IV. Teil: Krieg in der Ukraine – Geschichte und Kultur als Waffe
Jannes Bergmann/Paul Fröhlich
Interview
Veröffentlicht am: 
01. April 2022

Dervölkerrechtswidrige russische Angriffskrieg gegen die Ukraine dauert weiterhin an und der Ausgang ist immer noch unklar. Dieser Krieg richtet sich inzwischen auch gegen die Kulturgüter der Ukraine. Gleichzeitig werden (Erinnerungs-)Kultur und Geschichte selbst intensiv als Waffe ge- und missbraucht. Russland versucht seinen Einmarsch historisch zu legitimieren und immer wieder werden Beispiele aus der Vergangenheit für Vergleiche und Beschreibungen der aktuellen Geschehnisse herangezogen. Zu Bedeutung und Einfluss von Geschichtsbildern im Krieg sowie seiner kulturellen Dimension äußert sich im vierten Teil der Themenreihe „Krieg in der Ukraine“ Prof. Dr. Matthias Rogg, Professor an der Führungsakademie der Bundeswehr in Hamburg und vormals Direktor des Militärhistorischen Museums der Bundeswehr in Dresden. Zu seinen Schwerpunkten gehört neben der Militär- und Kulturgeschichte auch die historisch-politische Bildung.

 

Lieber Herr Rogg, der Angriffskrieg Russlands dauert nun schon mehr als fünf Wochen an und dennoch kann man sich noch deutlich an die Nachrichten und Bilder des 24. Februar erinnern. Wie überrascht waren Sie vom Kriegsbeginn und welche Gedanken gingen Ihnen – nicht zuletzt als aktiver Offizier – durch den Kopf?

An diesem Krieg hat mich einiges überrascht. Eine Woche vor Kriegsbeginn telefonierte ich mit meiner Mutter, die mich nach meiner Einschätzung fragte, und ich sagte ihr sinngemäß, die Chancen für einen Krieg sehe ich bei 30 Prozent und für eine nichtmilitärische Lösung bei 70 Prozent. Meine Mutter antwortete: „Keine gute Quote.“ – eine kluge Frau. In meiner Kalkulation waren für Russland die Risiken unberechenbar und der politische Preis zu hoch – diese Annahme scheint sich immer mehr zu bestätigen.

Mit drei Dingen habe ich nicht oder kaum gerechnet: Erstens bin ich davon ausgegangen, dass die russischen Streitkräfte besser organisiert sind. Man muss kein militärischer Fachmann sein, um zu sehen, dass hier sehr viel sehr schlecht vorbereitet wurde und die militärische Führung bislang überraschend viele Fehler gemacht hat. Zweitens war ich überrascht, wie gut sich die Ukrainer aufgestellt haben, wie sie geschickt verteidigen und wie groß die Geschlossenheit der gesamten Gesellschaft ist. Die Moral ist wirklich enorm. Und drittens war – zumindest für mich – nicht unbedingt zu erwarten, dass die westliche Welt so geschlossen auftritt. Eines war mir allerdings vom ersten Moment klar: Wir haben es mit einem archimedischen Punkt in der jüngeren Geschichte zu tun, einer grundstürzenden Veränderung der sicherheitspolitischen Architektur in Europa und darüber hinaus – leider.

 

Nur einen Tag vor dem Angriff richtete sich Wladimir Putin mit einer inzwischen viel analysierten Rede an das russische und ukrainische Volk und versuchte seine kommenden Schritte vor allem historisch zu legitimieren. Warum der unbedingte Rück(be)zug auf die Vergangenheit und an wen war die Rede primär adressiert – an die Staatengemeinschaft oder die eigene Bevölkerung?

