Die Materialität des Infanterie-Gewehrs im Kontext der industriellen Produktion in Deutschland und der Schweiz, 1898-1945. (Dissertation)
Sebastian M. Thiem
Projektskizze
Veröffentlicht am: 
01. März 2021

Nach wie vor ist der Erste Weltkrieg in Forschung, populärer Geschichtsschreibung oder in Film und Fernsehen omnipräsent. Der technikgeschichtliche Aspekt dieses Konflikts ist ein wichtiges, wenngleich selten explizit untersuchtes Forschungsfeld.[1] „Moderne“ Infanteriewaffen dominierten die Schlachtfelder seit dem Übergang zum Stellungskrieg.[2] Bilder von Gas, Artillerie und Jagdflugzeugen prägen die Vorstellungen dieses hochtechnisierten Kriegs noch heute. Hier lässt sich differenzieren: Der Großteil der Soldaten kämpfte nicht mit einem Maschinengewehr oder saß in einem Kampfflugzeug. Der Großteil der Soldaten benutzte das Infanterie-Gewehr. Die Materialität[3] dieses Artefakts verbindet umfänglich die Ebenen der industriellen Rüstungsproduktion mit der Ebene der Soldaten.[4]

Theoretische Verortung

Ahasver v. Brandt konstatierte, Historiker hätten ein zu „geringes hilfswissenschaftliches Gepäck“.[5] Folgerichtig fordert er das Aufgreifen von Sachüberresten in der Geschichtswissenschaft, sie vermitteln unabsichtlich historische Kenntnis, ihnen wohnt keine Tendenz inne.[6] Militärische Artefakte haben folgerichtig auch in der Militär- und Technikgeschichte ihren Platz.[7] Es lässt sich feststellen, dass militärisches Handeln immer auch technisches Handeln war.[8] Dies bedeutet nichts anderes, als dass eine scharfe Trennlinie zwischen der materiellen Welt der Dinge und der sozialen Welt der Menschen (Soldaten) nicht existiert. Es gibt, um mit den Worten von Andreas Ludwig zu sprechen, keine Geschichte ohne Dinge.[9]

Fragestellung / Methodik

Das Dissertationsprojekt ist an den Schnittstellen der Militär- und Technikgeschichte sowie der materiellen Kultur verortet. Es sollen die black boxes »Militär« und »Technik« mittels der Materialität des Gewehrs geöffnet und neue Erkenntnisse bezüglich der militärischen, technischen und industriellen Zusammenhänge der Entstehung, Verbreitung und Nutzung dieser Technik und deren Niederschlag in der zeitgenössischen materiellen Kultur gewonnen werden. Als methodischer Korpus bieten sich die Debatten des Material Culture Studies[10] aber auch – bei aller Kritik – die Akteur-Netzwerk-Theorie von Bruno Latour an.[11]

Der übliche Blick auf die Großmächte des Zeitalters der Weltkriege[12] wird mit dem Fokus auf Deutschland und die Schweiz[13] bewusst verlassen. Die Schweiz als dezentraler Schauplatz[14] im Zeitalter der Weltkriege ermöglicht einen instruktiven Vergleich mit einem relativ kleinen, neutralen Staat. Es lassen sich nicht nur waffentechnische Spezifika des Zeitalters der Weltkriege erkennen, sondern auch die materielle Kultur und Wege der industriellen Massenfertigung für den Betrachtungszeitraum, letztlich für das gesamte lange 20. Jahrhundert, ableiten. Der Blick auf Deutschland und die Schweiz hat demnach einen methodisch ganz pragmatischen Grund: Es würde zu Fehleinschätzungen führen, ein einzelnes Objekt – einen einzelnen Staat – isoliert zu betrachten.[15] Die Sprache des Materials lässt sich durch seine Gebundenheit an physikalische Eigenschaften und durch seine Erscheinung dekodieren. Heruntergebrochen auf die untersuchten Objekte bedeutet dies, dass Materialien wie hochwertige Stahlteile, Blechbauteile, Ersatzstoffe oder Holz sowohl stoffliche Qualitäten, als auch kulturelle Bedeutung indizieren.[16]

Die Arbeit wird von Prof. Dr. Christian Kehrt an der TU Braunschwieg betreut.

 

[1] Jüngere Studien zum Forschungsfeld: Christian Kehrt, Moderne Krieger. Die Technikerfahrungen deutscher Militärpiloten 1910-1945, Ferdinand Schöningh, Paderborn 2010 (=Krieg in der Geschichte Bd. 58) oder Markus Pöhlmann, Die Panzer und die Mechanisierung des Krieges. Eine deutsche Geschichte 1890 bis 1945, Ferdinand Schöningh, Paderborn 2016.
[2] Hier wandelte sich nicht nur die überkommene Kriegführung, auch der öffentliche Diskurs erfuhr eine deutliche Veränderung. Der Stellungskrieg tritt somit als gesamtgesellschaftliche Zäsur vor Augen, vgl.: Anne Lipp, Meinungslenkung im Krieg. Kriegserfahrungen deutscher Soldaten und ihre Deutung 1914-1918, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2003, S. 150 ff.
[3] Jüngere Aufsätze zum Themenfeld „Materialität“: Simone Derix, Benno Gammerl, Christiane Reinecke, Nina Verheyen, Der Wert der Dinge. Zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Materialitäten, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, 13 (2016), S. 387-403; Martin Knoll, Nil sub sole novum oder neue Bodenhaftung? Der material tum und die Geschichtswissenschaft, in: Neue Politische Literatur, 59 (2014), S. 191-207; Gudrun König, Stacheldraht: Die Analyse materieller Kultur und das Prinzip der Dingbedeutsamkeit, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften, 15 (2004) H. 4, S. 50-72; Andreas Ludwig, Geschichte ohne Dinge? Materielle Kultur zwischen Beiläufigkeit und Quelle, in: Historische Anthropologie, 23 (2015), S. 431-445. Für einen aktuellen Überblick des Diskurses der Materialität des Kulturellen vgl: Karl Braun, Claus-Marco Dieterich, Angela Treiber (Hrsg.): Materialisierung von Kultur. Diskurse Dinge Praktiken, Königshausen & Neumann, Würzburg 2015.
[4] Dieser Ansatz folgt den gegenwärtigen Debatten des material turn. So postuliert Martin Knoll, dass Materialität und Historizität zusammengehören, alte Binaritäten ihren analytischen Sinn längst verloren haben und der Faktor Macht (ich möchte dies um den Faktor Mensch ergänzen) nicht sinnvoll ohne die Materialität zu denken ist. Vgl. Martin Knoll, Nil sub sole novum oder neue Bodenhaftung? Der material tum und die Geschichtswissenschaft, in: Neue Politische Literatur, 59 (2014), S. 204.
[5] Ahasver v. Brandt, Werkzeug des Historikers, 17. Aufl., Verlag W. Kohlhammer, Stuttgart 2007, S. 159.
[6] Ebd., S. 57. Die Technikgeschichte verwendet für Sachüberreste den Terminus technisches Artefakt, welcher auch hier aufgegriffen wurde.
[7] Anne-Katrin Ebert, Ran an die Objekte! Ein Plädoyer für das gemeinsame Erforschen und Sammeln von Objekten in den technischen Museen, in: Martina Heßler, Heike Weber (Hrsg.): Provokationen der Technikgeschichte. Zum Reflexionszwang historischer Forschung, Ferdinand Schöningh, Paderborn 2019, S. 229-258, S. 232.
[8] Eike-Christian Heine, Christian Zumbrägel, Technikgeschichte, in: Docupedia-Zeitgeschichte, Abrufbar unter: http://docupedia.de/zg/Heine_zumbraegel_technikgeschichte_v1_de_2018 (letzter Abruf: 23.12.2020), S. 2.
[9] Andreas Ludwig, Geschichte ohne Dinge? Materielle Kultur zwischen Beiläufigkeit und Quelle, S. 431.
[10] Haidy Geismar, Daniel Miller, Susanne Küchler, u.a.: Material Culture Studies, in: Stefanie Samida, Manfred K. H. Eggert, Hans Peter Hahn (Hrsg.): Handbuch Materielle Kultur, S. 309-315.
[11] Siehe Anm. 3, zur Akteur-Netzwerk-Theorie: Bruno Latour, Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie, Suhrkamp, Frankfurt a.M. 2007.
[12] Zum Beispiel Frankreich – Deutschland – England oder die USA – UdSSR.
[13] Die Modellhaftigkeit der schweizerischen Industrieentwicklung in letzter Zeit hervorgehoben worden, vgl. Joachim Radkau, Technik in Deutschland. Vom 18. Jahrhundert bis heute, Campus Verlag, Frankfurt am Main 2008, S. 55.
[14] Monika Dommann, Sibylle Marti, Kriegsmaterial im Kalten Krieg. Rüstungsgüter in der Schweiz zwischen Militär, Industrie, Politik und der Öffentlichkeit, Schwabe Verlag, Basel 2020 (ITNERA 47/2020), S. 10. Für den Themenkomplex grundlegende jüngere Studien: David Rieder, Rudolf Jaun (Hrsg.): Schweizer Rüstung. Politik, Beschaffungen und Industrie im 20. Jahrhundert, Hier & Jetzt, Baden 2013 (ARES, 01) oder Peter Hug, Schweizer Rüstungsindustrie und Kriegsmaterialhandel zur Zeit des Nationalsozialismus. Unternehmensstrategien – Marktentwicklung – politische Überwachung, Chronos Verlag, Zürich 2002 (Veröffentlichungen der UEK, Band 11).
[15] Hans Peter Hahn, Der Eigensinn der Dinge, in: Hans Peter Hahn (Hrsg.): Vom Eigensinn der Dinge. Für eine neue Perspektive auf die Welt des Materiellen, Neofelis, Berlin 2015, S. 9-56, S. 19.
[16] Gudrun König, Stacheldraht: Die Analyse materieller Kultur und das Prinzip der Dingbedeutsamkeit, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften, 15 (2004) H. 4, S. 50-72, S. 56.

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