Die Lage war ernst. Deshalb sah sich Bundesminister der Verteidigung Helmut Schmidt im September 1971 gezwungen, ein offizielles Schreiben an seinen Parteifreund, Bundeskanzler Willy Brandt, zu richten. In diesem zeichnete er ein düsteres Bild der finanziellen Lage des Bundes, die es notwendig mache, eine „völlig neue Struktur der Bundeswehr“ zu erwägen. Eine Entscheidung über solche Fragen habe allerdings „nicht nur innenpolitisch, sondern vor allem außenpolitisch ein solches Gewicht“, dass diese nicht auf einen Minister allein beschränkt werden könne. „Vielmehr wird das Bundeskabinett sich vermutlich im Laufe des Jahres 1972 zu einer Entscheidung über diese Fragen gezwungen sehen“.1
Zwar sollte es noch ein wenig länger dauern, im März 1974 war es dann aber so weit: Die Bundesregierung gab ihre Entscheidung über ihre neue Struktur der Bundeswehr bekannt.2 Dem vorausgegangen war im Jahr 1972 zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik eine Reduzierung der Wehrdienstdauer von 15 auf 18 Monate. Viele Ansätze dieser Reformen hatten sich bereits in der Zeit der ersten großen Koalition (1966–69) angedeutet.
Von höchster politischer Bedeutung: Die Wehrstrukturreformen3
Das Dissertationsprojekt fragt nach dem Stellenwert des Militärs für die bundesdeutsche Politik in der Zeit des Kalten Krieges. Dabei beschränkt sich die Studie nicht allein auf die Militär-, Verteidigungs- oder Sicherheitspolitik, sondern zielt auf etwas weiter Gefasstes, das auch die Innen- oder Parteipolitik einschließt. Besonderes Augenmerk wird auf die Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Politikfeldern gelegt.
Militär ist für moderne Staatlichkeit konstitutiv. Entsprechend ist es lohnenswert, sich mit dem Militär und dessen Verhältnis zur demokratisch gewählten zivilen Regierung zu beschäftigen. Die Wehrstrukturreformen eignen sich besonders als Untersuchungsgegenstand, da sie nicht nur einzelne Teile, sondern das Militär in seiner Gesamtheit berührten. Dabei kam ihnen sowohl innen- als auch außenpolitisch besondere Bedeutung zu. Ein weiterer Vorzug dieses Untersuchungsgegenstandes liegt darin, dass die Reformen in den Kontext der allgemeinen Reformpolitik jener Zeit eingebettet werden können.
Militärreformen in der Zeit der Bonner Republik sind bislang kaum durch Grundlagenforschung erschlossen. Sowohl die reichhaltige Überblicksliteratur zur Bundeswehrgeschichte als auch verschiedene in den vergangenen Jahrzehnten erschienene Arbeiten zu politischen Reformen in den 1960er und 1970er Jahren behandeln diesen Aspekt nur beiläufig. Die wenigen Studien, die explizit Militärreformen in den Blick nehmen, thematisieren die Wehrstrukturreformen um 1970 ebenfalls nur am Rande.
Methodik und Fragestellung
Die Studie verfolgt in erster Linie einen politikgeschichtlichen Ansatz. Hierbei soll neueren kulturhistorischen Deutungen des Staates Rechnung getragen werden, die nach den Konstitutionsbedingungen, Strukturen und Diskursen von Staatlichkeit fragen. Diesen Ansätzen liegt die Annahme zugrunde, dass der Staat nicht als gegeben anzusehen sei, sondern als Produkt von Aktionen und einem widerspruchsvollen Zusammenspiel verschiedener Akteure. Der Staat wird in diesem Verständnis immer wieder neu verhandelt und erzeugt.
Um die eingangs genannte Fragestellung nach dem politischen Stellenwert des Militärs beantworten zu können, werden sowohl Strukturen und Organisation als auch Personal – vorrangig des Bundesministeriums der Verteidigung (BMVg) – in den Fokus gerückt. Die Reformen werden im Hinblick auf Leitideen, Entscheidungsprozesse und ihre, nach außen gerichtete, Kommunikation analysiert.
Welche Leitideen lagen den Reformvorhaben zugrunde? Unter welchen Voraussetzungen spielten sich Entscheidungsprozesse ab, welche Strukturen bildeten ihren Rahmen? In welchen Foren wurden Entscheidungen getroffen, wann wurden die Leitideen entwickelt und unter welchen Umständen veränderten sie sich? Welche Akteure nahmen Einfluss und welche Bedeutung maßen sie der Bundeswehr bei? Welche Rolle spielten die Bundesminister der Verteidigung? Welche Wirkung sollte die an die Öffentlichkeit gerichtete Kommunikation der Reformen erzielen, wurden möglicherweise gewisse Zielsetzungen der Reformen idealisiert oder verschwiegen?
Die genannten Fragen zielen auf die Genese der Reformen im politischen Raum – entscheidende Akteure waren mehrere Bundesministerien sowie die im Bundestag vertretenen Parteien – und weniger auf ihre teils langjährige Implementierung in der Bundeswehr ab. Daher wird sich die Studie auf die Konzeptionsphase der Reformen konzentrieren. Dem Antritt der ersten sozialliberalen Regierung im Jahr 1969, der in einflussreichen politikhistorischen Arbeiten als bedeutende Zäsur für die Geschichte der Bundesrepublik insgesamt gedeutet wurde, wird dabei besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Um zu hinterfragen, ob in Bezug auf das BMVg und die Bundeswehr tatsächlich von einer Zäsur gesprochen werden kann, setzt der Untersuchungszeitraum bereits 1966 ein. Als dessen Ende liegt 1975 nahe, zu dieser Zeit war nämlich die Konzeption der Wehrstrukturreformen im Wesentlichen abgeschlossen.
Quellen
Die Studie stützt sich auf eine breite Quellenbasis. Sowohl Archivquellen des BMVg und anderer Bundesministerien, der im Bundestag vertretenen Parteien als auch Nachlässe beteiligter Persönlichkeiten werden ausgewertet. Darüber hinaus wird auf veröffentlichte Quellen wie Presseartikel oder Akteneditionen sowie amtliche Publikationen wie Weißbücher des BMVg oder die Berichte der Wehrstrukturkommission zurückgegriffen.
Verortung der Studie
Das Dissertationsprojekt ist Teil des am Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr angesiedelten Projektverbundes „Staatsgewalt und Streitkräfte. Personal, Organisation und Politik des BMVg“. Hier werden in den kommenden Jahren verschiedene Studien ausgearbeitet, die sich einerseits mit der nationalsozialistischen Vergangenheit des Ministeriums auseinandersetzen, andererseits aber auch die Zeit des Kalten Krieges bis 1990 miteinbeziehen und nach den Bedingungen und Möglichkeiten des Regierens im demokratischen Staat fragen.
- 1. Helmut Schmidt, Bundesminister der Verteidigung, an Willy Brandt, Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland, 13.09.1971, in: Willy Brandt und Helmut Schmidt, Partner und Rivalen. Der Briefwechsel (1958–1992), Bonn 2015 (=Willy-Brandt-Dokumente, Band 3), S. 391 f.
- 2. Die neue Struktur der Bundeswehr, hrsg. vom Bundesminister der Verteidigung, Bonn 1974.
- 3. Die Wehrstruktur umfasst insbesondere Fragen der Organisation, Rekrutierung und Mobilisierung von Streitkräften auf der Makroebene. Vgl. Ines-Jacqueline Werkner, Wehrpflicht oder Freiwilligenarmee? Wehrstrukturentscheidungen im europäischen Vergleich, Frankfurt am Main 2006.