Putins Rede vom 21. Februar war eine „Kriegsantrittsrede“.1 Inhaltlich war sie nicht wirklich neu. Überraschend waren vielleicht die Direktheit und Frechheit. Putin und seine Schergen, ich sage das ganz bewusst so, haben diesen Krieg schon lange vorbereitet, nicht nur organisatorisch, sondern auch ideologisch. Im historischen Rückspiegel fügt sich vieles jetzt wie ein Puzzlespiel zusammen. Schon im Juni 2020 hat Putin einen historischen Aufsatz verfasst, damals aus Anlass des 75. Jahrestags des Kriegsendes.2 Er folgte dabei ganz dem bekannten Geschichtsmuster aus Sowjetzeiten, zum Beispiel indem er den Hitler-Stalin-Pakt rechtfertigte. Polen wurde eine Mitschuld am Ausbruch des Zweiten Weltkriegs vorgeworfen. Damit nicht genug, verschickte die russische Botschaft in Berlin am 22. Juni, also genau am Jahrestag des Überfalls auf die Sowjetunion, diesen Aufsatz gezielt an einige deutsche Historiker mit der Empfehlung, sich Putins Argumentation zu eigen zu machen. Hier zeigt sich sehr deutlich, wie Geschichte als politische Waffe eingesetzt wird. Im letzten Jahr sekundierte Putins Gefolgsmann Dmitri Medwedew seinem Präsidenten, indem er in einem Aufsatz in der Zeitschrift Kommersant3 der Ukraine ihre historische und kulturelle Identität absprach. Und dann ist natürlich Putins großer historischer Rundumschlag vom Sommer letzten Jahres wichtig, als er über die historische Einheit der Russen und Ukrainer allen mit einem Aufsatz Nachhilfeunterricht in Geschichte erteilte. Dankenswerterweise liegt dieser Artikel in der Zeitschrift Osteuropa im Volltext und übersetzt vor und wurde von Andreas Kappler vorzüglich kommentiert.4 Putins historischer Determinismus, sein pseudofaktischer Zugriff, der gleichzeitige Verzicht auf Quellenbelege, wo es zwingend notwendig wäre, und das Verschweigen von wichtigen Zusammenhängen zeugt von einem hohen Maß an Manipulation. Putins Begründungen klingen, wenn man es nicht besser weiß, im ersten Moment sogar schlüssig. Eigentlich sind diese geschichtspolitischen Aufsätze ein tolles Lehrstück für Studenten, um zu zeigen, wie elementar empirisch-kritische Arbeit in unserem Fach ist und wie man historischen Verdrehungen mit methodischem Handwerkszeug und schlüssigen Argumenten begegnet.

Natürlich ist die Frage spannend, warum sich der Kreml der Geschichte so intensiv bedient. Ich denke, alle autokratischen Herrscher haben ein Legitimationsdefizit. Sie korrumpieren ihre Verfassung, sie können sich nicht auf freie Wahlen und unabhängige Parlamente berufen. Also müssen sie sich anders legitimieren und der Griff in die historische Mottenkiste ist da ein probates Mittel. Sie fragten mich nach den Adressaten von Putins Rede vom 21. Februar 2022. Ich glaube, dass er mehrere im Blick hatte, vor allem die Bevölkerung Russlands, der Ukraine und vielleicht auch die russischsprachige Bevölkerung in den ehemaligen Sowjetrepubliken. Seine Geschichtsstunde diente eindeutig der Legitimation für das Heimholen der Ukraine ins Großrussische Reich. Deshalb der Bezug auf die Kiewer Rus, deshalb das Verschweigen der Existenz der Ukrainischen Volksrepublik von 1918/19 und deshalb auch die gebetsmühlenartige Wiederholung: Groß- und Kleinrussen, und natürlich auch die Belarussen, gehören zusammen, sind ein Volk und teilen die gleiche Kultur. Das ist eine selektive und in Teilen falsche, aber einfache Darstellung der Geschichte – historische Wirklichkeit ist komplizierter.

 

Wir haben gesehen, dass die meisten Historiker und Experten Putins Äußerungen als historisch nicht haltbar abgetan haben und sie dann der tatsächliche Einmarsch überrascht hat. Auch wenn es paradox erscheinen mag – wie ernst muss man auch „falsche“ Geschichtsbilder und -umdeutungen nehmen? Und welche Rolle spielt die emotionale Ebene der Beteiligten dabei?

