V. Teil: Krieg in der Ukraine – Zur historischen Einordnung der russischen Kriegsverbrechen
Gundula Gahlen
Interview
Veröffentlicht am: 
29. April 2022

Die brutalen Bilder aus Butscha und anderen Orten der Ukraine sorgen weltweit für Entsetzen. Viel ist in den letzten Wochen davon die Rede, dass die russischen Kriegsgräuel in der Ukraine geahndet werden müssen. Doch wie lassen sich die Kriegsverbrechen juristisch und historisch einordnen? Und wo liegen auch heute noch die Grenzen der Durchsetzbarkeit des Kriegsrechts? Im fünften Teil der Themenreihe „Krieg in der Ukraine“ gibt hierüber der Historiker PD Dr. Daniel Marc Segesser von der Universität Bern Auskunft. 2010 erschien seine Habilitationsschrift „Recht statt Rache oder Rache durch Recht? Die Ahndung von Kriegsverbrechen in der internationalen fachwissenschaftlichen Debatte 1872–1945“.1 Seitdem untersuchte er in vielen weiteren geschichtswissenschaftlichen Beiträgen das Spannungsverhältnis von Kriegsverbrechen und humanitärem Völkerrecht.

 

Der Krieg in der Ukraine erscheint immer brutaler. Artillerie und Raketen dienen nicht mehr ausschließlich dazu, militärische Objekte zu treffen. Aus der Ukraine erreichen uns seit Wochen Bilder von Gräueltaten an der Zivilbevölkerung. Sehen wir eine gezielte russische Taktik?

In oder zwischen Kriegen die Frage der Brutalität zu vergleichen ist immer schwierig, weil sich die Frage der Vergleichsparameter stellt, also die Frage nach dem „brutaler als was“. Krieg ist per se eine brutale Angelegenheit, weil Menschen ungewollt zu Tode kommen und mindestens eine Seite – meistens die angegriffene – das Vorgehen der Gegenseite als ungerecht wahrnimmt. Kriegsparteien stehen daher immer unter einem großen Rechtfertigungsdruck, einerseits von Seiten einer nationalen und internationalen Öffentlichkeit, andererseits aber mit Blick auf die Ziele, welche sie durch den Einsatz militärischer Gewalt erreichen wollen.

Für diejenige Seite, die angegriffen wird, und die, wie im Fall der Ukraine, nicht über das gleiche militärische Potential verfügt wie der Angreifer, sind Bilder von Gräueltaten auch ein wichtiges Instrument zur Rechtfertigung des eigenen Ausharrens und zur Mobilisierung eigener wie fremder Ressourcen, denn Bilder vermögen uns viel stärker emotional zu berühren als Texte. Wie Gerhard Paul kürzlich sagte, sollten wir deshalb nicht glauben, dass uns die Bilder aus dem Kriegsgebiet ein umfassendes Bild der Lage zu vermitteln vermögen. Sie nehmen vielmehr immer eine bestimmte Perspektive ein.2 Deutlich wird daraus aber auch, dass Krieg ein brutales Handwerk ist, auf das Menschen in verantwortlichen Positionen – ob zivil oder militärisch – wenn immer möglich verzichten sollten. Der Krieg an sich ist eine Gräueltat und damit das eigentliche Verbrechen.

Was die Frage einer gezielten russischen Taktik betrifft, so gibt es heute kaum mehr Kriege, in welchen Zivilisten verschont bleiben. Der Grad, zu welchem die Zivilbevölkerung unter Krieg leidet, hängt immer davon ab, wie sehr eine kriegführende Partei überzeugt ist, die eigenen Ziele auch dann zu erreichen, wenn sie nur eindeutig militärische Ziele angreift.

Im Fall der Ukraine ging die politische und militärische Führung Russlands offensichtlich fälschlicherweise davon aus, mit wenigen Luftschlägen und Raketenangriffen sowie einer Panzerkolonne in Richtung Kiew ihr Ziel zu erreichen. Modell war dabei möglicherweise der Krieg in Georgien 2008 oder die Intervention in Kasachstan im Januar 2022. Als deutlich wurde, dass dies nicht ausreichte und der ukrainische Widerstand vor allem in Siedlungsgebieten heftig war, verstärkte die russische Führung den Waffeneinsatz bis hin zur fast vollständigen Zerstörung einer Stadt wie Mariupol. Dass dann auch die Zivilbevölkerung maximal davon betroffen ist, gehört zur grausamen Logik der eingesetzten Waffen.

Nach dem Bekanntwerden der Gräueltaten von Butscha sagte der Außenminister der Ukraine, im russischen Vorgehen zeige sich eine Brutalität, die Europa seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr gekannt habe. Präsident Wolodymyr Selenskyj sprach von einem Genozid, der in der Ukraine im Gange sei. Inwieweit sind diese Aussagen gerechtfertigt?

Die Bilder, die wir aus der Ukraine sehen – insbesondere aus Charkiw oder Mariupol –, erinnern tatsächlich in erschreckender Weise an solche aus dem Zweiten Weltkrieg, gerade auch in diesem Teil der Welt. Andererseits sehen wir aber auch, dass das Leben in ukrainischen Städten unter schwierigen Bedingungen weitergeht. Das erinnert dann wiederum eher an den Krieg in Bosnien in den 1990er Jahren, an die jahrelange Belagerung der Großstadt Sarajevo und die dort gesehene Brutalität. Die Aussage des ukrainischen Außenministers zeigt aber auch, wie sehr Europa auf sich selbst bezogen ist und wie sehr es sich immer noch von einer in seinen Augen weniger zivilisierten außereuropäischen Welt abzugrenzen sucht. Die Welt ist heute allerdings so verflochten – auch mit Blick auf Rüstungsgüter und die Frage der Form der Kriegführung –, dass es doch etwas überraschend ist, wie wenig Europa bisher von der Brutalität von Kriegen in Afghanistan, dem Kongo, der Sahelzone, Syrien, dem Sudan oder Tschetschenien wahrgenommen hat oder wahrnehmen wollte. Die hässliche Seite von Krieg wird nicht nur in Mariupol oder Charkiw deutlich, sondern ebenso in Aleppo, Goma, Grosny, Kabul, Timbuktu oder im Südsudan, um nur einige Beispiele zu nennen.

Was die Verwendung von Begriffen wie „Genozid“, „Kriegsverbrechen“ oder „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ betrifft, so gilt es zuerst zwischen deren politischer und deren rechtlicher Funktion zu unterscheiden. Politiker wie Wolodymyr Selenskyj oder Joe Biden verwenden die Begriffe primär dazu, um die Gegenseite maximal zu kriminalisieren und ihr öffentlich jegliche Legitimität abzusprechen. Dass Selenskyj dabei den Begriff des Genozids verwendet, ist angesichts der derzeitigen Situation zwar nachvollziehbar, da es ihm darum geht, Vladimir Putin und die russische Seite mit dem Verbrechen in Verbindung zu bringen, welches in den Augen der Weltöffentlichkeit als das schlimmste gilt, das ein Mensch anordnen und dessen Sicherheitsapparat umsetzen kann. Selenskyj kann dabei auch auf Aussagen von Putin selbst zurückgreifen, in welchen Letzterer der Ukraine das Existenzrecht absprach; andererseits ist aber fraglich, ob Putin und die russischen Streitkräfte wirklich eine Vernichtungsabsicht haben, wie dies gemäß der Genozidkonvention notwendig wäre, um den Begriff des Genozids in einer rechtlichen Funktion zu verwenden. Dass Letzteres aber wirklich Selenskyis oder Bidens Ziel und Absicht ist, bezweifle ich doch.

Neben der regulären Armee kämpfen auch Bürgerwehren in der Ukraine. Zudem gibt es immer wieder Berichte von Zivilisten, die bewaffnete Gegenwehr leisten. Inwieweit ist dies vom Recht auf Selbstverteidigung gedeckt? Und welche Rolle spielt diese Verwischung der Grenzen zwischen Kombattanten und Nicht-Kombattanten für die Gräueltaten an der Zivilbevölkerung?

Diese Frage ist rechtlich in Artikel 1 und 2 der Haager Landkriegsordnung klar geregelt.3 Ersterer besagt, dass die Gesetze, die Rechte und die Pflichten des Krieges nicht nur für das Heer gelten, sondern auch für Milizen und Freiwilligenverbände, sofern diese nicht ohnehin das Heer bilden oder Teil davon sind. Dafür müssen sie vier Bedingungen erfüllen, nämlich, dass erstens jemand an ihrer Spitze steht, der für seine Untergebenen verantwortlich ist, dass diese Verbände zweitens ein bestimmtes aus der Ferne erkennbares Abzeichen tragen, dass sie drittens die Waffen offen führen und dass sie viertens selbst die Gesetze und Gebräuche des Krieges beachten. Artikel 2 besagt, dass dort, wo die Bevölkerung eines nicht besetzten Gebietes beim Herannahen des Feindes zu den Waffen greift, um die eindringenden Truppen zu bekämpfen, ohne sich gemäß Artikel 1 organisieren zu können, diese als Kombattanten zu betrachten sind, sofern sie die Waffen offen führen und die Gesetze und Gebräuche des Krieges beachten.

In der Praxis ist es natürlich immer schwierig, hier klare Grenzen zu ziehen. Das zeigt gerade das Beispiel der deutschen Invasion Belgiens im Jahr 1914. Die politische und militärische Führung des deutschen Kaiserreiches hielt an einer engen Auslegung der genannten Bestimmungen der Haager Landkriegsordnung fest und akzeptierte eigentlich nur formell zu den Streitkräften gehörige Verbände als legitime Kombattanten. Die belgischen Behörden legten die Haager Landkriegsordnung hingegen sehr weit aus und anerkannten sowohl den Widerstand der eigenen Garde Civique als auch in Einzelfällen von Zivilisten als legitime Kriegshandlung. Die Zerstörungen und Verluste an Menschenleben, die aus dieser unterschiedlichen Interpretation resultierten, waren enorm. Dieser als „Belgian Atrocities“ bekannt gewordene Aspekt des Ersten Weltkrieges führte zu jahrzehntelangen Debatten, die erst vor kurzem wieder neue Wendungen genommen haben.4

Was die Frage der Verwischung der Grenzen zwischen Kombattanten und Nicht-Kombattanten betrifft, so sind diese weniger eine Frage rechtlicher Regelungen. Sie resultiert vielmehr aus der Tatsache, dass Politiker wie Militärs gewaltsame Auseinandersetzungen aus den verschiedensten Gründen vielfach und zumindest dort, wo konkret Kämpfe im Gang sind, als gesamtgesellschaftliche Kriege führen. Dies tun sie auch dann, wenn sie ihr Vorgehen gegenüber der eigenen Bevölkerung als gezielte Schläge nur gegen feindliche Kämpfer bezeichnen, wie dies in Afghanistan, Irak, Kosovo oder eben jetzt in der Ukraine der Fall ist. Rechtliche Normen waren in den meisten Fällen der Versuch, aus vergangenen Konflikten Lehren für die Zukunft zu ziehen. Dass dies meist nur unvollständig gelang, zeigt die Geschichte der Genfer Konventionen, die im Gefolge einer Zahl von größeren und kleineren bewaffneten Konflikten immer weiter ergänzt und ausgebaut wurden.

Lassen Sie uns auf die Ideengeschichte blicken: Wie bildeten sich die Begriffe „Kriegsverbrechen“ und „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ heraus?

Diese Frage so kurz wie möglich zu beantworten, ist nicht ganz einfach und dazu gibt es nicht nur mein Buch, sondern auch eine spannende Studie von Kerstin von Lingen.5 Was sich aber sagen lässt, ist, dass der Begriff der „Kriegsverbrechen“ älter ist als derjenige der „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“. Letztlich bildeten aber beide den Versuch, Verstöße gegen internationale Normen in Kriegen und in deren Umfeld nicht nur benennen zu können, sondern auch Verantwortliche strafrechtlich zur Verantwortung zu ziehen. Dafür mussten die Verstöße aber kriminalisiert werden.

Vor dem Deutsch-Französischen Krieg gab der damalige Präsident des Genfer Komitees – heute ist dies das Internationale Komitee vom Roten Kreuz – Gustave Moynier seiner Hoffnung Ausdruck, dass eine militärische Führung in einem Krieg dafür sorgen werde, dass ihre Verbände eine Umsetzung der 1864 abgeschlossenen Genfer Konvention sicherstellen und Verantwortliche für Verstöße mit den Mitteln ihrer Militärjustiz zur Rechenschaft ziehen würden. Für Moynier zeigte der Deutsch-Französische Krieg dann allerdings, dass diese Hoffnung trügerisch gewesen war. Er schlug daher vor, die Aufgabe der Klärung von Verstößen gegen die Genfer Konvention einem internationalen Strafgerichtshof nach Vorbild des Alabamatribunals zu überantworten.6 Seine Idee stieß zwar bei einigen seiner Juristenkollegen auf Anklang, andere sowie vor allem Regierungen und Militärs konnten dieser Vorstellung aber wenig abgewinnen.

Spannend ist im übrigen auch, dass fast zeitgleich der schweizerisch-badische Völkerrechtler Johann Caspar Bluntschli unabhängig von Moyniers Initiative den in der ersten Auflage seiner Studie zum Völkerrecht noch nicht verwendeten Begriff der „Kriegsverbrechen“ 1872 in die zweite Auflage als zusammenfassende Kategorie für einen Teil von während des Deutsch-Französischen Krieges begangenen Rechtsverletzungen aufnahm.7 Wie wenig Bluntschli erfasste, dass er hier einen Begriff geprägt hatte, der in Zukunft eine zentrale Rolle spielen würde, zeigt die Tatsache, dass er den Begriff selber außer in der dritten Auflage seines Buches nie mehr verwendete. Der eigentliche Vater des Begriffs „Kriegsverbrechen“ war dann der deutsch-britische Völkerrechtler Lassa Oppenheim. Er definierte diese als „such hostile or other acts of soldiers or other individuals as may be punished by the enemy on capture of the offenders“ und fügte dazu eine Liste von 19 Tatbestandsmerkmalen an.8

Im Ersten Weltkrieg setzte sich diese Bezeichnung schließlich für im Krieg begangene Verbrechen durch. Fast gleichzeitig tauchte hier im Gefolge der Martensklausel der Haager Landkriegsordnung auch der Begriff der „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ auf. Dessen Gehalt war damals aber noch etwas anders, denn er umfasste sowohl „Kriegsverbrechen“ als auch solche Verstöße gegen internationale Normen des Rechts im Krieg, die nicht unter die 19 von Oppenheim genannten Tatbestandsmerkmale fielen. Erst im Gefolge des Zweiten Weltkrieges und der Militärtribunale in Nürnberg und Tokyo sollte der Begriff der „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ in seinem Gehalt die „Kriegsverbrechen“ nicht mehr beinhalten, sondern eine separate Kategorie bilden, die auch vom Krieg losgelöste Verbrechen umfasste.

Seit wann und mit welchen Inhalten wurden Debatten darüber geführt, wie entsprechende Verstöße zu bestrafen seien?

Die Frage der Ahndung von Verstößen gegen internationale Normen in Kriegen ist so alt wie die Diskussion über die Existenz entsprechender Normen. Umstritten ist vor allem die Frage, seit wann es sich um Versuche einer wirklich rechtlichen Ahndung handelte, die nicht einfach auf Vergeltung oder Rache abzielte.

Sicherlich kam es im Gefolge der Initiative von Moynier zu einer Intensivierung von Bemühungen für eine internationale Regelung. Die Entwicklung verlief allerdings nicht gradlinig. Moynier selber musste nach 1872 sein Projekt zurückstellen, weil andere Fragen für ihn und das Genfer Komitee dringender waren. Aber auch, als er es 1892 wieder aufnahm, blieb sein Erfolg bescheiden und beschränkte sich auf einen Artikel in der revidierten Genfer Konvention von 1906, der eine Verpflichtung der Staaten zur Ahndung von Verstößen gegen die Bestimmungen der Konvention auf nationaler Ebene vorsah. Selbst die ursprünglich vom belgischen Völkerrechtler Gustave Rolin-Jaequemyns in die Diskussion eingebrachte Idee der Schaffung einer internationalen Untersuchungskommission zur Klärung konkreter Anschuldigungen – auch das also keine Erfindung der Gegenwart – konnte Moynier damals nicht durchsetzen.

Die Balkankriege und der Erste Weltkrieg führten dann dazu, dass nicht mehr nur die Ahndung von Verstößen gegen die Genfer Konvention im Vordergrund dieser Debatte stand, sondern eben „Kriegsverbrechen“ oder „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ ein Thema waren. Das weitgehende Scheitern der Tribunale in Istanbul oder Leipzig nach dem Ersten Weltkrieg führte in der Zwischenkriegszeit zu weiteren Debatten und 1937 zur Verabschiedung einer ersten Konvention über die Schaffung eines internationalen Strafgerichtshofes zur Ahndung internationaler terroristischer Verbrechen. Als Folge des Krieges in Ostasien ab dem gleichen Jahr und des Zweiten Weltkrieges ab 1939 ratifizierte allerdings kein Staat die Konvention.

Nach dem Zweiten Weltkrieg waren es die Internationalen Militärtribunale in Nürnberg und Tokyo, die neben „Kriegsverbrechen“ und „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ nun auch den Krieg selbst als „Verbrechen gegen den Frieden“ zum Tatbestand machten. Schließlich ebneten die UN-Tribunale für Verbrechen im ehemaligen Jugoslawien und in Ruanda den Weg für die Konvention über den internationalen Strafgerichtshof von 1998. Darin bildeten nun allerdings nicht mehr die „Verbrechen gegen den Frieden“ die erste Verbrechenskategorie wie noch in Nürnberg oder Tokyo, sondern der Tatbestand des „Genozids“. Dies war einerseits die Folge des damals schon anerkannten Völkermords in Ruanda sowie von entsprechenden Vorwürfen zu den Vorgängen in Srebrenica, die damals noch in Abklärung befindlich waren. Andererseits hing es auch damit zusammen, dass die Vertragsstaaten sich nicht über den Tatbestand der „Aggression“ zu verständigen vermochten.

In Ihrer Habilitationsschrift kommen Sie zu dem Urteil, dass das Ziel einer internationalen strafrechtlichen Verfolgung von Kriegsverbrechen trotz der Etablierung internationaler Rechtsinstitutionen „allenfalls ansatzweise erreicht worden“ sei9 und dass im 19. Jahrhundert aufkommende juristische und politische Debatten über die Ahndung von Kriegsverbrechen bis heute fortgesetzt werden. Welche Fragen sind immer noch aktuell und welche Schwierigkeiten stehen nach wie vor der Durchsetzbarkeit internationaler Regularien im Weg?

Es ist richtig, dass die Etablierung internationaler Rechtsinstitutionen nur ansatzweise erreicht ist. Das hängt auch damit zusammen, dass wesentliche Akteure der internationalen Politik wie die USA, Russland, Israel oder auch die Ukraine nicht bereit waren sowie – mit Ausnahme der Ukraine – auch nicht bereit sind, sich solchen Institutionen anzuschließen und damit auch das Handeln ihrer eigenen Streitkräfte einer internationalen Instanz zu unterstellen.

Zu Schwierigkeiten führt aber auch die Tatsache, dass sich die Tatbestände mit den Kriegen verändern und in den meisten Fällen erweitern. Das zeigt schon ein Blick auf den Vorschlag von Gustave Moynier von 1872. Sein Konventionsentwurf umfasste nur wenige Seiten und Artikel. Die Strafklauseln der Pariser Vorortsverträge waren zwar kaum länger, aber sie bildeten einen Teil eines wesentlich umfassenderen Vertragswerkes. Die Charta der Militärtribunale von Nürnberg und Tokyo waren schon länger und auch da kam es zum Streit, welche Folgen ein Strichpunkt bzw. ein Komma im Hinblick darauf haben konnte, für welche konkreten „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ ein Angeklagter schließlich im Einzelfall verurteilt werden konnte. In den Regelwerken für die internationalen Tribunale für die Ahndung von Verbrechen im ehemaligen Jugoslawien und in Ruanda sowie im Statut für den internationalen Strafgerichtshof finden sich noch ausführlichere Regelungen mit Blick auf zu verfolgende Verbrechen. Die Flut der Tatbestandsmerkmale, der Versuch, möglichst alle Verstöße gegen internationale Normen schriftlich festzuhalten und das Bemühen, die prozessualen Regelungen allen rechtstaatlichen Prinzipien entsprechen zu lassen, führen zu einer Regeldichte, die Prozesse in die Länge zieht und damit deren gesellschaftliche Legitimität in Frage zu stellen droht.

Mir ist bewusst, dass es dafür keine einfachen Lösungen gibt, aber es könnte an der Zeit sein, die schon im Umfeld der Verabschiedung der Charta für den Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess geführte entsprechende Diskussion in diesem Punkt im Lichte der jüngsten Entwicklungen wieder aufzugreifen. Die Herausforderung besteht darin, ein Prozedere für schnellere Verfahren zu finden, die dennoch rechtsstaatlichen Prinzipien zu genügen vermögen. Gerade für die Opfer von Gräueltaten wären schnellere Verfahren äußerst wichtig.

Bereits der Angriffskrieg Russlands ist ein klarer Verstoß gegen das Völkerrecht, da Art. 2 Nr. 4 der Charta der Vereinten Nationen grundsätzlich jede Form der Durchsetzung staatlicher Interessen durch die Anwendung militärischer Gewaltmittel in den internationalen Beziehungen verbietet. Hingegen war gerade im 19. Jahrhundert die Vorstellung vom freien Kriegführungsrecht souveräner Staaten wirkungsmächtig. Wie vollzog sich dieser Wandel im Völkerrecht?

Wie bereits ausgeführt, bildete der Tatbestand der „Verbrechen gegen den Frieden“ in den Prozessen von Nürnberg und Tokyo die erste Verbrechenskategorie. Dieser Tatbestand konnte sich in den weiteren Diskussionen über die Ahndung von mit Krieg in Zusammenhang stehenden Verbrechen während und nach dem Kalten Krieg allerdings nicht durchsetzen, weil die beteiligten Juristen und staatlichen Behörden sich nicht darüber einigen konnten, wann konkret ein Akt der Aggression vorlag und wann es sich um einen Akt der Selbstverteidigung handle.

Dass die russische Regierung heute von einer begrenzten Militäroperation spricht und im eigenen Land die Verwendung des Begriffs „Krieg“ unter Strafe gestellt hat, zeigt, dass sich selbst Putin und seine Regierung bewusst sind, dass ein Angriffskrieg gemäß der Charta der Vereinten Nationen nicht zulässig ist. Sie definieren ihr Vorgehen daher eben anders.

Das ist aber keineswegs so neu, wie es nun den Anschein hat. Auch andere Regierungen haben seit dem Bestehen der UNO immer wieder zum Mittel des Krieges oder der militärischen Gewalt gegriffen und haben ihr Handeln – selbst wenn es ein offensichtlicher Angriffskrieg war – mit Verweis auf andere Begrifflichkeiten und rechtliche Konzepte gerechtfertigt. Beispiele sind die Kriege in Südasien um Kashmir, die indische Intervention in Bangladesh, die Kriege von Restjugoslawien gegen Slowenien und Kroatien sowie in Bosnien, der Krieg im Kosovo 1999, der Krieg im Irak 2003 oder die Interventionen der Sowjetunion sowie der USA in Afghanistan. Thilo Marauhn ist zuzustimmen, wenn er von Rechtswissenschaftlern fordert, dass sie sich vermehrt für eine Stärkung von Art. 2 Nr. 4 der Charta der Vereinten Nationen einsetzen sollen.10 Diese Aufforderung gilt aber nicht nur für Juristen, sondern ergeht an uns alle.

Was die Idee eines freien Kriegführungsrechtes betrifft, wie sie unter anderem Wilhelm Grewe in seinem Buch zu den Epochen der Völkerrechtsgeschichte postuliert hat, so dürfte es sich dabei um einen Mythos handeln. Kriegführung unterstand spätestens seit der frühen Neuzeit einem Rechtfertigungsdruck, wie Anuschka Tischer gezeigt hat.11 Fürsten, Nationen und Staaten waren sich auch im 19. Jahrhundert bewusst, dass ihre Souveränität nicht absolut war und sie in ihrer Kriegführung internationalen Normen unterworfen waren, die sie beachten mussten. Das zeigen etliche Studien im gehaltvollen Sammelband von Lothar Brock und Hendrik Simon, der im vergangenen Jahr erschienen ist.12

Die Geschichte lehrt uns, dass der Krieg nicht vorbei ist, wenn das Schießen aufhört. Insbesondere Bilder von Kriegsgräuel fördern Hass und den Wunsch nach Rache. Was hat in früheren militärischen Auseinandersetzungen dazu beigetragen, nach solchen Verbrechen den fragilen Frieden zu festigen und wieder eine friedliche Nachbarschaft zu erreichen? Welche Rolle spielten juristische Ahndungen oder gerade die Gewährung von Amnestie für die am Krieg Beteiligten?

Waffen können nicht wirklich Frieden schaffen. Selbst wenn eine Seite sich weitgehend durchsetzt, heißt das nicht, dass in der Folge ein dauerhafter Friede entsteht und eine friedliche Nachbarschaftsbeziehung wieder Einzug halten kann. Selbst wenn Putin und die russische Führung sich mit einer kurzen Militäroperation hätten durchsetzen können, wie dies in Georgien im August 2008 der Fall war, wäre nicht zwingend klar gewesen, dass sich die ukrainische Gesellschaft gesamthaft oder auch nur zu großen Teilen mit einer solchen Situation abgefunden hätte. Natürlich ist es Spekulation, was aus der Ukraine in einem solchen Fall genau geworden wäre. Die im Land bestehende Diversität lässt aber doch vermuten, dass es einer neuen prorussischen Regierung nicht einfach gelungen wäre, die Ukraine so an Russland anzubinden, wie dies der belarussische Präsident Aljaksandr Lukaschenko getan hat. Dafür bildet die Regierungszeit von Präsident Wiktor Janukowytsch von 2010 bis 2014 ausreichend Anschauungsmaterial.

Die Gräuel des Krieges, sei es nun die russische Aggression, Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit, haben bis heute eine wichtige politische Funktion im Krieg und dessen Führung eingenommen und werden dies wohl auch in Zukunft tun. Wie bereits erwähnt, spielen diese politische Funktion und die damit verbundenen Bilder eine wichtige Rolle in der Rechtfertigung des eigenen Ausharrens und zur Mobilisierung eigener wie fremder Ressourcen.

Zum Zeitpunkt, zu welchem der Krieg enden wird, dürfte es daher entscheidend sein, in welcher Form dieses Ende ausgestaltet sein wird. Setzt sich Russland doch noch durch, dürften Fragen der Ahndung von Kriegsverbrechen eine untergeordnete Rolle spielen und vor allem von im Exil befindlichen Ukrainerinnen und Ukrainern angemahnt werden. Wie viel Gehör sie damit finden werden, muss sich zeigen. Das armenische Beispiel in der Zwischenkriegszeit zeigt, dass es sein kann, dass das Echo, auf welches Exilanten stoßen, nicht besonders groß ist. Es ist aber auch möglich, dass die westlichen Länder geschlossen bleiben und vereinzelte Verantwortliche doch zur Rechenschaft gezogen werden können, so wie es nun in Deutschland mit einem Täter aus Syrien der Fall war.

Im Fall, dass sich die Ukraine weitgehend oder auch nur teilweise durchzusetzen vermag, rechne ich damit, dass sie bemüht sein wird, die Verantwortlichen für die Gräuel des Krieges vor Gericht zu bringen. Die Fälle aus dem Bosnienkrieg zeigen, dass obwohl es (zwar) lange dauern kann, es dennoch möglich ist, dass selbst ehemalige Staatspräsidenten sich plötzlich vor Gericht wiederfinden. Ob das mit Vladimir Putin der Fall sein wird, vermag ich nicht zu prognostizieren.

Was ich aber ausschließen würde, wäre eine Amnestie. Solche hat es zwar in der Vergangenheit gegeben, aber nur in einem Fall – demjenigen des japanischen Kaisers Hirohito – hat diese politisch Wirkung zu erzielen vermocht. Die Amnestierung von Hirohito blieb aber in Asien umstritten und ging auf Kosten einerseits der ihm unterstehenden militärischen und politischen Führer, andererseits derjenigen, die in ihm den Hauptverantwortlichen für den Krieg und die damit verbundenen Verbrechen sahen. Dass Vladimir Putin zur Stabilisierung eines sich reformierenden Russlands nach dem Krieg einen Beitrag wie Hirohito und das Kaiserhaus in Japan leisten könnte, kann ich mir nicht vorstellen.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut durch Florian Wieninger.

 

Zitierempfehlung: Gundula Gahlen, Interview mit PD Dr. Daniel Marc Segesser. V. Teil: Krieg in der Ukraine – Zur historischen Einordnung der russischen Kriegsverbrechen, in: Themenschwerpunkt „Krieg in der Ukraine. Militär- und gewaltgeschichtliche Hintergründe“, hg. von Jannes Bergmann/Paul Fröhlich/Gundula Gahlen, Portal Militärgeschichte, 29. April 2022, URL: https://portal-militaergeschichte.de/gahlen_interview_segesser (Bitte fügen Sie in Klammern das Datum des letzten Aufrufs dieser Seite hinzu).

  • 1. Daniel Marc Segesser, Recht statt Rache oder Rache durch Recht? Die Ahndung von Kriegsverbrechen in der internationalen fachwissenschaftlichen Debatte 1872–1945, Paderborn 2010 (Krieg in der Geschichte 38).
  • 2. Vgl https://www.srf.ch/audio/rendez-vous/ukraine-kriegsbilder-einer-neuen-dimension?partId=12179895 (abgerufen 22.04.22).
  • 3. Vgl. https://www.1000dokumente.de/index.html?c=dokument_de&dokument=0201_haa&l=de (abgerufen 22.04.22).
  • 4. Vgl. dazu Markus Pöhlmann, Habent sua fata libelli. Zur Auseinandersetzung um das Buch „German Atrocities 1914“, in: Portal Militärgeschichte, 16. November 2017, https://www.portal-militaergeschichte.de/http%3A//portal-militaergeschichte.de/poehlmann_habent (abgerufen 22.04.22).
  • 5. Kerstin von Lingen, „Crimes against Humanity“. Eine Ideengeschichte der Zivilisierung von Kriegsgewalt 1864–1945, Paderborn 2018 (Krieg in der Geschichte 102).
  • 6. Gustave Moynier, Note sur la Création d’une Institution Judicaire Internationale propre à prévenir et à réprimer les Infractions à la Convention de Genève, in: Bulletin International des Sociétés de Secours aux Militaires Blessés 11, 1872, S. 122–131.
  • 7. Johann Caspar Bluntschli, Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staaten als Rechtsbuch dargestellt, Nördlingen 1872, S. 358 (§ 643a). Die erste Auflage erschien 1868.
  • 8. Lassa Oppenheim, Disputes, War and Neutrality (International Law. A Treatise, Bd. 2), London 1906, S. 263–266.
  • 9. Segesser, Recht statt Rache, S. 11.
  • 10. Thilo Marauhn, How Many Deaths Can Article 2 (4) UN Charter Die? in: Lothar Brock/Hendrik Simon (Hg.), The Justification of War and International Order. From Past to Present, Oxford 2021, S. 449–469.
  • 11. Anuschka Tischer, Offizielle Kriegsbegründungen in der Frühen Neuzeit. Herrscherkommunikation in Europa zwischen Souveränität und korporativem Selbstverständnis, Berlin 2012.
  • 12. Lothar Brock/Hendrik Simon (Hg.), The Justification of War and International Order. From Past to Present, Oxford 2021.
Perspektiven: