Reden und Predigten eines Wehrmachtpfarrers aus sowjetischer Gefangenschaft 1943–1945
Victor Marnetté
Buchbesprechung
Veröffentlicht am: 
14. März 2022

Am 14. April 1944 hielt der Kieler Wehrmachtpfarrer Johannes Schröder im sowjetischen Lager Lunjowo eine Lesung zum Thema „Lebensfreude“, in der es an einer Stelle heißt: „Meine Hörer! Ich bin evangelischer Pfarrer und Christ. Ich weiß, dass es Schätze gibt, die nicht von Motten und Rost, auch nicht von Bomben und Feuer[s]brünsten gefressen werden können, innere Werte, die nicht mit dem äußeren Lebensglück stehen und fallen.“ (158) Das Gewissen, verknüpft mit Gottesfurcht, Nächstenliebe und dem Willen zur Tat – bis hin zum „Tyrannenmord“ –, war für Schröder solch ein innerer Wert, der nicht vergehen konnte. Seine Ansprachen und Predigten legen hiervon Zeugnis ab.

Die militärische Laufbahn von Johannes Karl Georg Hermann Schröder (1909–1990) begann am 24. Dezember 1938, als er in Neumünster zum kommissarischen Wehrmachtpfarrer ernannt wurde. Am 9. Oktober 1940 wurde Schröder zur 8. Infanteriedivision versetzt, mit der er am Frankreichfeldzug teilnahm. Am 1. Mai 1942 kam er zur 371. Infanteriedivision, nahm mit ihr an der Schlacht von Stalingrad teil und ging mit deren Resten Ende Januar 1943 in sowjetische Gefangenschaft.1 Im Sommer desselben Jahres schloss sich Schröder dem gerade erst gegründeten Nationalkomitee Freies Deutschland (NKFD) an.2

Seine erste Radioansprache, ein „Aufruf an die deutsche evangelische Kirche“ (81–83), hielt er am 28. August 1943. Die erste Predigt folgte eine Woche später, die letzte mit einem eindeutigen Datum stammt vom 26. August 1945. Schröder bediente sich einer stark religiös konnotierten Sprache und nutzte eine bildgewaltige, kraftvolle, intellektuelle, leidenschaftliche Rhetorik (exemplarisch: 92, 240). Er verstärkte diese noch durch die Wiederholung bestimmter Formulierungen, beispielsweise „Hitler muss fallen, damit Deutschland lebe!“ (90, 125). Hitler taucht praktisch in fast allen abgedruckten Rundfunksendungen auf. Das überrascht nicht, schließlich sei Hitler ein „dämonisch[er]“ (82), „wahnsinnig geworden[er]“ (109) „Nero“ (127), „Totengräber“ (128), „Teufel“ (168) und „Verführer“ (311) gewesen. Nach Schröders Auffassung waren er, Heinrich Himmler und Joseph Goebbels ein „erbärmliches Gesindel jämmerlicher Feiglinge und verabscheuungswürdiger Vaterlandsverräter“ (278) und die personifizierten Hauptverantwortlichen des Krieges sowie des Leids des deutschen Volkes und der anderen Völker.

Hier muss ein erster Kritikpunkt angeführt werden: Die Herausgeber versäumen es, an den oben genannten Stellen und auch in weiteren Fällen, eine quellenkritische Kontextualisierung vorzunehmen und die Leserschaft mit Forschungsliteratur zu versorgen. Zum Beispiel hätten sie bei der Beschreibung des Diktators als Korrektiv respektive Ergänzung zumindest die neueren Hitlerbiografien anführen können.3 Des Weiteren fehlt beispielsweise der Hinweis auf den zeitgenössischen und Nachkriegsdiskurs, der Menschen wie Schröder als eben solche Verräter brandmarkte und diffamierte. Einzig in der Einleitung und in einer der drei Abhandlungen wird kurz auf den Vorwurf der „Nestbeschmutzung“ eingegangen (355), allerdings erfolgt auch dort keine gründliche Einbettung in den aktuellen Forschungsstand.

Weitere zentrale Themenbereiche waren das deutsche Volk, insbesondere die „deutsche Frau“, an die Schröder gleich fünf Ansprachen richtete (Nr. 6, 23, 28, 45, 68), sowie die deutschen Soldaten. Der Pfarrer war sich nämlich nur zu gut des moralischen Dilemmas bewusst, in dem sich die Soldaten befanden: Einerseits ließen der auf Adolf Hitler geleistete Eid und die Pflicht gegenüber ihren Kameraden die Soldaten weiterkämpfen. Andererseits gefährdete eine Fortsetzung des Krieges das Leib und Wohl ihrer Familien in der Heimat.4 Jedes Weiterkämpfen „bis zur letzten Patrone“, so Schröder, sei nämlich nichts anderes als „organisierte[r] Selbstmord“ und „organisierte Fahnenflucht gegenüber dem Deutschland von morgen, gegenüber der Zukunft Eurer Kinder!“ (131) Gelegentlich ließ Schröder auch seine eigenen Stalingraderlebnisse einfließen (exemplarisch: 127, 205, 242f.). Eine militärgeschichtliche Kontextualisierung und Analyse der Ansprachen und Predigten im Allgemeinen sowie von Schröders persönlichen Erfahrungen findet im Hauptteil so gut wie nicht statt. Dabei liefern seine Texte teils vorzügliche Anknüpfungspunkte für diverse Forschungsfragen, übrigens nicht nur für die Militärgeschichte, sondern auch für die Alltags-, Mentalitäts-, Kultur- oder Geschlechtergeschichte.

Der passende Untertitel der Edition lautet „Aufruf zum Widerstand“. Angesichts des großen Leids der deutschen Bevölkerung und der nationalsozialistischen Verbrechen (wohlgemerkt in dieser Reihenfolge) rief Schröder alle Deutschen zum aktiven Widerstand und zum „Tyrannenmord“ auf. Er legitimierte die Aufrufe auch mit der Verantwortung des gesamten deutschen Volkes, welche in der Mittäterschaft am Ausbruch des Krieges, der Kriegführung und den Gewaltverbrechen lag. In kaum einer Predigt wurde das so deutlich wie in Schröders „Bilanz des Krieges“ vom 27. März 1945 (267ff.) und seiner Ansprache „An die Christen“ (281ff.) vom 10. Mai 1945. In letzterer heißt es unter anderem: „[Die] Ehre unseres Volkes ist befleckt durch eine ungeheure Schuld: die Vermessenheit einer unersättlichen Machtpolitik, die Brandruinen planmäßig vernichteter blühender Landstriche, die Asche der in Himmlers Todeslagern grausam Gemordeten, sie klagen uns an!“ (282). In den Monaten davor und verstärkt in den letzten Kriegstagen hatte Schröder bereits seine Hörerschaft über die Euthanasie und den Massenmord in den Konzentrationslagern (225, 287f.), aber auch über die sogenannten Fliegermorde (180) und „Fliegenden Feldgerichte“ (261) unterrichtet.5 Schröder war bestens informiert. Woher er überall sein umfassendes Wissen über das Kriegsgeschehen, die Verbrechen und dergleichen in Kriegsgefangenschaft bezog, bleibt in der Edition jedoch weitgehend unklar.

In dem Geleitwort des emeritierten Landesbischofs Gerhard Ulrich heißt es: „Indem die Herausgeberinnen und Herausgeber die Lebensgeschichte dieses Mannes dokumentieren und sich umfänglicher Erklärungen und Deutungen enthalten, bleibt Johannes Schröder Subjekt seiner Geschichte […]“ (8). Die Lektüre erweckt den Eindruck, dass diese Zurückhaltung beherzigt wurde. Das stellt jedoch das größte Monitum dar. Zeitgemäße Editionen mit wissenschaftlichem Anspruch sollten nicht mehr einfach nur „die Quellen sprechen lassen“, sondern sie kritisch begleiten und dem Leser weiterführende Informationen liefern. Negativ fällt auch der bisweilen nicht kommentierte und belegte oder gar zu unkritische Umgang mit Johannes Schröder, seinem Lebensweg und seinen Äußerungen auf (vgl. etwa 9, 42, 255). Noch problematischer wird es bei dessen verzerrten Sichtweisen, die ebenso unkommentiert bleiben. Zwei Stellen stehen hierfür pars pro toto. Zum einen Schröders Äußerungen zum Bombenkrieg (109), wodurch eine gewisse – sicherlich jedoch nicht intendierte – Apologetik entsteht. Zum anderen seine pro-sowjetische Propaganda über das dortige Kriegsgefangenenregime (exemplarisch: 255) und das Verhalten der Roten Armee gegenüber der (ost)deutschen Bevölkerung gegen Kriegsende, die den historischen Tatsachen oftmals diametral gegenüberstanden. Hinzu kommen kleinere Sachfehler (vgl. 168), einfach zu schließende Lücken (vgl. 40, Anm. 53) und eine inkonsequente Erläuterung zeitgenössischer und militärischer Begriffe. Zu guter Letzt hätten ein Literaturverzeichnis sowie ein umfangreiches Orts- und Sachregister – und nicht nur ein Personenregister – der Edition gutgetan.

Insgesamt hinterlässt die Edition beim Rezensenten ein gemischtes Gefühl. Zwar ist es verdienstvoll, dass dieser interessante und aufschlussreiche Quellenkorpus einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde. Die genannten Kritikpunkte stören jedoch den Gesamteindruck. Nichtsdestotrotz wäre es wünschenswert, wenn auch Johannes Schröders Privatkorrespondenz, hauptsächlich die Briefe an die Ehefrau, seine Dienstkorrespondenz vor und während des Krieges sowie die schriftlichen Anfragen ab 1946, immerhin sechs Bände im Nachlass – der übrigens auch nicht ausführlicher vorgestellt wird – (55), wissenschaftlich aufbereitet und publiziert werden würden.6

Johannes Schröder, Waches Gewissen – Aufruf zum Widerstand. Reden und Predigten eines Wehrmachtpfarrers aus sowjetischer Gefangenschaft 1943–1945, Göttingen: Wallstein Verlag 2021, 400 Seiten, 15 Abbildungen, gebunden, ISBN 978-3-8353-5024-3, 29,90 €.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut durch Lisa-Marie Freitag.

 

Zitierempfehlung: Victor Marnetté, Waches Gewissen – Aufruf zum Widerstand. Reden und Predigten eines Wehrmachtpfarrers aus sowjetischer Gefangenschaft 1943–1945, in: Portal Militärgeschichte, 14. März 2022, URL: https://portal-militaergeschichte.de/marnette_zu_schroeder_gewissen (Bitte fügen Sie in Klammern das Datum des letzten Aufrufs dieser Seite hinzu).

  • 1. Zu den Wehrmachtpfarrern siehe das mittlerweile zum Standardwerk avancierte Buch von Dagmar Pöpping, Kriegspfarrer an der Ostfront. Evangelische und katholische Wehrmachtseelsorge im Vernichtungskrieg 1941–1945 (Arbeiten zur Kirchlichen Zeitgeschichte 66), Göttingen 2017.
  • 2. Zum NKFD siehe u. a. Gerd R. Ueberschär (Hg.), Das Nationalkomitee „Freies Deutschland“ und der Bund Deutscher Offiziere, Frankfurt a. M. 1996.
  • 3. Siehe unter anderem die Hitlerbiografien von Brendan Simms, Volker Ullrich, Peter Longerich und Wolfram Pyta, die sämtlich zwischen 2013 und 2018 erschienen sind.
  • 4. Sven Lange, Der Fahneneid. Die Geschichte der Schwurverpflichtung im deutschen Militär (Schriftenreihe des Wissenschaftlichen Forums für Internationale Sicherheit 19), Bremen 2002.
  • 5. Georg Hoffmann, Fliegerlynchjustiz. Gewalt gegen abgeschossene alliierte Flugzeugbesatzungen 1943–1945 (Krieg in der Geschichte 88), Paderborn 2015; Peter Lutz Kalmbach, Fliegende Standgerichte – Entstehung und Wirkung eines Instruments der nationalsozialistischen Militärjustiz, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 69/2 (2021), 211–239. Ders., Das System der NS-Sondergerichtsbarkeiten, in: Kritische Justiz 50/2 (2017), 226–235, sowie ders., Wehrmachtjustiz, Berlin 2012.
  • 6. Dass die Feldpost an Geistliche ein ergiebiger Forschungsgegenstand ist, belegt – in diesem Fall allerdings für den Ersten Weltkrieg – unter anderem der Sammelband Eva Schöck-Quinteros (Hg.), „Wie glücklich müssen wir sein, den Krieg nicht im Lande zu haben!“ Feldpost an Pastor Ernst Baars in Vegesack (1914–1918) (Aus den Akten auf die Bühne 7), Bremen 2014.
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