Man muss diese Geschichtsklitterungen ernst nehmen und man sollte ihnen auch mehr Aufmerksamkeit schenken. Nach allem, was wir momentan wissen, scheinen sich Putins Meistererzählungen in großen Teilen der russischen Bevölkerung zu verfangen. Einige von uns haben auch hierzulande verstörende Erfahrungen mit Menschen gemacht, die der Kremlpropaganda von Russia-TV glauben. Geschichte wird nicht nur genutzt, um politisches Handeln zu legitimieren. Sie ist auch eine große Ressource zur Identitätsstiftung und Mobilisierung. Der Kampf um historische Deutungsräume ist immer eng mit Identitätsfragen verknüpft und damit emotional aufgeladen. Übersteigerte Identitätsbilder leben von genauso übersteigerten Alteritätsbildern. Man könnte auch ganz einfach sagen: von kruden Freund-Feind-Bildern. Das kann man beispielhaft bei Putins Rede am 21. Februar sehen, wo er nicht nur eine Stunde lang doziert, sondern wütend die Stimme erhebt und all die Ungerechtigkeiten anführt, die Russland seiner Meinung im 20. Jahrhundert widerfahren sind, insbesondere der Zerfall der Sowjetunion und der vermeintlich fortgesetzte Verrat des Westens. Er hat quasi die Geschichte des 20. Jahrhunderts angeschrien, wie es Michael Thumann sinngemäß in Zeit-Online formuliert hat.5 Auch die Länge seiner Rede, bei der er sich selbstgefällig entschuldigt, „etwas weiter auszuholen“, ist bemerkenswert. Als wolle er noch einmal unterstreichen: Seht her, hier geht es nicht um Nebensächlichkeiten, sondern um historisch Großes.

Spannend sind für mich auch die historischen Leerstellen, zum Beispiel der von Stalin herbeigeführte Holodomor, also die große Hungerkatastrophe von 1932/33, der wahrscheinlich drei Millionen Ukrainer zum Opfer fielen. Kein Wort davon bei Putin. Dabei ist dieses Verbrechen in der Ukraine bis heute mindestens so präsent wie der sogenannte „Große Vaterländische Krieg“, aber Putin wusste genau, warum er das nicht erwähnte. Eine weitere Leerstelle ist die Geschichte der Nationenbildung in der Ukraine, die bereits in der Frühen Neuzeit einsetzte, sich in einer Nationalbewegung im 19. Jahrhundert fortsetzte und dann in der Unabhängigkeitserklärung der Ukraine 1918 gipfelte. Der Ukrainische Nationalstaat von 1918/20 blieb zwar eine Episode. Aber die Ukrainische Nationalhymne, die Landeswährung und nicht zuletzt die markante blau-gelbe Flagge, all das geht auf den ersten ukrainischen Nationalstaat zurück. Auch das verschweigt Putin aus gutem Grund.

Und nicht nur grotesk, sondern auch ganz besonders gefährlich wird es, als er die derzeitige ukrainische Regierung als „Neonazis“ bezeichnet und ihr einen „Genozid“ an der russischsprachigen Bevölkerung in den Oblasten Donenzk und Luhansk vorwirft. „Nazismus“, „Faschismus“, „Genozid“ – das sind alles Signalworte, die in Russland reflexartig Bilder im Kopf auslösen. Dieser Krieg, das habe ich selbst vielfach bei Begegnungen mit Russen und meinen Reisen nach Russland erlebt, ist sakrosankt. Jede Form des kritischen Hinterfragens oder Differenzierens wird als Revanchismus abgekanzelt. Putin missbraucht in diesem Kontext historisch besetzte Begriffe ganz bewusst, um seine politischen Gegner in die dunkelste Ecke der Geschichte zu stellen. Er vertraut darauf, dass einfache Narrative verfangen, die nicht hinterfragt werden und die sich hervorragend zur Mobilisierung nutzen lassen. Auch hier zeigt sich, dass diese Propaganda ganz offensichtlich bei sehr vielen Menschen in Russland funktioniert, nicht zuletzt, weil sie hochgradig emotionalisiert – das ist erschreckend.

 

Die historische Legitimation von Kriegen ist vermutlich so alt wie Kriege selbst. Lässt sich die Argumentation Putins womöglich mit anderen Reden der jüngeren Vergangenheit des 20. Jahrhunderts vergleichen?

Ich habe bereits gesagt, dass Geschichte eine große Ressource zur Mobilisierung und Identitätsfindung ist. Und sie kann toxisch wirken. Was eine skrupellose Umdeutung und Instrumentalisierung der Geschichte anrichten kann, haben wir beispielhaft auf dem Kosovo Polje, dem Amselfeld, erlebt. Am 28. Juni 1989 hielt der Serbenführer Slobodan Milosevic aus Anlass des 600. Jahrestages der legendären Schlacht auf dem Amselfeld eine Brandrede,6 mit der er die Lunte an ein Pulverfass legte. Milosevic nutzte den Genius Loci geschickt und behauptete vor Tausenden von Anhängern, nach der verlorenen Schlacht hätte der serbische Adel gegen die Osmanen weitergekämpft und daraus ließe sich ein Anspruch Serbiens auf das Kosovo ableiten. 600 Jahre später, das muss man sich mal vorstellen! Aber die Legende vom heldenhaften Kampf der Serben lebte in Folklore, Mythen und Legenden fort. Die serbisch-orthodoxe Kirche spielte dabei übrigens eine nicht unerhebliche Rolle. Bis heute ist nicht klar, ob die Serben die Schlacht überhaupt verloren. Vor allem ging der serbische Staat nach der Amselfeldschlacht nicht unter, sondern existierte weiter. Egal, Milosevic nutzte den Nationalmythos geschickt zur Mobilisierung und vielen gilt seine Amselfeldrede als Zündfunke für die Jugoslawienkriege. Beispiele für die Instrumentalisierung von Geschichte zur Legitimierung von Gewalt gibt es leider viele.

 

Mitte März hat der Bürgermeister Kyjiws Vitali Klitschko die Belagerung der Stadt indirekt mit jener von Stalingrad verglichen, während Wladimir Putin die ukrainische Regierung als faschistisch bezeichnete. Kann eine solche Auseinandersetzung um die Deutungshoheit der Vergangenheit auch (gefährliche) Rückwirkungen auf unser Geschichtsbild nach sich ziehen?

Der Vergleich zwischen Kyjiw, Charkiw und Mariupol mit Stalingrad war in den letzten Wochen mehrfach zu hören, leider auch vom hierzulande von vielen geschätzten ukrainischen Botschafter Andrij Melnyk. Andere vergleichen die Zerstörungen der ukrainischen Städte mit Aleppo oder Grosny, was in vielfacher, auch militärhistorischer Sicht nachvollziehbarer ist. Aber diese Vergleiche sind nicht so stark emotionalisiert. Stalingrad funktioniert in der Kommunikation, weil es eine Chiffre ist, die jeder sofort versteht: totale Zerstörung, unermessliches Leid, Kriegswende. Der Mythos Stalingrad verweist nicht nur expressis verbis auf die Person Stalin, sondern immer auch auf die Person Hitler. Der Vergleich zwischen Hitler und Putin ist in letzter Zeit immer wieder angestellt worden und auch da sollte man sehr vorsichtig sein. Aus vielen Gründen taugt der Vergleich mit Stalingrad also nicht, allein wenn man sich die Dimensionen vor Augen führt. Der Krieg in der Ukraine ist ein verbrecherischer Angriffskrieg und er wird von russischer Seite mit äußerster Brutalität geführt. Das zeigt sich nicht zuletzt daran, dass die russischen Streitkräfte offenbar willkürlich zivile Ziele mit Feuer belegen und die ukrainische Bevölkerung für Kriegszwecke in Geiselhaft nehmen. Ein rasseideologischer Krieg, wie ihn die Wehrmacht in der Sowjetunion führte, folgte anderen Intentionen und zeitigte andere Dimensionen. Die russischen Streitkräfte mögen bei ihren Angriffen auf Kyjiw die Gedenkstätte von Babyn Jar in Mitleidenschaft gezogen haben, was mich im Übrigen schockiert hat. Aber wir sehen momentan kein zweites Babyn Jar in der Ukraine. Ohne das himmelschreiende Unrecht und das Leid im gegenwärtigen Krieg klein zu reden, sage ich ganz deutlich: Gerade weil die Menschen in der Ukraine und in Russland vielleicht am besten wissen, was ein rasseideologischer Krieg bedeutet, sollte man Vergleiche damit unterlassen.

 

Kriege – vor allem historisch begründete – werden selten nur auf der rein operativen Ebene geführt. Häufig kommt es zur gezielten Zerstörung von identitätsstiftenden Orten bzw. Denkmälern. Lässt sich eine solche Entwicklung auch im Krieg gegen die Ukraine erkennen oder steht sie womöglich noch bevor?

Die Zerstörung von Kulturgut ist leider so alt wie die Gewaltgeschichte selbst. Wir beobachten in den Kriegen und Konflikten seit den 1990er-Jahren, dass Fragen der Identität, Nationalität und Gruppenzugehörigkeit eine immer wichtigere Rolle spielen. Der Kampf um diese symbolischen Ressourcen ist wie Sauerstoff im Konflikt, der den Flammen erst richtig Nahrung gibt. Kulturelles Erbe hat viele Facetten, aber die äußerlich sichtbarsten sind die Bedeutungsträger im öffentlichen Raum: historische Stadtbilder, Architektur, Kirchen, Museen, Denkmäler. Dieses kulturelle Erbe ist durch seine Exponiertheit besonders verletzlich. Ganz besonders gilt das für die Welterbestätten der UNESCO, die nicht nur zum nationalen Kulturerbe, sondern zum Kulturerbe der Menschheit gehören. Die Buddha-Statuen von Bamiyan, Palmyra, Timbuktu – all das steht stellvertretend dafür, dass Hochkultur in Kriegen und Konflikten zunehmend zum Primärziel wird. Die UNESCO lässt die Welterbestätten in der Ukraine mittlerweile per Satellit überwachen. Das zeigt, wie bedrohlich man dort die Situation einschätzt. In der Ukraine versucht man verzweifelt, Museen, Archive und Bibliotheken zu räumen und Kulturstätten mit dem blau-weißen Schutzzeichen der UNESCO zu kennzeichnen. Und man unternimmt enorme Anstrengungen zur Digitalisierung von Daten über Kulturgüter, quasi als Back-ups für spätere Rekonstruktionen oder Restitutionen. Aber es fehlt offensichtlich nicht nur an Notfallplänen und Verpackungsmaterial, es fehlt jetzt auch an Fachpersonal, weil der Krieg alle Ressourcen bindet.

Ich habe vor kurzem auf einer Veranstaltung der Leopoldina und der Volkswagenstiftung mit Fachkollegen über Kulturschutz im Krieg diskutiert und dabei ging es auch um die Frage, ob Kulturgut in der Ukraine gezielt zerstört wird.7 Nach allem, was wir zur Zeit wissen, gibt es von russischer Seite keinen Masterplan zur gezielten Zerstörung von Kulturgut. Es gibt bislang auch nur vereinzelt Hinweise auf Plünderungen von Kirchen, Museen oder Bibliotheken. Das ist anders als beispielsweise im 44-Tage-Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan im Herbst 2020, wo Kirchen, Moscheen und religiöse Denkmäler teilweise gezielt zerstört oder geschändet wurden. Ich habe dafür zwei Theorien. Zum einen ist die kulturelle Differenz zwischen Ukrainern und Russen nicht so groß, dass die bewusste Zerstörung von Raumzeichen ein Kriegsziel wäre. Zum anderen braucht so ein Ethnozid eine breite kulturelle Grundierung und damit viele Mitmacher. Da reicht es nicht, dass Vorgesetzte befehlen: „brennt die Bibliothek ab“ oder „sprengt die Kirche“. Dafür bräuchte es, das zeigen nicht zuletzt die Gräueltaten in den Kriegen des 20. Jahrhunderts, eine breite Basis und die findet sich offenbar nicht bei den einfachen russischen Soldaten. Unabhängig davon sind die bisherigen Verwüstungen dennoch immens, weil das russische Militär Zerstörungen von Kulturgut mindestens billigend in Kauf nimmt. Zugleich agiert das russische Militär immer brutaler und es mehren sich die Anzeichen weiterer Kriegsverbrechen. Wer gezielt auf Krankenhäuser und Theater, in denen Zivilisten Schutz suchen, schießt, dem ist alles zuzutrauen. Schwere Menschenrechtsverletzungen, Umweltverbrechen und die Zerstörung von Kulturgut sind in gewaltsamen Konflikten meistens parallel zu beobachten. Insofern habe ich schlimme Befürchtungen. Wie die Ukrainer angesichts dieser Taktik ihre russischen Widersacher als „Befreier“ wahrnehmen sollen, müsste man mal die russische Militärführung fragen. Von ukrainischer Seite bemüht man sich um ein lückenloses Lagebild, stellt die Fotos von Kirchen und Klöstern, die in Mitleidenschaft gezogen wurden, mit genauen Angaben ins Internet: Durchschnittlich zwei Kirchen werden zurzeit jeden Tag beschädigt oder zerstört. Ich bin nicht nur Soldat und Wissenschaftler, sondern auch ein Mensch, der Kultur braucht wie die Luft zum Atmen. Wenn ich das Drama in der Ukraine zurzeit verfolge, dann bin ich fassungslos und wütend zugleich!

 

Der 9. Mai rückt langsam näher und damit der als „Tag des Sieges“ begangene wichtigste Feiertag in Russland, bei dem an den russischen Sieg im Zweiten Weltkrieg erinnert und der Gefallenen gedacht wird. Auch in Deutschland finden entsprechende Gedenkfeiern statt, beispielsweise am Sowjetischen Ehrenmal in Berlin. Bereits seit der Annexion der Krim 2014 regt sich Kritik an diesen Veranstaltungen, insbesondere, weil Russland sie zunehmend nutzt, um seine Sicht auf die Geschichte zu fördern. Wie sehen Sie diese Gedenkveranstaltungen, insbesondere im Hinblick auf den diesjährigen 9. Mai?

Grundsätzlich stehen die sowjetischen Ehrenmale und Kriegsgräberstätten in Deutschland unter einem besonderen Schutz. Deutschland und Russland haben das nach der Wiedervereinigung 1992 vertraglich geregelt und ganz unabhängig von der Einhaltung geltenden Rechts: Ich finde das auch gut so. Der 8./9. Mai hat in Deutschland einen Bedeutungswandel erfahren, allein wenn wir uns an die berühmte Rede des damaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker zum 40. Jahrestag des Kriegsendes 1985 erinnern.8 Als ich Schüler war, hörte man viel von der „Stunde Null“ aber wenig von „Befreiung“. Da haben wir heute in Deutschland glücklicherweise einen differenzierten Umgang mit der Einordnung des Kriegsendes. Soweit ich es sehen kann, hat sich auch in der Sowjetunion und in Russland die Erinnerungskultur an das Kriegsende gewandelt. Ich sagte ja vorhin, dass der „Große Vaterländische Krieg“ dort sakrosankt ist. Aber unzweifelhaft gab und gibt es neben dem propagandistisch inszenierten Gedenken in der Öffentlichkeit auch zunehmend Raum für private Trauer und Erinnerungskultur und die konnte eben oft auch ihren Platz im öffentlichen Raum haben, besonders an den Gedenkstätten. Am 22. Juni und 8. Mai und darüber hinaus werden dort bis heute Blumen abgelegt und Kerzen angezündet. Das soll und muss auch in Deutschland seinen Platz haben, vor allem für die Menschen, die ihre persönlichen und kulturellen Wurzeln in der ehemaligen Sowjetunion haben. Problematisch finde ich allerdings, den 8./9. Mai zum „Tag des Sieges“ zu proklamieren. Das ist nicht nur historisch fragwürdig, ich finde es auch mit Blick auf 27 Millionen tote Sowjetbürger ethisch mehr als problematisch. Dass Angehörige sogenannter Traditionsverbände schon seit Jahren am 8. Mai am Sowjetischen Ehrenmal in Treptow in Uniformen der NVA und mit der Staatsflagge der DDR aufmarschieren, halte ich für einen Skandal, und auch für die Zuschauer, die so einem Mummenschanz die Bühne bereiten, habe ich kein Verständnis. Wer so etwas unterstützt, dem fehlt es offenbar nicht nur an historischem Wissen, sondern mehr noch an jeglicher Sensibilität für den historischen Ort. Dass Veranstaltungen dieser Art zunehmend von Populisten und rechten politischen Irrlichtern unterstützt werden, ist bezeichnend. Unabhängig davon, dass viele sowjetische Gedenkstätten in ihrer Formensprache einem protzigen, oft nationalistischen Heroismus huldigen: Es sind Gedenkstätten an die Opfer eines furchtbaren Krieges und da hat politische Inszenierung jeder Art nichts verloren!

Auch wenn historische Bezüge und die (Um-)Deutung der Geschichte im Rahmen von Kriegen nicht neu sind, so hat angesichts der modernen Kommunikationstechnologie die Diversifizierung dieser Erzählungen zugenommen. Den Darstellungen von offizieller Seite und in den klassischen Massenmedien stehen unzählbare individuelle im Internet gegenüber, die aber ebenso in der Gesellschaft rezipiert werden. Welche Gefahren bzw. Chancen sehen Sie in dieser Entwicklung?

Na ja, so ist das eben mit der Meinungsfreiheit. Dazu gehört nun einmal, dass es viele Stimmen gibt und man sogar öffentlich Unsinn sagen darf. Oft genug nervt das auch, aber das muss eine freie Gesellschaft aushalten. Die Meinungsfreiheit ist DAS (betont) Ferment jeder demokratisch verfassten Rechtsordnung. Aber nicht nur die Demokratie, auch Kultur und Wissenschaft leben von der Vielfalt der Stimmen. Und sie leben von Veränderungen und Wandel, ohne die Fortschritt nicht möglich ist. Wir sehen doch gerade in Russland, wie gefährlich es ist, wenn nur die Meisterzählung gilt. Es ist genau dieses rückwärts gerichtete, extrem statische und eindimensionale Denken, das die Defizite der russischen Politik gerade schonungslos aufdeckt. Autokraten und übrigens auch Populisten suchen immer nach der historischen Wahrheit. Das ist einfach, denn wer im Besitz der Wahrheit ist, muss keine andere Meinung zulassen und kann sich jeder Diskussion entledigen. Aber die Wirklichkeit ist anders. Umberto Eco hat es im Foucaultschen Pendel auf den Punkt gebracht: „Für jedes komplizierte Problem gibt es eine einfache Lösung: und die ist falsch.“ Was wir wirklich brauchen, ist die Fähigkeit, komplexe historische Zusammenhänge ganz normalen Menschen einfacher zu erklären: in leichter Sprache und gerne mit etwas mehr Unterhaltungswert. Da hat meine Zunft – die der Historiker und Kulturwissenschaftler – noch jede Menge Luft nach oben.

 

Zitierempfehlung: Jannes Bergmann/Paul Fröhlich, Interview mit Prof. Dr. Matthias Rogg. IV. Teil: Krieg in der Ukraine – Geschichte und Kultur als Waffe, in: Themenschwerpunkt „Krieg in der Ukraine. Militär- und gewaltgeschichtliche Hintergründe“, hg. von Jannes Bergmann/Paul Fröhlich/Gundula Gahlen, Portal Militärgeschichte, 1. April 2022, URL: https://portal-militaergeschichte.de/bergmann_froehlich_interview_rogg (Bitte fügen Sie in Klammern das Datum des letzten Aufrufs dieser Seite hinzu).

  • 1. https://zeitschrift-osteuropa.de/blog/putin-rede-21.2.2022/
  • 2. https://russische-botschaft.ru/de/2020/06/19/75-jahrestag-des-grossen-sieges-gemeinsame-verantwortung-vor-geschichte-und-zukunft/
  • 3. https://www.kommersant.ru/doc/5028300
  • 4. Vladimir Putin, Über die historische Einheit der Russen und der Ukrainer. Dokumentation, in: Osteuropa 7 (2021), S. 51–66. Für den Kommentar s. Andreas Kappeler, Revisionismus und Drohungen. Vladimir Putins Text zur Einheit von Russen und Ukrainern, in: Osteuropa 7 (2021), S. 67–76, online abrufbar unter: https://zeitschrift-osteuropa.de/hefte/2021/7/revisionismus-und-drohungen/.
  • 5. https://www.zeit.de/2022/09/wladimir-putin-russland-westen-geschichte-fernsehansprache?utm_referrer=https%3A%2F%2Fwww.google.de%2F
  • 6. Für eine englische Übersetzung der Rede s. Heike Krieger (Hg.), The Kosovo Conflict and International Law. An Analytical Documentation 1974–1999 (Cambridge International Document Series 11), Cambridge 2001, Nr. 7, S. 10f.
  • 7. https://www.volkswagenstiftung.de/aktuelles-presse/mediathek/leopoldina-lecture-die-zerst%C3%B6rung-von-kulturgut-als-kriegsstrategie
  • 8. https://www.tagesschau.de/multimedia/video/video-378259.html
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