Die 2023 erschienene Monographie bietet eine historische Einordnung des Russisch-Ukrainischen Krieges seit 2014, skizziert den Verlauf des ersten Kriegsjahres nach Beginn des russischen Überfalls auf die Ukraine 2022 sowie dessen Auswirkungen und wagt einen Blick auf die zukünftigen Entwicklungen internationaler Machtverhältnisse.
Mit dem russischen Überfall auf die Ukraine am 24. Februar 2022 eskalierte Wladimir Putin den seit 2014 herrschenden Russisch-Ukrainischen Krieg auf ungeahnter Art und Weise. Ein symmetrischer Frontenkrieg, ausgefochten durch Streitkräfte zweier Nationen mit sämtlichen ihnen zur Verfügung stehenden konventionellen Waffensystemen zu Land, zu Wasser sowie in der Luft und jeweils hunderttausenden Soldaten, scheint aus der Zeit zu fallen.
Mit „Der Angriff. Russlands Krieg gegen die Ukraine und seine Folgen für die Welt“ unternimmt der Historiker Serhii Plokhy den Versuch, den russischen Angriffskrieg in einen historischen und geopolitischen Kontext zu stellen. Die Analyse konzentriert sich sowohl auf die historischen Ursprünge als auch die möglichen Folgen des Russisch-Ukrainischen Krieges seit 2014, der mit dem russischen Überfall 2022 einen Kulminationspunkt erreichte. Ein Blick auf die Lagekarte der ersten Seiten verrät, dass die Monographie zwischen März und Dezember 2022 entstand und daher in Bezug auf die Deutung des Kriegsverlaufs selbst nur eine Momentaufnahme ist, welche nachfolgende Entwicklungen nicht berücksichtigen kann. Plokhy gliedert das Buch in zwei Teile. Während der erste einen Blick auf die Vergangenheit legt, fokussiert sich der zweite Teil auf die gegenwärtigen Ereignisse und potenzielle Entwicklungen internationaler Machtverhältnisse.
Die ersten sechs Kapitel rekapitulieren die Beziehungsgeschichte zwischen der Ukraine und Russland seit dem Zerfall der Sowjetunion und die innenpolitischen Entwicklungen beider Länder, die sich seit den 2000er Jahren mehr und mehr unterschieden. Während die Ukraine mit Unterbrechungen zunehmend eine nach Westen ausgerichtete Politik verfolgte, fiel Russland trotz anfänglichen Bemühungen zurück in ein autoritäres System, dass sich verstärkt einer imperialen Außenpolitik verschrieb. Anhand der nicht zuletzt durch Russland verhinderten Staatsgründungsversuche der Ukraine nach Ende des Ersten Weltkriegs zeigt Plokhy deutliche Parallelen auf, welche die ukrainisch-russische Geschichte kennzeichnen und den ersten Teil seiner Hauptthese stützen: Der aktuelle Krieg sei ein altmodischer imperialer Krieg Russlands, geführt von russischen Eliten, die sich als Erben und Bewahrer des russischen Großreiches – des Zarenreiches und der Sowjetunion – verstehen. Aus ukrainischer Perspektive sei der Krieg in allerster Linie ein Unabhängigkeitskrieg, ein erneuter Versuch sich als Nation zu etablieren und sich möglicherweise endgültig der russischen Kleptokratie zu entziehen. Die Lektüre macht außerdem deutlich: die Ukraine spielte und spielt durch ihre Geschichte, Größe, Wirtschaftskraft und gesellschaftlichen sowie kulturellen Verflechtungen aus Sicht russischer Nationalisten eine elementare Rolle für die Rückgewinnung des russischen Großmachtstatus. Eine Rolle, die sich bis in die Zeiten der Kyjiwer Rus‘ - eine mittelalterliche Föderation, welche große Teile des heutigen Russlands, Belarus und der Ukraine umfasste und bis heute eine große Rolle für die historische Identität jener Nationen spielt - zurückverfolgen lässt.1
Als weiteren Grund für den Krieg führt Plokhy das ukrainische Sicherheitsdilemma an. Die Ukraine, die nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion zur drittgrößten Nuklearmacht der Welt geworden war, musste sich zur Absicherung ihrer Souveränität zwischen nuklearer Abschreckung oder einer Integration in euro-atlantische Sicherheitsstrukturen entscheiden. Das Land gab sein nukleares Arsenal auf, wurde jedoch auch in den Jahren nach dem Budapester Memorandum kein NATO-Mitglied. Es verfügte lediglich über lose Sicherheitsgarantien für seine territoriale Integrität, auch von Russland, für deren Durchsetzung es keine wirkungsvollen Mechanismen gab.
Der zweite Teil des Buches nimmt die jüngsten politischen als auch militärgeschichtlichen Entwicklungen seit 2022 in den Blick. Plokhy formuliert hier Argumente für den zweiten Teil seiner Hauptthese: Die Eskalation und der aus russischer Sicht ungünstige Kriegsverlauf verhindert die von Russland angestrebten Pläne einer multipolaren Weltordnung. Vielmehr steuere die Welt auf eine bipolare Weltordnung zwischen dem Westen und China zu, in der der Platz und die Position Russlands ungewiss sein wird. Kapitel sieben bis elf skizzieren den Verlauf des Krieges bis Winter 2022, den Plokhy in drei Teile gliedert – den Initialangriff auf Kyjiw, die Schlacht um den Donbas und die ukrainischen Gegenoffensiven. Die in Teilen deskriptiv gehaltene Skizzierung des Kriegsverlaufs bietet an vielen Stellen auch investigative Ansätze, die sich auf journalistische Quellen stützen. Am Beispiel des Verrats von Mitgliedern des Sicherheitsdienstes der Ukraine (SBU), die Lagekarten ukrainischer Minenfelder im Süden an die russische Armee übergaben, bietet Plokhy Erklärungsansätze für bisher wenig ausgeleuchtete Fragen – in diesem Falle den schnellen russischen Vormarsch im Süden der Ukraine.
Die beiden letzten Kapitel befassen sich mit den unterschiedlichen Charakteristiken der Unterstützung des Westens bzw. der NATO-Mitglieder. Deutschland, Frankeich und Italien seien zu Beginn des Krieges zögerlich gewesen und verfolgten noch bis Juni 2022 eine Politik der begrenzten Unterstützung. Der Hauptfokus lag auf der Vermittlung, die einen Frieden ermöglichen sollte. Die Ereignisse in Butscha und die Erkenntnis durch den Abwehrerfolg bei Kyjiw, dass die Chancen der Ukraine auf Souveränität auf dem Schlachtfeld höher seien als am Verhandlungstisch, führten zu einer Abkehr dieses Denkens. Großbritanniens Vorreiterrolle führt Plokhy auf die Absicht zurück, sich nach dem Brexit wieder als Führungsmacht in Europa zu etablieren. Die Türkei versuche mit ihrer Rolle als Vermittler einen Spagat zu halten und ihren Einfluss im muslimischen Nahen Osten und postsowjetischen Raum auszubauen. Der Autor bezeichnet die Türkei als „neutral“2 – eine zweifelhafte Kategorisierung, beachtet man die gelieferte Menge an Drohnen, MRAP-Fahrzeugen, Raketenartillerie, Munition und neuerdings auch Korvetten an die Ukraine.3 Offenkundig wird die methodische Problematik, die dem zweiten Teil anhaftet: Interpretationen, Thesen oder gar Prognosen aus der Analyse eines laufenden Konflikt zu ziehen ist schwierig. Krieg ist hochdynamisch und die ihn bestimmenden Ereignisse sowie die daraus entstehenden Entwicklungen sind unvorhersehbar. Die Zunahme türkischer Waffenlieferungen nach Veröffentlichung des Buches verdeutlichen dies. Eine Reflektion dieser methodischen Schwierigkeit wäre wünschenswert gewesen, auch um die Erwartungen einer Prognose, die sich aus dem Untertitel des Buches ableiten kann, abzuschwächen.
Das Buch schließt mit einem Blick auf Asien. Der russische Angriffskrieg brachte Russland erneut in den Hauptfokus der USA, die sich zunehmend nach Asien, vor allem gegen China wandten. China könnte indes zum größten Nutznießer des Krieges werden, da es einer der wenig verbliebenen Absatzmärkte für russisches Gas ist und hierdurch die Möglichkeit hat, die Preise zu drücken. Zudem muss Russland sich den chinesischen Forderungen unterwerfen, Rüstungslieferungen an Chinas Regionalrivalen, Indien, zu reduzieren. Plokhys Analyse zeigt: Russlands Position in Asien wurde durch den Verlauf des Krieges beeinträchtigt und die Abhängigkeit von China wächst. „Der Angriff“ liefert trotz der angesprochenen methodischen Schwierigkeiten eine umfangreiche geschichtliche und geopolitische Einordnung des Russisch-Ukrainischen Konfliktes die auch weit in die Vergangenheit zu blickt und das Bild einer sich wiederholenden Geschichte zeichnet. Plokhys Prognose einer bipolaren Welt ist, sollte Russland seine Kriegsziele nicht erreichen, was Stand Juli 2023 unwahrscheinlich, jedoch nicht unmöglich ist4, plausibel.
„Der Angriff“ ist eine gelungene Analyse des russisch-ukrainischen Krieges seit 2014 und des ersten Kriegsjahres 2022. Die ihr anhaftende Natur einer Momentaufnahme jedoch machen Plokhys Aussichten fragil und sie laufen Gefahr, mit jedem Kriegstag überholt zu werden.
Serhii Plokhy, Der Angriff. Russlands Krieg gegen die Ukraine und seine Folgen für die Welt, Hoffmann und Campe, Hamburg 2023,496 S., ISBN – 978-3-455-01588-1, 26,00 €.
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut durch Lisa Marie Freitag.
Zitierempfehlung: Leonard Kleiber, Rezension zu: Serhii Plokhy, Der Angriff. Russlands Krieg gegen die Ukraine und seine Folgen für die Welt, in: Portal Militärgeschichte, 23. Oktober 2023, DOI: https://doi.org/10.15500/akm.23.10.2023 (Bitte fügen Sie in Klammern das Datum des letzten Aufrufs dieser Seite hinzu).
- 1. Serhii Plokhy: Der Angriff. Russlands Krieg gegen die Ukraine und seine Folgen für die Welt. Hamburg 2023. S. 30–36.
- 2. Serhii Plokhy: Der Angriff. Russlands Krieg gegen die Ukraine und seine Folgen für die Welt. Hamburg 2023. S. 376.
- 3. Stijn Mitzer, Joost Oliemans: The Stalwart Ally: Türkiyes Arms Deliveries To Ukraine. The Stalwart Ally: Türkiye’s Arms Deliveries To Ukraine - Oryx (oryxspioenkop.com), aufgerufen am 14. Juli 2023.
- 4. Auch hier ergibt sich erneut die methodische Problematik. Russlands Kampf mit konventionellen Waffen hält an und die russischen Reserven an Menschen und Material sind groß. Aktuelle Tendenzen können sich über Monate oder auch Jahre ändern und ins Gegenteil umschlagen.