Zum Problem von Staatlichkeit, Demokratie und Streitkräften in der westdeutschen Zeitgeschichte
Christoph Nübel
Projektskizze
Veröffentlicht am: 
11. Januar 2023

Das Bonner Verteidigungsministerium war während des „Kalten Krieges“ ein bundespolitisches Schlüsselressort. Es führte und verwaltete die Bundeswehr. Damit bildete es den Kristallisationspunkt des militärischen Teils demokratisch konzipierter Staatsgewalt, der allerdings im Schatten der nationalsozialistischen Vergangenheit stand. Das Forschungsprojekt nimmt die Geschichte des Ministeriums in der Epoche des Ost-West-Konflikts erstmals in den Blick.

Das Bundesministerium der Verteidigung (BMVg) bildete in mehrfacher Hinsicht ein Sonderfall unter den Bonner Ministerien. Mit seiner Gründung am 7. Juni 1955 war es das letzte der sogenannten „klassischen Ressorts“, das in der Bundesrepublik wiedererstand. Es entwickelte nicht nur sicherheits- und militärpolitische Konzeptionen, sondern führte und verwaltete die Streitkräfte. Damit verfügte es über ein bemerkenswert großes Aufgabenportfolio und ragte nicht nur hinsichtlich seines personellen Umfangs unter den übrigen Ministerien heraus. Auch die Verzweigungen seiner Organisationsstruktur waren deutlich ausgeprägter als in anderen Häusern: Während das BMVg um 1970 in 48 Unterabteilungen gegliedert war, kam das politisch ebenfalls zentrale Bundesministerium des Innern auf elf. Das BMVg galt als Mammutministerium, dessen mangelnde Effizienz und Funktionalität immer wieder kritisiert wurden und werden. Eine weitere Besonderheit lag darin, dass im BMVg ziviles und militärisches Personal Dienst tat. Mit den militärischen Führungsstäben gab es im Haus sogar Abteilungen, die nach Stabsprinzipien arbeiteten. Zudem handelte es sich um ein Ministerium, das in besonders hohem Maße in die internationale Politik eingebettet war. Da das Militärische in der Bundesrepublik vor allem durch den Nationalsozialismus und die Niederlage im verbrecherischen Zweiten Weltkrieg ein legitimatorisches Defizit besaß, musste sich das Ministerium überdies in besonderem Maße zur deutschen Geschichte positionieren.

Diese Merkmale und historischen Bedingungsfaktoren erklären, weshalb das BMVg immer wieder im Brennpunkt politischer Debatten stand. Neben der allgemeinen Frage, wie Regieren in einer zunehmend pluralistischen und politisierten Gesellschaft möglich war, verkörperte es das Problem der Integration des Militärs in die demokratische Staatlichkeit und damit den Kern des „Primats der Politik“. Die Konjunkturen deutscher Vergangenheitsdiskurse hatten erhebliche Auswirkungen auf Ministerium und Truppe, die somit zwar immer wieder umstritten, für die Souveränität der Bundesrepublik aber unentbehrlich waren.

Bereits den Zeitgenossen war klar, welche überragende Bedeutung die Organisation des BMVg für das westdeutsche Staatsgefüge hatte. Aus diesem Grund wurde sie auch nicht von Experten ministeriumsintern festgelegt, sondern in einer breiten Debatte, an der sich Bundestag, Bundesregierung und andere Akteure aus der Gesellschaft maßgeblich beteiligten. Ihre Grundlagen schufen letztlich allerdings die Alliierten. Mehr als jeder andere Politikbereich stand die Verteidigung unter besonderer nationaler und internationaler Beobachtung, weil sie in hohem Maße mit dem Nationalsozialismus verbunden wurde. Das Militär galt vielen Politikern als potenzieller Hort der Restauration konservativer oder sogar nationalsozialistischer Zustände, weshalb das Unwort vom „Staat im Staate“ auch nach der Gründungsphase der Bundeswehr immer wieder die Runde machte. Mochten die Militärplaner sich auch 1950 in der berühmten „Himmeroder Denkschrift“ ins Pflichtenheft schreiben, sie wollten „ohne Anlehnung an die Formen der alten Wehrmacht heute grundlegend Neues schaffen“, blieb Skepsis. Generalfeldmarschall Erich von Manstein, der aus der Haft eifrig mit den Gründern der späteren Bundeswehr korrespondierte, sollte zumindest in diesem Punkt recht behalten, wenn er 1950 schrieb: „Jede deutsche Truppe wird letzten Endes doch irgendwie mit der Vergangenheit verknüpft sein.“ Die Vergangenheit hat die Bundeswehr letztlich bis heute nicht losgelassen.

Kurz nach seiner verspäteten Gründung galt das BMVg als das wichtigste Ressort in der Bonner Politiklandschaft. Die CIA erkannte 1957 im kurz zuvor gegründeten Verteidigungsministerium „the largest and strongest Ministry“, das dem Minister als Sprungbrett für eine politische Karriere dienen würde. Karrieren hat es mit der Ausnahme Schmidts und vielleicht Manfred Wörners eher zerstört als beflügelt, und zum stärksten Bundesministerium ist es auch nicht geworden. Es ist bereits diese Fallhöhe, die das BMVg zu einem gewichtigen historischen Untersuchungsgegenstand macht: Offenbar waren die Bedeutung der Verteidigungspolitik ebenso wie die Durchsetzungsfähigkeit der Minister Schwankungen unterworfen. Aber auch auf übergeordneter, historiographischer Ebene zeigt sich die Relevanz einer Geschichte des BMVg: Die Organisation des Ministeriums ermöglicht es, den Ort des Militärischen in der Bundesrepublik zu bestimmen. Arbeiten zur Militärgeschichte der Bundesrepublik haben diesen bisher stark von der Bundeswehr her in den Blick genommen und damit die politische und militärische Leitung im BMVg kaum beachtet.

Hier setzt die Studie an, die ich am Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr Potsdam unter dem Titel „Staatlichkeit, Demokratie und Streitkräfte. Organisation und Politik des Bundesministeriums der Verteidigung, 1950-1990“ verfasse. Eine zweite Studie über die „Kriegserfahrungen der frühen Heeresgeneralität der Bundeswehr“ erarbeitet Peter Lieb. Beide sind Teil des Projektverbundes „Staatsgewalt und Streitkräfte. Personal, Organisation und Politik des BMVg“.

Inhaltlich schließt das Projekt an die Forschungen zur Geschichte der obersten Bundes- und Landesbehörden an, erweitert sie jedoch in zweifacher Hinsicht: Erstens zeitlich, indem auch die 1970er und 1980er Jahre untersucht genommen werden; zweitens thematisch, indem nicht allein nach NS-Kontinuitäten gefragt wird, sondern nach den Bedingungen und Möglichkeiten des Regierens im demokratischen Staat.

Die Geschichte des BMVg ist ein Desiderat und zugleich ein relevanter Untersuchungsgegenstand, weil sich hieran zentrale Probleme der deutschen und europäischen Zeitgeschichte im Allgemeinen und der Militärgeschichte im Besonderen diskutieren lassen. Dazu zählen insbesondere Staatlichkeit und Demokratie, Vergangenheitsbezüge und die internationale Dimension westdeutscher Geschichte. Sie stehen im Zentrum des Forschungsprojektes und bilden die vier erkenntnisleitenden Untersuchungsdimensionen. Auf diese Weise lässt sich die Frage diskutieren, wie das Verteidigungsministerium und seine Vorläufer im demokratischen Staat zwischen 1950 und 1990 konzipiert, institutionalisiert, problematisiert und fortentwickelt wurden.

 

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut durch Christian Th. Müller.

 

Zitierempfehlung: Christoph Nübel, Das Bundesministerium der Verteidigung im „Kalten Krieg“. Zum Problem von Staatlichkeit, Demokratie und Streitkräften in der westdeutschen Zeitgeschichte, in: Portal Militärgeschichte, 16. Januar 2023, URL: https://portal-militaergeschichte.de/nuebel_bundesverteidigungsministerium, (Bitte fügen Sie in Klammern das Datum des letzten Aufrufs dieser Seite hinzu).

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