Die Ausstellung „Ankunft auf Zeit – Cottbuser Kriegsgefangenenlager zwischen 1914 und 1924“
Paul Fröhlich
Interview
Veröffentlicht am: 
21. Februar 2022

Das Cottbuser Stadtmuseum eröffnete im November 2021 eine Sonderausstellung zu den beiden Kriegsgefangenenlagern, die im Lauf des Ersten Weltkrieges in Sielow und Merzdorf errichtet wurden und die mehr als 20 000 Insassen durchliefen. Die Ausstellung richtet auf Grundlage zahlreicher Bilder des damaligen Lagerfotografen Paul Tharan den Blick auf die Lebensbedingungen hinter dem Stacheldraht. Im thematischen Fokus liegen vor allem die Unterbringung, medizinische Versorgung, die Arbeit innerhalb und außerhalb des Lagers, das kulturelle Leben sowie das Sterben in der Gefangenschaft. Darüber hinaus dokumentiert die Ausstellung die häufig unbekannte Nachnutzung der Kriegsgefangenenlager nach dem Kriegsende. Gemeinsam mit zeitgenössischen Exponaten und kommentierenden Texten werden die häufig propagandistisch intendierten Fotografien Tharans durch mehrere Installationen in einen neuen Kontext gesetzt, um den bedrückenden Charakter des Lagers wiederzugeben.

Das folgende Interview mit dem Kurator Robert Büschel wirft einen Blick auf die Museumspraxis bei der Entwicklung und Auseinandersetzung von Formaten, die sich mit dem Ersten Weltkrieg bzw. mit dem Thema „Kriegsgefangenschaft und Kriegsgesellschaft“ auseinandersetzen. Die Ausstellung läuft voraussichtlich noch bis zum 13. März 2022.

Sehr geehrter Herr Büschel, die große Ausstellungswelle zum Ersten Weltkrieg sowie das wissenschaftliche Interesse ist nach dem Jahr 2018 etwas abgeebbt. War das Thema Kriegsgefangene im Ersten Weltkrieg „übrig geblieben“ oder ein Zufallsfund? Kurzum: Wie sind Sie auf das Thema gestoßen?

Robert Büschel: Wir hatten im Jahr 2018 eine große Sonderausstellung zur Zeit des Ersten Weltkrieges. In dieser richteten wir unseren Blick vor allen Dingen auf das Leben in Cottbus. Damals thematisierten wir die Kriegsgefangenenlager zwar, blieben jedoch an der Oberfläche. Schon zu diesem Zeitpunkt war jedoch klar, dass wir einen nicht unwesentlichen Bestand im Stadtarchiv zu den Lagern haben und einen außerordentlich großen Bestand an später gefertigten Fotoabzügen. Das Interesse war geweckt.

Als ich dann mit einem Praktikanten über 855 Fotoplatten im Archiv „stolperte“, welche Fotografien aus den Lagern zeigten, kam die Idee der intensiveren Auseinandersetzung. Die Fotoplatten deckten sich weitgehend mit den Abzügen aus DDR-Zeiten, einige waren jedoch nicht bekannt. Als wir dann noch weitere ca. 300 bis 400 Platten ausmachten war klar, dass wir diesen Bestand weiter bearbeiten sollten.

War das Thema und der Ort des Lagers bereits im öffentlichen Bewusstsein bekannt oder betreten Sie gemeinsam mit den Besuchern Neuland?

Robert Büschel: Pauschalisieren können wir das natürlich nicht. Es gibt einige wenige Heimatforscherinnen und Heimatforscher, die sich dem Thema widmen. Meistens sind hier Postkarten der Anlass zur Auseinandersetzung. Im öffentlichen Bewusstsein befanden sich die Lager jedoch meiner Meinung nach nicht. Die Orte sind heute fast gänzlich als Industrieflächen überbaut, lediglich ein Stück des Lagerfriedhofes in Merzdorf ist erhalten geblieben. Beispielhaft ist der Lagerfriedhof in Sielow.1 Dort, wo einst über 500 Soldaten ihre letzte Ruhestätte fanden, ist heute ein Fußballplatz.

Eine Ausstellung ist ja häufig mehr als die Präsentation von Gegenständen und bedeutet darüber hinaus eine wissenschaftliche Recherche. Was war die größte Überraschung während Ihrer „Grabungsarbeiten“ zur Ausstellung? Gab es irgendein unerwartetes Aha-Erlebnis?

Robert Büschel: In der Tat betrachten wir die Ausstellung als die Präsentation eines am Anfang befindlichen Forschungsstandes. Mit Alexander Valerius, mit dem ich die Ausstellung und alle weiteren zugehörigen Vorhaben kuratieren durfte, hatten wir über ein Jahr lang gefühlt wöchentlich „Aha-Erlebnisse“. Diese alle aufzuführen, das führt sicherlich hier zu weit.

Was sich im Lauf der Recherche jedoch ein Stück weit herauskristallisiert hat, ist die Relevanz der beiden Kriegsgefangenenlager. Nicht nur für die Stadt, sondern auch im überregionalen Verständnis. Beispielhaft ist die Situation im Winter 1914/1915 zu nennen, in welchem die Cottbuser Lager leider zu einem Zentrum der internationalen Fleckfieber-Forschung wurden. Ein besonderes Dokument, auf das wir im Lauf der Bearbeitung aufmerksam gemacht wurden, ist ein Film, der vermutlich in den Jahren 1918/1919 erstellt wurde.2 Dieser zeigt u.a. auch die beiden Cottbuser Lager. Das war für uns eine sehr unerwartete Überraschung und wir freuen uns sehr, dass der fachliche Austausch hier sehr gut zum Tragen kam.

Das Thema Kriegsgefangenschaft bietet ja zahlreiche Felder, auf die man den Fokus legen kann. Was war das Hauptaugenmerk der damaligen Fotografen und das Ihrer Ausstellung?

Robert Büschel: Unserer Einschätzung nach liefert der Lagerfotograf in den meisten Fällen das, was in den Bereich der Kriegspropaganda fällt. Kriegsgefangene, die Sport treiben oder Theater spielen, sowie Gruppen- und Einzelaufnahmen usw. gehören vordergründig zu seinem Repertoire. Gruppen von Wachmannschaften sind dokumentiert, genauso wie diverse Ansichten der Lager.

Doch einige wenige Fotografien vermitteln ein ganz anderes Bild. So zum Beispiel die an den Pfahl gefesselten russischen Soldaten oder der vermutliche Leichnam eines deutschen ermordeten Soldaten. Diese Bilder wirken teilweise verschwommen und scheinen von ihm in aller Eile aufgenommen worden zu sein.

In der Ausstellung versuchen wir auch diese ganz unterschiedlichen Perspektiven aufzunehmen. Wir zeigen die kulturelle Vielfalt mit Theater, Sport und der Ausübung von Religion. Wir führen unseren Besucherinnen und Besuchern aber auch den Mangel, Fremdenhass, Sehnsucht nach der Heimat und Fragen der Ungleichbehandlung je nach Herkunft vor Augen. Dafür konnten wir einerseits auf die Bilder des Lagerfotografen Paul Tharan zurückgreifen. Getragen werden diese Fotografien dann auch von den Aussagen des expressionistischen Malers und Dichters Ludwig Meidner, der als Zensor in den Lagern tätig war.

Die Ausstellung geht über das Ende des Ersten Weltkrieges bzw. das Jahr 1918 hinaus. Wie kam es zu dieser zeitlichen Erweiterung?

Robert Büschel: Während das eine Lager in Merzdorf im Jahr 1920 als geschlossen galt, blieb das Kriegsgefangenenlager in Sielow weiterhin geöffnet. Es diente bis Dezember 1923 als Internierungslager für ganz unterschiedliche Personengruppen. Unter anderem handelte es sich dabei um polnische und russische Kriegsdienstverweigerer, die nicht im polnisch-sowjetischen Krieg dienen wollten. Später sind es Personengruppen, die im Rahmen des Konflikts in Oberschlesien inhaftiert und festgehalten wurden. Und schlussendlich sind es vor allen Dingen osteuropäische Ausländer, die vor Krieg, Armut und religiöser Verfolgung nach Deutschland geflüchtet waren. Unter ihnen befanden sich auch Frauen, Kinder und Greise, was leider auch der Blick in das Sterberegister zeigt.

Fotografien gelten als eine besondere Quellengattung, da sie durch ihre Unmittelbarkeit, fast schon Materialität eine große, scheinbare Wahrhaftigkeit auf den Betrachter ausstrahlen. Bei den von Ihnen ausgestellten Fotos handelt es sich nun ausschließlich um die deutsche Perspektive auf die Gefangenen. Wie entschlüsselt man gerade in Hinblick auf den Museumsbesucher diese Bildsprache?

Robert Büschel: Das Medium Fotografie nimmt in unserer Ausstellung den Kern ein. Es ist ein Stück weit Anlassgeber für die Ausstellung und bietet unglaubliche Anknüpfungspunkte. Wir versuchen den Besucherinnen und Besuchern neben den Fotografien auch noch andere Deutungsmöglichkeiten anzubieten. Dabei handelt es sich zum Beispiel um Auszüge aus den Akten, Berichte von internierten Soldaten und auch der sehr kritischen Perspektive Ludwig Meidners.

Darüber hinaus greift die Ausstellungsgestaltung die inhaltliche Struktur der Räume auf. Als Träger der Ausstellungsarchitektur nutzen wir verwitterte Holzpaletten, die das Bild der schnell verwitterten Baracken ein Stück weit symbolisieren. Und während beispielsweise das Thema der erlaubten kulturellen Vielfalt durch ein stilisiertes Lagertheater dargestellt wird, so durchlaufen die Besucherinnen und Besucher im Anschluss ein dunkel gehaltenes Labyrinth im Themenbereich „Hunger, Furcht & Schrecken“.

Beim Ersten Weltkrieg denkt man ja zunächst an Schlachten wie Verdun oder Tannenberg sowie den industrialisierten Stellungskrieg an der Westfront. Lässt sich – unter den gegebenen Umständen der Pandemie – bislang eine Resonanz der Besucher zum Thema Kriegsgefangenschaft erkennen?

Robert Büschel: Vielen Besucherinnen und Besuchern waren die beiden Kriegsgefangenenlager und deren Dimensionen nicht bekannt. Ich habe den Eindruck, dass bei vielen diese Fragen der Kriegsgefangenschaft bisher keine oder nur wenig Aufmerksamkeit erhielten. Oftmals wird es mit der Kriegsgefangenschaft eigener Angehöriger in und nach der Zeit des Zweiten Weltkrieges verbunden. Die enorme Dimension der beiden Cottbuser Lager, der Umgang mit den Kriegsgefangenen und die Auswirkungen auf die Stadt sind scheinbar bei den meisten Besucherinnen und Besuchern ein zentraler Erkenntnisgewinn.

Sehr spannend sind die Auseinandersetzungen auch, sobald die Frage nach der gegenwärtigen Nutzung der Orte der einstigen Lager gestellt wird. Hier besteht scheinbar ein großes Interesse an einer, wenn auch zurückhaltenden Darstellung der Lager und der mit ihnen verbundenen Schicksale.

Welche Bedeutung hat eine Ausstellung mit den Themen Krieg und Gefangenschaft heute? Sehen Sie hier Gegenwartsbezüge?

Robert Büschel: Es geht in unserer Ausstellung nicht ausschließlich um den Krieg oder die Gefangenschaft. Natürlich sind sie ein zentraler Bestandteil und eben auch der Anlassgeber für die Anwesenheit tausender Menschen aus der ganzen Welt hier in Cottbus. Es geht aber auch um den Umgang mit Fremden. Die Gefangenen sind bis in die 1920er Jahre ein Teil der Cottbuser Stadtgesellschaft. Der Cottbuser Maler und Zeichenlehrer Paul Busch beispielsweise zeichnet in seinem Skizzenbuch zum Cottbuser Jahrmarkt 1920 auch einen „Russen“. Die Internierten gehörten zum alltäglichen Bild in der Stadt und wurden hier ganz unterschiedlich wahr- und aufgenommen. Sie prägten die Stadt und ihre Gesellschaft, ähnlich verhält es sich oft auch heute.

Museen haben wie alle kulturellen Einrichtungen in den vergangen zwei Jahren besonders unter der Pandemie gelitten, da Öffnungen nur unregelmäßig oder gar nicht möglich waren. Wie geht man unter diesen Umständen an die Entwicklung einer neuen Ausstellung heran, ohne zu wissen, ob Sie eröffnet werden kann? Nutzt man diese „Krise als Chance“ und entwirft neue Formate?

Robert Büschel: Meiner Meinung nach setzten und setzen Museen diese „neuen“ Formate bereits um. Der museale Alltag und der mit der Einarbeitung verbundene Aufwand schreckte sicherlich viele Verantwortliche ab. In unserem Haus bestand seit geraumer Zeit die Idee der virtuellen Ausstellung, verbunden mit dem Zusatz „Wir sollten mal...“.3

Hier bot, bei all den Schwierigkeiten und Unsicherheiten, die Krise den Anlass zur Auseinandersetzung und Umsetzung dieser neuen Formate für viele Museen. Die umfangreichen Recherchen zu der Ausstellung wären beispielsweise im regulären Betrieb kaum möglich gewesen.

Die „Neuerungswelle“, welche die Covid-19-Pandemie in den musealen Formaten brachte, ergab sich aus einer gewissen Notwendigkeit heraus. Ich glaube, dass die große Anzahl digitaler Formate einen erweiternden Austausch der Museen mit ihren Gästen ermöglicht. Und wahrscheinlich überdauern auch zahlreiche dieser Formate die Krise. Denn sie stellen – im Einklang mit den Diskursen in der Ausstellung oder am reellen Objekt und vielen weiteren Momenten – eine Bereicherung und Erweiterung des musealen Horizonts dar.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut durch Jannes Bergmann.

 

Zitierempfehlung: Paul Fröhlich, Interview mit Robert Büschel. Die Ausstellung „Ankunft auf Zeit – Cottbuser Kriegsgefangenenlager zwischen 1914 und 1924“, in: Portal Militärgeschichte, 21. Februar 2022, URL: https://portal-militaergeschichte.de/froehlich_interview_bueschel (Bitte fügen Sie in Klammern das Datum des letzten Aufrufs dieser Seite hinzu).

  • 1. Bei Merzdorf und Sielow handelt es sich um damals an Cottbus angrenzende Dörfer, die inzwischen eingemeindet wurden.
  • 2. https://s3.amazonaws.com/NARAprodstorage/lz/mopix/111/h/111-h-1399-r2.mp4 (letzter Zugriff 19.1.2022). Ausschnitt zum Cottbuser Kriegsgefangenenlager ab Minute 2:40.
  • 3. Das Kriegsgefangenenlager Cottbus wurde parallel auch in einer gesonderten, digitalen Ausstellung behandelt. Vgl. https://ausstellungen.deutsche-digitale-bibliothek.de/lager-cottbus/.
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