Radikale Rechte in Bundeswehr und NVA (1955/56–1995)
Jakob Saß
Projektskizze
Veröffentlicht am: 
30. August 2021

Der Fall „Franco A.“, das „Hannibal“-Netzwerk und die Skandale beim KSK: Die aktuell debattierten rechtsradikalen Vorfälle bei der Bundeswehr sind nicht allein Teil gegenwärtiger Konjunkturen radikalnationalistischer Bewegungen. Sie verweisen vielmehr auf jahrzehntelange Aktivitäten der radikalen Rechten – nicht nur in der „alten Bundeswehr“, sondern auch in der NVA. Eine umfassende gesellschaftsgeschichtliche Aufarbeitung fehlt bislang. Das Dissertationsprojekt möchte diese Lücke schließen.

Thema und Fragestellung

Streitkräfte gelten als Orte der Hierarchie, Waffen, Uniformen, Kameradschaft sowie des Nationalismus und „Kämpfertums“ allgemein als attraktiv für Männer mit rechtsradikalen Einstellungen. Im deutschen Militär vor 1945 lassen sich demokratiefeindliche und autoritäre Traditionen von Preußen über die Reichswehr bis zur Wehrmacht zurückverfolgen. Nach dem Zweiten Weltkrieg erhoben beide deutsche Staaten den Anspruch, den preußisch-deutschen Militarismus mit einer völlig neuen Armee zu überwinden. Sowohl die Bundeswehr als auch die NVA griffen jedoch auf Personal, Traditionsbestände, Praktiken und Denkmuster der Wehrmacht zurück und schufen damit Spielräume für nachfolgende Generationen radikaler Rechter. Während ostdeutsche Soldaten trotz der massiven Überwachung hundertfach vor allem mit NS-Verherrlichung, Propagandadelikten wie dem Zeigen des „Hitlergrußes“ sowie antisowjetischen, antisemitischen und revanchistischen Äußerungen provozierten und ihre Distanz zum SED-Staat zeigten, gingen die Praktiken rechtsradikaler Akteure in der Bundeswehr weit darüber hinaus. Aktivitäten in rechtsradikalen Parteien wie der NPD, rassistisch motivierte Gewalttaten und rechtsterroristische Handlungen stellten das neue reformerische Bundeswehr-Leitbild vom mündigen, verfassungstreuen „Staatsbürger in Uniform“ immer wieder auf eine harte Probe – mit Kontinuitäten bis in die Gegenwart.

Wie die Bundesrepublik und die DDR mit diesen verschiedenen Praktiken in ihren Streitkräften umgingen und sich dabei gegenseitig beeinflussten, soll in dem Dissertationsprojekt vergleichend und zäsurübergreifend untersucht werden. Das Promotionsvorhaben folgt somit zwei zentralen Fragen:

Durch welche Äußerungen und Handlungen zeigten rechtsradikale Soldaten verschiedener Generationen während des Kalten Krieges und in der darauffolgenden Transformationszeit ihre Einstellungen?

Wie reagierten militärische und militärpolitische Verantwortliche einerseits intern auf rechtsradikale Vorfälle und Strukturen und – im Falle der Bundeswehr – andererseits extern auf Berichterstattungen, politische Debatten und Proteste?

Erkenntnisinteresse und wissenschaftliche Relevanz

Das Vorhaben ist ein Teil des von der VW-Stiftung finanzierten Projekts „Die radikale Rechte in Deutschland, 1945–2000“ am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam und Moses Mendelssohn Zentrum. Im Rahmen dieses Projekts geht die Studie der grundsätzlichen Frage nach, ob und inwieweit im öffentlichen Dienst eines demokratischen bzw. nach seinem Selbstverständnis antifaschistischen Staates rechtsradikales Agitieren und Denken toleriert oder als Bedrohung wahrgenommen wurde. Während bislang die radikale Rechte in der Bundesrepublik eher aus einer organisatorischen Binnenperspektive behandelt wurde, etwa ihre Parteien, stehen nun die Beziehungen zwischen Staat, Gesellschaft und Rechtsradikalen in alltäglichen Konstellationen im Mittelpunkt des Interesses. Nicht zuletzt waren die Streitkräfte immer wieder Ziel von Politik und Wahlkampagnen rechter Parteien wie der NPD, die sich wie heute die AfD als „Soldatenpartei“ zu profilieren versuchte. Zudem riefen rechtsradikale Gruppen wie die Wiking-Jugend und die Jungen Nationaldemokraten in der Bundesrepublik sowie die ostdeutsche Skinhead-Bewegung ihre Mitglieder dazu auf, sich mithilfe des Wehrdienstes im Umgang mit Waffen ausbilden zu lassen.

Einerseits soll also untersucht werden, welche Spielräume Bundeswehr und NVA für rechtsradikale Soldaten boten und somit zur Radikalisierung beitrugen. Welche Rolle spielte hierbei vor allem in der Bundeswehr ein Mentalitätstransfer zwischen der NS-sozialisierten „Erlebnisgeneration“ und den Nachkriegs-Generationen in den Kasernen und Bundeswehrhochschulen in Gestalt von Kriegerkult, Gewaltritualen, Antikommunismus usw.? Welchen Einfluss hatten gesellschaftliche Proteste mit der Skandalisierung von Vorfällen darauf, dass sich in der Bundeswehr langfristig Reformen durchsetzten und bestimmte Praktiken, z.B. Antisemitismus, Aktivitäten für die NPD, Traditionspflege mit NS-Bezügen usw., nicht mehr in der Truppe toleriert wurden. Andererseits soll das Militär auch aus der Perspektive der Integration betrachtet werden: Erfüllten die Streitkräfte trotz zahlreicher Vorfälle letztlich eine wichtige Integrationsfunktion, indem sie tausende Wehrmachtsoffiziere und später (radikale) Rechte der neuen Generationen in eine (demokratische) Struktur einbanden und somit in der Mehrheit kontrollierten, also deradikalisierten?

Methodik und Quellen

Methodisch werden diskursanalytische Zugänge sowie akteursorientierte, praxeologische und Ansätze einer „asymmetrisch verflochtenen Parallelgeschichte“ angewendet. Letztere bieten mehrere Untersuchungsmöglichkeiten, darunter die Wirkung von großangelegten DDR-Kampagnen zur Diskreditierung von NS-belasteten Bundeswehroffizieren, die beidseitige Instrumentalisierung von Fahnenfluchten der jeweils anderen Seite oder gemeinsam begangene Gewaltverbrechen von Soldaten aus Ost und West während der rassistischen Gewaltwellen Anfang der 1990er Jahre. Zudem scheint es, so eine weitere Hypothese, zu grenzübergreifenden Nachahmungstaten gekommen zu sein: Als z.B. im Herbst 1977 die DDR-Presse westdeutsche Berichte über eine „symbolische Judenverbrennung“ an der Bundeswehrhochschule München wiedergab, berichtete die Stasi wenig später über ein Delikt mit exakt demselben Wortlaut in einem NVA-Pionierbataillon. Zu prüfen bleibt, ob sich der Ansatz der NVA-Forschung, rechtsradikale Handlungen als Formen widerständigen Verhaltens zu interpretieren, auch auf die Bundeswehr übertragen ließe, etwa im Hinblick auf gesellschaftliche Liberalisierungstendenzen oder die Neue Ostpolitik. Hauptquellen sind interne staatliche Akten, darunter insbesondere die Bestände des Bundesarchivs, Abt. Militärarchiv in Freiburg, aber auch Quellen in Landesarchiven in Form von Justizakten, in der Stasi-Unterlagen-Behörde, Nachlässe im Institut für Zeitgeschichte und Parteiarchiven sowie die Sammlung im Berliner „antifaschistischen Pressearchiv und Bildungszentrum e.V.“ (apabiz). Daneben werden öffentliche Berichte, rechtsradikale, linke und Publikationen der Bundeswehr, Ego-Dokumente sowie Gespräche mit Zeitzeug*innen ausgewertet.

 

Zitierempfehlung: Jakob Saß, Rechte Soldaten. Radikale Rechte in Bundeswehr und NVA (1955/56–1995), in: Portal Militärgeschichte, 30. August 2021, URL: https://portal-militaergeschichte.de/saß_rechte (Bitte fügen Sie in Klammern das Datum des letzten Aufrufs dieser Seite hinzu).

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