Die nationalsozialistische Militärjustiz ist noch immer ein aktuelles Forschungsthema, ihre Aufarbeitung, die Auseinandersetzung mit ihr und die Erinnerung an sie sind auch in den Medien präsent. Die öffentlichen Thematisierungen reichen von Susanna Filbinger-Riggerts (auto-)biographischem Werk " Kein weißes Blatt" über die Wander-ausstellung "Was damals Recht war ... – Soldaten und Zivilisten vor Gerichten der Wehrmacht" bis hin zum aktuellen Beschluss des Hamburger Senats, ein Denkmal für die Opfer der Wehrmachtjustiz errichten zu lassen. Aus diesem Grund soll hier ein historischer Rückblick auf die Anfänge der Deserteur-Denkmäler in der Bundesrepublik am Beispiel Göttingen geboten werden.
Der von dem Bildhauer Joachim Nitsch geschaffene Gedenkstein besteht aus einer ca. 1,3 x 1,0 x 0,1 m großen Steinplatte aus Granit. Auf dem Relief sind mehrere Details angeordnet: Oben links befindet sich ein Kirschzweig, darunter erkennt man eine Hakenkreuzfahne, die von drei Fußabdrücken zertreten worden ist. Rechts neben der Fahne dient ein Zitat aus Alfred Anderschs Bericht "Die Kirschen der Freiheit" als Schriftzug: "Nicht aus Furcht vor dem Tode, sondern aus dem Willen zu leben". Unter dem in ca. drei Metern Höhe befestigten Gedenkstein ist zusätzlich noch eine Gedenktafel mit folgendem Text angebracht: "Den Deserteuren, die sich aus Gewissensgründen dem Kriegsdienst für die nationalsozialistische Gewaltherrschaft verweigert haben und dafür verfolgt, getötet und verleumdet wurden."
Seine Entstehung verdankt das Denkmal der Diskussion über den NATO-Doppelbeschluss und der daraus resultierenden Friedensbewegung der 1980er Jahre. Gruppen aus dem "antimilitaristischen, pazifistischen Spektrum der Friedensbewegung"1 suchten abseits des antizipierten soldatischen Heldentodes im Atomkrieg nach neuen, erinnernswerten Idealen, die eher zu ihrer pazifistischen Orientierung passten. Diese entdeckten sie in den Deserteuren des Zweiten Weltkrieges. Deren historische Verweigerung erschien ihnen beispielhaft für die Gegenwart. Unter den zeitgenössischen sozialen Rahmenbedingungen (z. B. einer Kultur der Angst vor dem Atomkrieg2) deuteten sie daher die Deserteure des Zweiten Weltkrieges positiv um und sahen in ihnen historische Vorbilder. Sie forderten Denkmäler für Deserteure und provozierten damit ganz bewusst gegenüber "traditionellen Formen des Gedenkens"3 wie Kriegerdenkmälern. Die Initiatoren hofften, dass durch die Reflexion über Desertion in der Geschichte unter der Leitfrage, in welcher Tradition man stehe und welches Gewicht man dem Militär beimesse, die Beschäftigung mit der aktuellen Frage nach der Legitimität von staatlichen Zielen und (Gewalt-)Handlungen ebenfalls angeregt werde.
Seit 1987 setzte sich die Göttinger Ortsgruppe von "Reservisten verweigern den Kriegsdienst" für ein solches Denkmal ein; im Rat der Stadt Göttingen wurde ihre Initiative von der SPD sowie von der Grün Alternativen Liste (GAL) gegen den Widerstand von CDU und FDP unterstützt. Die lokalpolitische Kontroverse thematisierte in den folgenden Jahren die Legitimität ebenso wie Sinn und Zweck eines solchen Denkmals. Die öffentlich geführte Debatte sensibilisierte darüber hinaus auch Teile der Bevölkerung, die mit Büchertischen und Diskussionsveranstaltungen auf diese Thematik aufmerksam gemacht und informiert wurde, für das Schicksal von Deserteuren und deren Beweggründe. Diese Debatten der 1980er Jahre dienten als Wegbereiter für die politische und juristische Rehabilitierung der Deserteure in den 1990er Jahren auf Bundesebene. 1988 wurde in Göttingen ein Gipsmodell des Denkmals von Ludwig Baumann, dem prominentesten Wehrmachtsdeserteur und Initiator der 1990 gegründeten "Bundesvereinigung Opfer der NS-Militärjustiz", öffentlich enthüllt, um innerhalb der Göttinger Bevölkerung für die Erinnerung an Deserteure zu werben. Nachdem sich seit Sommer 1989 eine parlamentarische Mehrheit zu Gunsten des Denkmals abgezeichnet hatte, konzentrierte sich die Auseinandersetzung auf den Widmungstext der Tafel. Es bestand kein Konsens darüber, ob der Text eine historische Einschränkung auf die Wehrmacht-Deserteure aus der Zeit des Nationalsozialismus enthalten oder ob eine "globale" und universale Textversion ("allen Deserteuren aller Kriege") bevorzugt werden sollte. Man einigte sich nach dem do, ut des-Prinzip schließlich auf einen Kompromiss: die SPD-Ratsfraktion setzte ihren Text durch, der nur auf die Soldaten der Wehrmacht Bezug nimmt, die Initiatoren des Denkmals bestimmten den Standort. So wurden "Die Kirschen der Freiheit" am so genannten Amtshaus, einer ehemaligen Göttinger Kaserne, angebracht; sie fungierten als Gegendenkmal und Kontrapunkt zu einem ca. 150 m gegenüber aufgestellten "klassischen" Kriegerdenkmal".4
Am 1. September 1990 wurde das Denkmal schließlich eingeweiht − und zwar deutschlandweit als erstes, das offiziell durch einen Ratsbeschluss sanktioniert und von einem amtierenden Oberbürgermeister enthüllt und in städtische Obhut genommen worden war. Trotz der Einschränkung auf die Wehrmacht-Deserteure des Zweiten Weltkrieges avancierte das Denkmal in den 1990er und 2000er Jahren zum Versammlungsort für Proteste und Demonstrationen gegen aktuelle militärische Konflikte. Ursprünglich im Kontext der 1980er Jahre entstanden erfuhr es unter den zeitgenössischen Kriegen eine Aktualisierung. Gleichwohl ist es allerdings noch nicht in der Erinnerungslandschaft der Göttinger Denkmäler angekommen. In der Bevölkerung ist es nahezu unbekannt, auch der "Standort" erhöht die Sichtbarkeit nicht, es ist quasi "gegen Aufmerksamkeit imprägniert"5. Es harrt noch seiner vollständigen geschichtskulturellen Integration und dient bislang nur einer Minderheit als Ausgangspunkt für sporadische, friedenspolitische Kundgebungen.
Literatur:
Marco Dräger, Denkmäler für Deserteure? Exemplarische Pro- und Contra-Diskussion im Unterricht. In: Geschichte lernen, Heft 151 (2013), S. 22-27.
Marco Dräger, "Land ohne Erinnerung" oder Kampf der Erinnerungen? Das Ehrenmal des Infanterie-Regiments Nr. 82 und sein Sturz. In: Geschichtsverein für Göttingen und Umgebung e.V. (Hrsg.), Göttinger Jahrbuch 60 (2012), Göttingen 2013, S. 295-325.
Marco Dräger, Sterben oder desertieren für den Frieden? Zwei Generationen, zwei Denkmäler, ein Ziel. Unter: http://www.bv-opfer-ns-militaerjustiz.de/uploads/Dateien/Stellungnahmen/...
Eckart Stedeler, Der Stein des Anstoßes. Ein Denkmal für Deserteure. In: Carola Gottschalk (Hrsg.), Verewigt und Vergessen. Kriegerdenkmäler, Mahnmale und Gedenksteine in Göttingen, Göttingen 1992, S. 134-140.
- 1. Norbert Haase, Die Zeit der Kirschblüten ... . Zur aktuellen Denkmalsdebatte und zur Geschichte der Desertion im Zweiten Weltkrieg. In: Fietje Ausländer (Hg.): Verräter oder Vorbilder? Deserteure und ungehorsame Soldaten im Nationalsozialismus, Bremen 1990, S. 130−156, hier S. 130.
- 2. Susanne Schregel, Konjunktur der Angst. "Politik der Subjektivität" und "neue Friedensbewegung", 1979−1983. In: Bernd Greiner, Christian Th. Müller, Dierk Walter (Hrsg.), Angst im Kalten Krieg, Hamburg 2009, S. 495−520; Susanne Schregel, Der Atomkrieg vor der Wohnungstür. Eine Politikgeschichte der neuen Friedensbewegung in der Bundesrepublik 1970−1985, Frankfurt am Main und New York 2011.
- 3. Haase, Zeit der Kirschblüten (wie Anm. 1), S. 130.
- 4. Marco Dräger, "Land ohne Erinnerung" oder Kampf der Erinnerungen? Das Ehrenmal des Infanterie-Regiments Nr. 82 und sein Sturz. In: Geschichtsverein für Göttingen und Umgebung e.V. (Hrsg.), Göttinger Jahrbuch 60 (2012), Göttingen 2013, S. 295-325, hier S. 316-319.
- 5. Robert Musil, Denkmale. In: Adolf Frisé (Hrsg.), Robert Musil. Gesammelte Werke, Bd. 2: Prosa und Stücke, Kleine Prosa, Aphorismen, Autobiographische, Essays und Reden, Kritik, Reinbek bei Hamburg 1978, S. 506-509, hier S. 506. Zur (Un-)Sichtbarkeit von Denkmälern siehe ebd.