I. Teil: Krieg in der Ukraine – Historische Parallelen und zukünftige Auswirkungen
Jannes Bergmann/Paul Fröhlich
Interview
Veröffentlicht am: 
11. März 2022

Der völkerrechtswidrige russische Angriffskrieg in der Ukraine stellt auch die Militärgeschichte vor neue Herausforderungen und Fragen. Kaum jemand mag die weitere Entwicklung der gegenwärtigen Situation angesichts der kriegstypisch problematischen Informationslage einschätzen können. In jedem Fall stellt dieser aber einen Einschnitt in der europäischen Geschichte und Sicherheitspolitik seit dem Ende des Kalten Krieges dar, der voraussichtlich einiges an Veränderungen nach sich ziehen wird. In einem Interview mit Prof. Dr. Sönke Neitzel – Inhaber des Lehrstuhls für Militärgeschichte/Kulturgeschichte der Gewalt an der Universität Potsdam – soll daher eine historische Einordnung vorgenommen sowie ein Blick auf die aktuellen und mögliche zukünftige Entwicklungen auf deutscher und internationaler Ebene gewagt werden.

 

Lieber Herr Neitzel, womöglich wird der 24.2.2022 im kollektiven Gedächtnis eine ähnliche Bedeutung einnehmen wie 9/11. Wie haben Sie diesen Tag erlebt und wahrgenommen?

Als ich morgens um 8 Uhr den Fernseher einschaltete, war ich wirklich überrascht. Ich habe es, ehrlich gesagt, nicht wahrhaben wollen, dass Putin diesen Schritt geht, obwohl ja in den Tagen zuvor alle Anzeichen auf Krieg standen. Ob der 24. Februar dieselbe Bedeutung wie 9/11 bekommen wird, hängt sehr vom Verlauf und Ausgang des Krieges ab. Zurzeit spricht viel dafür, dass es wirklich zu einer sicherheitspolitischen Zeitenwende kommt und dann beginnt am 24. Februar in der Tat eine neue Zeitrechnung.

Der „fog of war“ und die „information warfare“ macht eine gegenwärtige Einschätzung der militärischen Lage nur schwer möglich. Dennoch scheint es, als würde die Ukraine länger Widerstand leisten können als von westlichen Beobachtern und wohl auch von Putin angenommen. Wie bewerten Sie den bisherigen Verlauf der Kämpfe?

Offensichtlich haben Putin und seine Generäle die Ukraine unterschätzt. Sie haben sich in den vergangenen sieben Jahren sehr genau und gewissenhaft auf diesen Konflikt vorbereitet. So lief der versuchte „Enthauptungsschlag“ ins Leere. Die ukrainische Luftwaffe wurde nicht ausgeschaltet, verlegte ihre Maschinen in der Nacht vor dem Angriff in den Westen und Süden des Landes. Die Luftverteidigung ist nicht entscheidend getroffen, die Luftlandekräfte stießen auf großen Widerstand. Jetzt haben die russischen Streitkräfte umgruppiert und bringen Stück für Stück ihre ganze Feuerkraft zum Einsatz. Nach wie vor wird die Durchhaltefähigkeit der ukrainischen Streitkräfte von der NATO mit Staunen zur Kenntnis genommen.

Mit zunehmender Dauer scheint der Krieg eine neue Eskalationsstufe anzunehmen. Zuletzt hatte Putin sogar indirekt mit dem Einsatz von Atomwaffen gedroht. Wie realistisch erscheint das Szenario eines Atomwaffeneinsatzes und welche Fragen wirft das im Hinblick auf die Verteidigungsstrategie der NATO und die Rolle der USA als stärkste Atommacht im Bündnis auf?

Man ist geneigt einen Atomwaffeneinsatz Putins als unwahrscheinlich abzutun, aber kann es nach dem 24. Februar eigentlich noch Gewissheiten geben? Die NATO muss zumindest mit einem solchen Szenario rechnen. Daher gewinnt die nukleare Abschreckung der Vereinigten Staaten wieder eine deutlich größere Bedeutung zur Sicherheit der europäischen NATO-Staaten. Es gewinnen aber auch wieder längst überwunden geglaubte Fragen des Kalten Krieges an Aktualität: Werden die Vereinigten Staaten den kollektiven Untergang für einen kleinen baltischen Staat riskieren? Man ist zurück in den Zeiten der „flexible-response“-Strategie.


China hat sich zuletzt deutlich an Russlands Seite positioniert. Dennoch sind die bisherigen Reaktionen seit Beginn des Krieges eher verhalten, zuletzt distanzierte sich Peking sogar von Russland. Wie bewerten Sie Chinas Rolle und Interessen in diesem Konflikt?

China steht in diesem Krieg eng an der Seite Russlands – nicht zu eng, aber doch klar positioniert. Einzig Peking hat die Möglichkeit, Druck auf Putin auszuüben und den Krieg zu beenden. Ich glaube nicht, dass China dies tun wird. Es wartet eine militärische Entscheidung zugunsten Russlands ab, um dann ggfs. als Vermittler aufzutreten. Es wird aber immer ein Interesse daran haben, die NATO und die USA zu schwächen. Ob darüber Tausende ukrainische Zivilisten zugrunde gehen, dürfte den chinesischen Machthabern ziemlich gleichgültig sein.


Inzwischen ist der Angriff auf die Ukraine nicht einmal eine Woche her und dennoch entsteht der Eindruck, dass viele Gewissheiten und Grundannahmen über Bord geworfen wurden. Vor allem die Bundesregierung aus SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen hat nach anfänglichem Zögern einen Paradigmenwechsel eingeleitet. Ist dies nur der Anfang einer entscheidenden Zäsur in der deutschen Bündnis- und Außenpolitik oder schon die Klimax?

Das hängt sehr vom weiteren Verlauf des Krieges ab. Wenn dieser morgen endet, wird meines Erachtens viel von der Wirkung der Regierungserklärung verpuffen. Wenn er noch etliche Wochen weitergeht – und dafür spricht viel – wird es in der Tat zu einem Paradigmenwechsel kommen müssen. Erstmals seit 30 Jahren muss dann in der Bundeswehr wieder über die Fähigkeit zur Kriegführung nachgedacht werden.


Innerhalb der internationalen Bündnispolitik zeigen sich Entwicklungen, die noch vor kurzem undenkbar waren. Auch wenn Finnland und Schweden ein Festhalten an ihrem Neutralitätskurs betonen, so ist ein Beitritt zur NATO dennoch kein grundsätzliches Tabuthema mehr. Gleichzeitig gibt es in den USA innerhalb der Republikaner rechtskonservative Gruppen, die Putins Handlungen deutlich befürworten. Welche Auswirkungen könnten sich durch den Krieg für die NATO in Europa ergeben?

Gerade im Hinblick auf den Ausgang der nächsten US-Präsidentschaftswahlen ist die große Frage, wie verteidigungsbereit die europäischen NATO-Staaten auf absehbare Zeit sein werden. Eine strategische Autonomie lässt sich auch mittelfristig sicher nicht herstellen. Aber werden die Europäer endlich ihre endlosen Streitigkeiten beenden, werden sie die europäische Verteidigung stärken oder doch wieder nur egoistisch die nationalen Interessen in den Vordergrund stellen? Der Krieg in der Ukraine könnte auch hier zu grundlegenden Veränderungen führen. Und wer weiß, vielleicht erwachen die Europäer ja wirklich aus ihrer Traumwelt.


Die Bundesregierung hat am 27. Februar für die Bundeswehr ein sogenanntes Sondervermögen von 100 Milliarden Euro in Aussicht gestellt, um deutlich mehr »in die Sicherheit unseres Landes« zu investieren. Ein erhöhter Verteidigungsetat allein wird jedoch kaum ausreichen, um den Wandel bzw. die Rückführung von einer Einsatz- zu einer Verteidigungsarmee zügig durchzuführen. Wo sehen Sie die größten Baustellen beim künftigen Ausbau der Bundeswehr?

Die Bundeswehr muss wieder über die Fähigkeit nachdenken, einen wesentlichen Beitrag zur Bündnisverteidigung zu leisten. Oder formulieren wir es drastischer: Sie muss kriegsfähig werden. Das größte Problem ist die dysfunktionale Organisation nicht nur des Rüstungsbereiches, sondern auch des Verteidigungsministeriums und der Streitkräfte. Es gibt zu viele Organisationsbereiche, keine klaren Verantwortungen und Entscheidungsprozesse. