenüber Militärpersonen, in: Zwischen Revolution und Kapp-Putsch. Militär und Innenpolitik 1918–1920 (Quellen zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien. Zweite Reihe: Militär und Politik 2), bearbeitet von Heinz Hürten, Düsseldorf 1977, Nr. 144.
  • 17. Ein Muster dieser Uniform findet sich in HStAS M 660/034, Bü. 15/1, unfol. Online unter: http://www.landesarchiv-bw.de/plink/?f=1-1278170-117 (zuletzt abgerufen am 09.10.2022).
  • 18. Vgl. Mulligan, Creation, S. 47–57; Keller, Wehrmacht, S. 164 f.
  • 19. Vgl. den Drohbrief eines anonymen Offiziers, 22.01.1919, in: HStAS M 660/16/1, unfol. Online unter: http://www.landesarchiv-bw.de/plink/?f=1-1278235-163 (zuletzt abgerufen am 09.10.2022).
  • 20. Vgl. Aufzeichnung des Majors Joachim v. Stülpnagel über eine Diskussion mit dem preußischen Kriegsminister Reinhardt über die Haltung des Offizierskorps zu den Hamburger Punkten, in: Zwischen Revolution und Kapp-Putsch, Nr. 14. Vgl. weiterhin Keller, Wehrmacht, 164 f.; Mulligan, Creation, S. 49 f.
  • 21. Vgl. ausführlich Mulligan, Restoring Trust within the Reichswehr. The Case of Vertrauensleute, in: War&Society 20 (2002), S. 71–90. Auch in ihrem eigenen Werbematerial versuchte die frühe Reichswehr den Eindruck zu erwecken, dass sie mit dem Kaiserheer gebrochen habe. So hieß es in einer Flugschrift, die im Bereich des (badischen) XIV. Armeekorps kursierte: „Der Militarismus ist tot. Das alte Heer ist aufgelöst. Die Reichswehr ist ein völlig neuer freiheitlicher Organismus. […] Die Vertrauensleute treten zu jedem Führer von der Kompagnie bis zur Brigade […]. Es wird keinen Führer mehr geben, der nicht das Vertrauen seiner Truppe hat. […] In der Reichswehr ist mit allen Vorurteilen und Klassenunterschieden des alten Heeres gebrochen“, in: Generallandesarchiv Karlsruhe (GLAK) F 456 F6, Nr. 296, unfol.
  • 22. Vgl. Schreiben des Befehlshabers im Wehrkreis V, Generalleutnant Reinhardt, an den Befehlshaber im Wehrkreis VII, Generalleutnant von Möhl, über die Kokardenfrage, in: Die Anfänge der Ära Seeckt. Militär und Innenpolitik 1920–1922 (Quellen zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien. Zweite Reihe: Militär und Innenpolitik 3), bearbeitet von Heinz Hürten, Düsseldorf 1979, Nr. 127.
  • 23. Dies geschah durch die „Verordnung über die Hoheitszeichen der deutschen Wehrmacht“ vom 14.03.1933 (RGBl. I 1933, S. 39).
  • 24. Heinz Hürten, Der Kapp-Putsch als Wende. Über Rahmenbedingungen der Weimarer Republik seit dem Frühjahr 1920 (Rheinisch-Westfälische Akademie der Wissenschaften. Vorträge G 298), Opladen 1989, S. 11.
  • 25. Niederschrift über eine Besprechung mit Generalleutnant a.D. Groener, o.D., in: Bundesarchiv-Militärarchiv (BA-MA) N 247/67, fol. 20. Online unter: https://invenio.bundesarchiv.de/invenio/direktlink/1b2f3ba7-5795-4767-817a-734c34a80184/ (zuletzt abgerufen am 08.10.2022). Vorschläge des Reichswehr
  • 26. Vorschläge des Reichswehr-Werbebüros Augsburg, Hauptmann Peter, 18.09.1919, in: Bayerisches Hauptstaatsarchiv, Abteilung IV: Kriegsarchiv (BayHStA-KA) Schützenbrigade 21 Nr. 17.
  • 27. Vgl. Reichswehr-Artillerie-Regiment 13 an Hauptmann Wegelin, 23.01.1920, in: HStAS M 376 Bü. 7.
  • 28. Sitzungsprotokoll vom 03.05.1919, in: BayHStA-KA MKr. Nr. 14537, unfol.
  • 29. Vgl. Anweisung für Vertrauensleute, Reichswehr-Werbebüro Gunzenhausen, 1919. Online unter: http://epub.ub.uni-muenchen.de/10690/1/W_4_Don._8-43_54.pdf (zuletzt abgerufen am 08.10.2022)
  • 30. Vgl. Anfrageformular betreffend Eignung von Kandidaten zum Eintritt in die Reichswehr, Juli 1919, BayHStA-KA Freiwilligenverbände Nr. 584, unfol.
  • 31. Vgl. Keller, Wehrmacht, S. 222–243; Mulligan, Creation, S. 138–168. Speziell zur Haltung Reinhardts gegenüber den Meuterern vgl. außerdem dessen Aussage vor dem Reichsgericht am 14.12.1921, in: Erwin Könnemann/Gerhard Schulze (Hrsg.), Der Kapp-Lüttwitz-Ludendorff Putsch. Dokumente, München 2002, Nr. 367.
  • 32. Vgl. Keller, Wehrmacht, S. 272–281.
  • 33. Abschiedsrede Walther Reinhardt, 29.03.1920, in HStAS M 660/034, Bü. 24/1, unfol. Online unter: http://www.landesarchiv-bw.de/plink/?f=1-1278618-85 (zuletzt abgerufen am 07.10.2022).
Perspektiven: