VIII. Teil: Krieg in der Ukraine – Folgen für die Geschichtswissenschaft
Jannes Bergmann/Wencke Meteling
Interview
Veröffentlicht am: 
17. Juni 2022

In unserem Interview mit Prof. Dr. Klaus Gestwa, dem Leiter des Instituts für Osteuropäische Geschichte an der Eberhard Karls Universität Tübingen, sprechen wir über einen ganz anderen Aspekt des gegenwärtigen Krieges in der Ukraine, der in der gegenwärtigen öffentlichen und politischen Berichterstattung kaum im Fokus steht. Er betrifft unmittelbare und längerfristige Auswirkungen des Krieges auf die Osteuropäische Geschichte als akademische Subdisziplin.

 

Herr Gestwa, Sie gehören zu denjenigen, die angesichts der russischen Truppenmassierung an der ukrainischen Grenze eine Invasion erwartet haben. Was ging Ihnen durch den Kopf, als der russische Einmarsch in die Ukraine Realität wurde, und welche ersten Maßnahmen haben Sie als Institutsleiter ergriffen, um auf den Krieg zu reagieren?

Der Kriegsausbruch hatte sich in den Tagen zuvor schon abgezeichnet. Aber der Beginn der Kampfhandlungen wirkte dennoch wie ein Schock, zumal sofort klar war, dass Putin keinen regional begrenzten, sondern einen großen Eroberungskrieg angeordnet hatte, um die Ukraine als demokratisches Staatswesen und Nation zu vernichten.

Unser Institut hat sich sofort mit dem Slavischen Seminar an der Universität Tübingen und mit den Kolleg*innen an der Universität Heidelberg kurzgeschlossen, um für den nächsten Tag am Abend eine Zoom-Veranstaltung zu organisieren. Der Zulauf aus ganz Deutschland war enorm. In der Sitzung berichteten vier Ukrainer*innen über ihre aktuelle Situation, Ängste und Erwartungen. Anschließend gab es eine hochemotionale Diskussion. Diese Form der „akademischen Gruppentherapie“ war äußerst bewegend. Mich hat in der Diskussion vor allem die immer wieder von ukrainischen Teilnehmer*innen angesprochene große Wehrbereitschaft ihrer Heimat beeindruckt. Sie sollten damit recht behalten; der auch von mir erwartete schnelle russische Eroberungsfeldzug geriet schon nach wenigen Tagen ins Stocken.

Mit Kriegsbeginn häuften sich bei mir die Medienanfragen. Ich hatte schon zuvor erste Interviews zum heraufziehenden Krieg gegeben. Zudem saß ich an einem längeren Beitrag für die Bayerische Landeszentrale für Politische Bildungsarbeit. Der spielerische Arbeitstitel lautete „Putin auf Kriegspfad“. Er war mit dem 24. Februar blutiger Ernst geworden. Ich stellte meine Analyse unter Hochdruck fertig, sodass sie als Online-Sonderausgabe schon am zweiten Kriegstag erscheinen und eine erste zeithistorische Einordnung bieten konnte.

Die Medienarbeit setzt sich bis heute fort. Um den 9. Mai herum, den politisierten „Tag des Sieges“, gab es eine besonders große Nachfrage nach meiner Expertise. Die kurzen Medienformate finde ich mitunter befremdlich, weil komplexe Sachverhalte auf knappe Statements heruntergedampft werden müssen.

Wie wir auf der Homepage Ihres Instituts für Osteuropäische Geschichte an der Universität Tübingen gesehen haben, bemühen sich Ihr Team und Sie sehr darum, geflüchtete Wissenschaftler*innen aus der Ukraine aufzunehmen und die Öffentlichkeit über die Kriegsgeschehnisse und ihre historischen Hintergründe zu informieren. Welche Unterstützung können Sie den Wissenschaftler*innen bieten, was funktioniert gut und wo stoßen Sie an Grenzen?

Bei allen Medienanfragen legen Sie Wert darauf, auch und gerade in Schulen als Osteuropahistoriker über den Krieg aufzuklären. Welche Eindrücke nehmen Sie von dort mit? Erfreulicherweise haben Universitäten, Stiftungen, Museen und Gedenkstätten schnell reagiert. Es gibt mehrere unkomplizierte Förderprogramme für geflüchtete Kolleg*innen sowohl aus der Ukraine als auch aus Russland und Belarus. Wir haben die an unserem Institut aufgenommenen Wissenschaftler*innen inzwischen für die nächsten Monate mit Auffangstipendien versorgen können. Sie haben sich auch gut in das akademische und soziale Leben in Tübingen integriert. Das Miteinander ist anregend. Wir spüren, dass die ukrainischen Kolleg*innen das deutsche Engagement für sie zu schätzen wissen, aber große Bedenken haben, ob die Berliner Politik nicht doch noch einem faulen Kompromiss mit Russland zu Lasten der Ukraine zustimmen wird. Vor allem der von Alice Schwarzer lancierte offene Brief hat großes Unverständnis ausgelöst und die Zweifel an der deutschen Solidarität bekräftigt.

Das Gespräch kommt immer wieder darauf, dass Teile der Bundesregierung den aggressiv-expansiven Charakter des Putin-Regimes immer noch nicht verstanden haben. Großen Respekt bringen unsere ukrainischen Kolleg*innen der Außenministerin Annalena Baerbock entgegen, die bei ihrem Kiew-Besuch die richtige politische Tonlage von Empathie und Entschlossenheit getroffen hat.

Unklar ist noch, wie es nach Ablauf der mehrmonatigen Stipendien mit unseren Gästen weiter gehen wird. Die ukrainischen Kolleg*innen wollen überwiegend in ihre Heimat zurückkehren. Sie wissen aber, dass dies in der nächsten Zeit schwer möglich sein wird. Zudem ahnen sie, dass sie zu Hause viel Aufbauarbeit erwarten wird, weil die russischen Streitkräfte universitäre Einrichtungen, Archive und Museen systematisch unter Beschuss nehmen. Selenskyjs Vorwurf von einem „kulturellen Genozid“ findet darum viel Resonanz. Wir Deutsche zucken bei diesem Begriff immer gleich zusammen. Er macht aber deutlich, dass es dem Putin-Regime mit aller Macht um eine Entukrainisierung des östlichen Europas geht.

Viele vor politischen Schikanen und Repressionen geflüchtete russische Kolleg*innen werden vermutlich länger im Ausland bleiben müssen. Sie werden es in Deutschland jedoch schwer haben, eine reguläre Universitätslaufbahn einzuschlagen. Es bedarf darum neuer Programme und Arrangements, um ihnen, die oftmals nicht nur politisch engagiert, sondern auch hochqualifiziert sind, weiteres akademisches Arbeiten zu ermöglichen. Es gibt sogar schon erste Überlegungen und Initiativen zum Aufbau von Exilstrukturen.

Bei unserer Öffentlichkeitsarbeit legen wir in unserem Institut viel Wert darauf, in Schulen und Lehrerseminaren über die Ursachen und Folgen des russischen Angriffskrieges aufzuklären. Uns wird stets viel Aufmerksamkeit entgegengebracht. Die Diskussionen sind anregend. Wir erkennen aber, dass Talkshows und Internetplattformen, in denen manche mit starkem Selbstbewusstsein ihre große Ahnungslosigkeit zur Schau stellen, Einfluss auf die Meinungsbildung nehmen. Manche gehen der russischen Propaganda zumindest punktuell weiterhin auf den Leim. Besonders diejenigen, die in der NATO und den USA die Ursache allen internationalen Übels sehen, lassen sich kaum davon abbringen, dass die NATO-Osterweiterung den Ukrainekrieg heraufbeschworen hat, auch wenn sich ihre festbetonierte Meinung auf brüchige Halbwahrheiten und Desinformation stützt.

Sicher wirft der Krieg auch in ihren Lehrveranstaltungen lange Schatten. Welche Gespräche und Diskussionen ergeben sich mit Ihren Studierenden – aus Deutschland und aus Osteuropa? Erwarten Sie in den nächsten Jahren ein anhaltendes erhöhtes Interesse an Ihrer Disziplin von Studierenden, die diese bisher vielleicht eher am Rande wahrgenommen haben?

Im letzten Wintersemester hatte ich eine Vorlesung zur Geschichte Russlands seit 1991 und ein Hauptseminar zu den politisierten Erinnerungskonflikten im östlichen Europa angeboten. Der Zulauf war rege; im Verlauf des Semesters gewannen beide Themen enorm an Brisanz. Das Semester endete wenige Tage vor Kriegsbeginn, doch viele Studierende hatten dank der Gespräche in den Lehrveranstaltungen schon erkannt, wie ernst sich die Situation um die Ukraine darstellte. Jetzt wissen sie vor allem unsere Präsenz bei Twitter zu schätzen.

Was die Nachhaltigkeit des aktuell großen studentischen Interesses betrifft, so bin ich skeptisch. Wir konnten schon 2014 nach der Krim-Annexion erfahren, dass die große Aufmerksamkeit schnell nachließ. Wir werden mit weiteren Veranstaltungen und auch Exkursionen versuchen, Studierende dauerhaft für uns zu interessieren. Weil wir engagierte Lehre betreiben und das soziale Miteinander im Institut gut funktioniert, sind wir zuversichtlich. Vor allem wollen wir mit neuen Auslandsangeboten dafür werben, dass Studierende mehrere Monate im östlichen Europa verbringen, um dort aus eigener Anschauung wichtige Erfahrungen zu erwerben. Unsere Partnerhochschulen in Russland kommen dafür vorerst leider nicht in Frage. Gemeinsam mit dem Slavischen Seminar arbeiten wir an Alternativen im Baltikum, im Kaukasus und hoffentlich auch bald wieder in der Ukraine.

Ob die Zahl der Studierenden aus Osteuropa dauerhaft ansteigen wird, bleibt abzuwarten. Sie beleben in jedem Fall unser Institutsleben. Ich würde mich daher sehr über mehr Zulauf aus der Ukraine und auch aus Russland sowie Belarus freuen. Die Universität Tübingen hat erfreulicherweise die Rahmenbedingungen – auch die finanziellen – deutlich verbessert, um mehr Studierende aus den betreffenden Ländern fördern und aufnehmen zu können. Hoffen wir, dass diese Programme auf Dauer gestellt werden.

Durch den Krieg wurde und wird auch ein Teil der Forschungsinfrastruktur zerstört, Archivaufenthalte, wenn überhaupt möglich, gestalten sich äußerst schwierig und die Zusammenarbeit in Forschungsgruppen mit russischen und ukrainischen Wissenschaftler*innen ist teils emotional belastet, teils ganz ausgesetzt. Erleben Sie den Krieg als eine Sinnkrise für Ihre Disziplin, die russische Geschichte? Und wie schätzen Sie dessen längerfristige Auswirkungen auf die institutionellen und die persönlichen Bande zwischen Kommiliton*innen/Osteuropahistoriker*innen in Deutschland, der Ukraine und Russland ein?

Der russische Angriffskrieg bedeutet gerade für unser Fach einen massiven Umbruch. Langbestehende und sorgsam gepflegte Netzwerke sind mit einem Mal bedroht. Aktuell kann ich mir nicht vorstellen, bald wieder in russischen Archiven spannende Dokumente zu sichten und abends mit meinen Kolleg*innen bei Bier und Wein neue Projekte zu besprechen. Auch auf Forschungsreisen in die Ukraine werde ich im Jahr 2022 wohl verzichten müssen. Das fehlt mir, zumal ich aktuell im Forschungssemester bin und Aufenthalte in Moskau sowie Kiew fest eingeplant waren.

Kürzlich sagte mir daher eine Kollegin, ich hätte jetzt eben kein Forschungs-, sondern ein Kriegssemester. Das stimmt, denn der Ukraine-Krieg dominiert meine gesamte akademische Tätigkeit. Ich habe den Druck, nun vor allem meiner gesellschaftspolitischen Verantwortung gerecht werden zu müssen. In dem, was ich gerade mache, sehe ich deshalb durchaus einen Sinn. Aber die eigentliche historische Forschungsarbeit leidet darunter.

Aktuell leite ich zwei internationale Forschungsprojekte, in deren Rahmen auch russische Kolleg*innen in Tübingen eine Anstellung gefunden haben, die sich nun sehr um ukrainische Geflüchtete bemühen. Ein Projekt basiert stark auf Recherchen in russischen und ukrainischen Archiven. Im Jahr 2021 machte uns Corona einen Strich durch die Rechnung, nun der Krieg. Wir haben das Arbeitsprogramm deshalb umformuliert und hoffen darauf, in der verbliebenen Förderdauer etwas Vorzeigbares erarbeiten zu können.

Zwei weitere Projekte, die schon eingereicht worden sind, liegen jetzt auf Eis. Das schmerzt, gerade weil es mit ihnen darum ging, zwei russische Kolleg*innen nach Tübingen zu holen, um hier mit ihnen eng zusammenzuarbeiten. Aber die Wissenschaft kann bei der Sanktionspolitik nicht außen vor bleiben, zumal sich viele russische Hochschulen und führende Personen aus dem akademischen Betrieb zu Putins Kriegskurs bekennen.

Umso wichtiger ist es für uns, den persönlichen Kontakt zu unseren befreundeten Kolleg*innen aufrechtzuerhalten. Viele befürchten, dass Russland auf dem besten Weg sei, ein „großes Nordkorea“ zu werden. Wir organisieren darum Zoom-Workshops, um den uns wichtigen russischen Wissenschaftler*innen zu zeigen, „Wir vergessen Euch nicht!“.

Weil meine russischen Bekannten mehrheitlich schon lange auf Distanz zum Putin-Regime gegangen sind, fühlen sie mit den ukrainischen Kolleg*innen. Sie haben im Rahmen von Kooperationsprojekten sogar vorgeschlagen, die für sie vorgesehenen Mittel den ukrainischen Partner*innen zur Verfügung zu stellen.

Zu denjenigen, die sich vom russischen Hyperpatriotismus haben anstecken lassen, sind wir schon 2014 nach der Krim-Annexion auf Distanz gegangen. Das hat zur Folge, dass wir jetzt keine abstrusen Diskussionen mit Putins nicht gerade kleinen propagandistisch narkotisierten Hilfstruppen mehr führen müssen.

In vielen meiner Interviews ist es mir ein wichtiges Anliegen, auf das „andere Russland“ hinzuweisen, für die – wie ein bekannter russischer Rockstar bei seinem Konzert kürzlich verkündete – das Bekenntnis zur Heimat nicht heißt, fortwährend dem Kreml-Sultan den Hintern zu küssen. Diese über die Kremlpropaganda hinausdenkenden Menschen, die nicht von der infektiösen Mischung eines permanenten Beleidigtseins mit krankhafter Rachsucht befallen sind, bilden einen Felsen in der russischen Kriegsbrandung. Darauf sollten wir unsere zukünftigen Aktivitäten mit und vielleicht bald auch wieder in Russland aufbauen. Ich sehne eine Entputinisierung herbei und sträube mich weiter hartnäckig dagegen, Russland für unser Fach dauerhaft verloren zu geben. Das käme für mich und für viele andere einer akademischen Amputation gleich.

Die Osteuropäische Geschichte ist diejenige historische Subdisziplin, die – vielleicht gemeinsam mit der Militärgeschichte – durch den Krieg momentan am meisten Aufmerksamkeit und Interesse in der nicht-akademischen Öffentlichkeit erfährt. Sehen Sie darin auch eine Chance, die Menschen außerhalb der Wissenschaft für die Wichtigkeit und Bedeutung Ihres Faches zu sensibilisieren?

In der Osteuropäischen Geschichte hat gerade eine selbstkritische Debatte über die Lage des Fachs begonnen. Wir hatten in unserer Selbstüberschätzung die Illusion, durch die akademische Zusammenarbeit zum politischen Wandel in Russland mit beitragen zu können. Zwar gab es in unserem Fach einige, die sich als Gegenstromanlage im Mainstream gefielen und sich beispielsweise sogar zu Aussagen verstiegen wie „Wir sollten froh sein, dass Putin an der Macht ist“ (Jörg Baberowski, Februar 20181). Aber in der großen Mehrheit haben wir in unseren Studien den brutalen Gleichschritt zwischen innerer Repression und äußerer Aggression sorgsam thematisiert. Auch der politische Missbrauch von Russlands Geschichte und kulturellem Erbe durch Putins Cliotherapeuten hat in unserem Fach viel Beachtung gefunden.

Wir haben daher weniger ein Erkenntnis-, sondern vor allem ein Vermittlungsproblem. Es ist uns nicht gelungen, mit unseren wohlbegründeten Befürchtungen ausreichend Einfluss auf Öffentlichkeit und Politik zu nehmen. Den Grund dafür können wir nicht allein den Medien und der Politik zuschieben. Wir haben Gabriele Krone-Schmalz, Matthias Platzeck und anderen Putin-Naivlingen nicht energisch genug öffentlich widersprochen und es uns vielleicht hinter den medial präsenten historischen Warnern wie Karl Schlögel und Timothy Snyder in unserem Elfenbeinturm und unserer akademischen Blase bequem gemacht.

Die medialen Konjunkturen zeichnen sich meist durch kurze Zyklen aus. Deshalb wird die Osteuropäische Geschichte bald in Politik und Öffentlichkeit weniger nachgefragt sein. Wir sollten unsere neuentstandenen Kontakte und Netzwerke aber in Zukunft nutzen, um unsere Expertise anzubieten und unseren Outreach zu verbessern. Glücklicherweise haben die DFG und andere Förderinstitutionen inzwischen erkannt, dass das Hinwirken in die Gesellschaft hinein eine wichtige akademische Aufgabe ist.

Der Wiederaufbau der Ukraine und der politische Wandel in Russland brauchen einen langen Atem. In der nächsten Zeit wird es unsere Aufgabe sein, daran zu erinnern.

Institute für Osteuropäische Geschichte sind hierzulande ein Kind des Kalten Krieges. Das Ende der damaligen Blockkonfrontation haben sie überstanden, aber nach dem Untergang der Sowjetunion verlor die klare institutionelle Unterteilung in west- und osteuropäische Geschichte etwas an Plausibilität. Momentan zeichnet sich eine neue Blockkonfrontation zwischen Demokratien und Autokratien ab, es ist die Rede von einem „Neuen Kalten Krieg“. Wie ordnen Sie die Bedeutung des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine in die Fachentwicklung der Osteuropäischen Geschichte ein – ist er ähnlich einschneidend wie etwa der 11. September 2001 für die Internationalen Beziehungen? Rechnen Sie mit einer Verschiebung von Narrativen und Interpretamenten zur russischen und/oder ukrainischen Geschichte?

Nicht nur für unser Fach, sondern für Europa als Ganzes wird der 24. Februar 2022 ein weit bedeutenderes historisches Datum werden als der 11. September 2001. Angesichts der Dreifachkrise von Klimawandel, Corona-Epidemie und Ukrainekrieg sprach der schweizerische Publizist Eric Gujer kürzlich sogar von einer „Super-Zeitenwende“. Das Gefühl einer neuen Weltunordnung greift immer mehr um sich. Wir müssen deshalb die Welt neu denken. Weil wir das aktuell aber nicht können, neigen wir dazu, uns in Denkschablonen der Vergangenheit zu verlieren.

Der Kalte Krieg ist spätestens 1991 als historische Ära zu Ende gegangen. Die Welt des 21. Jahrhunderts stellt sich wegen der mächtigen Globalisierungsprozesse weit verflochtener und komplizierter dar als während des Ost-West-Konflikts im 20. Jahrhundert. Wir sollten uns zudem bewusst machen, dass wir mit dem Gerede vom „Neuen Kalten Krieg“ und von einer neuen „Blockbildung“ auf die Denkweise Putins einschwenken. In seinem Verständnis von „Geopolitik“ folgt er immer noch einem aus den dunklen Zeiten des 20. Jahrhunderts entlehnten Denkmodell für die internationale Politik, das von in sich geschlossenen Kulturräumen und exklusiven Einflusssphären ausgeht und ein Interventionsverbot für sogenannte „raumfremde Mächte“ propagiert. Der Ukrainekrieg ist nicht zuletzt ein Resultat dieser Denkweise. Sie ist von konservativen Wegbereitern des Nationalsozialismus wie Oswald Spengler, Karl Haushofer und Carl Schmitt inspiriert, die in Moskau seit Jahren hoch im Kurs stehen.

Auch die bis heute fortwirkende Ostpolitik-Nostalgie in einflussreichen deutschen Politikmilieus ist nichts anderes als ein Beweis der gegenwärtigen Konzeptlosigkeit und ein hilfloser Versuch, Probleme des 21. Jahrhunderts mit dem politischen Instrumentarium des 20. Jahrhundert zu lösen. Das ist mächtig schief gegangen, wie das Debakel um Nord Stream 2 demonstriert hat. Mir ist es bis heute unbegreiflich, wie nach der Krim-Annexion und der russischen Intervention in den Syrien-Krieg die Merkel-Regierung ein so ganz und gar nicht „privatwirtschaftliches Unternehmen“ entgegen allen lauten Warnungen auf den Weg bringen konnte. In Zukunft wird dieser grandiose Irrtum auch historisch aufzuarbeiten sein. Dann wird der dunkle Schatten deutlich werden, den der russische Angriffskrieg auf die Schröder- und Merkel-Ära wirft.

Der Globalisierungsdiskurs ist ungeachtet aller kritischen Reflexion mit der naiven Vorstellung einhergegangen, die zunehmenden Interdependenzen würden die Kriegsgefahr begrenzen: Die Welt rückt und wächst zusammen, um eine reflexive globale Moderne entstehen zu lassen. Putin hat uns eines Besseren belehrt. Skrupellos setzt er nun die russischen Energie- und Getreidelieferungen als wirtschaftspolitische Waffen ein – sogar unter Inkaufnahme einer globalen Hungerkatastrophe –, um seine kurzfristig gedachten machtpolitischen Ziele zu erreichen. Langfristig entzieht er aber damit seiner fossilen Diktatur die Existenzgrundlage. Viele Staaten bemühen sich gerade, ihrer Abhängigkeit von russischen Energieträgern und Getreide zu entkommen. Und andere Staaten werden sicherlich darauf achten, sich ökonomisch nicht mehr zu stark an Russland zu binden, sondern eine diversifizierte Außen- und Handelspolitik zu betreiben.

Ob wir bald das Ende der Globalisierung, wie wir sie kannten, erleben werden, das wird sich noch zeigen. Die Rufe nach „nationaler Souveränität“, die schon während der Corona-Pandemie zu vernehmen waren, haben jedenfalls an Lautstärke gewonnen. Auch viele globale Lieferketten werden neu organisiert werden, weil der russische Angriffskrieg auf Aggression gebürstete autoritäre Regime als hoch unzuverlässige Partner enttarnt hat.

In unseren historischen Studien haben wir oftmals den ökonomisch ausgerichteten Globalisierungsdiskurs in den Blick genommen und dessen Wirkmächtigkeit damit letztlich noch einmal bestätigt. Die Bedeutung anderer gleichfalls wichtiger Weltbezüge ist dahinter zurückgetreten. Die aktuelle Situation bietet die epistemische Möglichkeit, daran etwas zu verändern, um verstärkt andere Globalitätsphänomene zu thematisieren. Als Umwelthistoriker denke ich zuallererst an die „ökologische Globalisierung“, die Joachim Radkau und andere angesichts des Klimawandels schon vor mehr als 10 Jahren auf die Agenda der historischen Forschung gesetzt haben. Der russische Angriffskrieg schafft hoffentlich ein wachsendes Problembewusstsein für die Vielzahl von globalen Problemen und stärkt damit die Kompetenzen der Politik, diese alle unter einen Hut und damit einer globalen Lösung nahe zu bringen.

Im Sinne der Hockertschen „Problemgeschichte der Gegenwart“ gibt es gerade sowohl für die Internationale als auch für die Osteuropäische Geschichte einiges zu tun. Unser Geschichtsbild wird sich vermutlich dadurch nicht grundlegend verändern. Es gilt aber, einige Themen und interpretative Akzente anders zu setzen, auch um das gefährliche Verhaftetsein von Politik und Öffentlichkeit in unzeitgemäßen, politisch bedenklichen Denkschablonen offenzulegen. Vielleicht ist diese Dekonstruktionsarbeit unser Beitrag dazu, zu einem angemesseneren Verständnis der Welt des 21. Jahrhunderts zu kommen, um so wieder Zukunft und Frieden zu gewinnen. So düster die Gegenwart und viele Prognosen auch erscheinen; für das eigene Wohlbefinden ist es allemal besser, nicht Kassandra, sondern ein unverbesserlicher Optimist zu sein.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut durch Paul Fröhlich.

 

Zitierempfehlung: Jannes Bergmann/Wencke Meteling, Interview mit Prof. Dr. Klaus Gestwa. VIII. Teil: Krieg in der Ukraine – Folgen für die Geschichtswissenschaft, in: Themenschwerpunkt „Krieg in der Ukraine. Militär- und gewaltgeschichtliche Hintergründe“, hg. von Jannes Bergmann/Paul Fröhlich/Gundula Gahlen, Portal Militärgeschichte, 17. Juni 2022, URL: https://portal-militaergeschichte.de/bergmann_meteling_interview_gestwa (Bitte fügen Sie in Klammern das Datum des letzten Aufrufs dieser Seite hinzu).

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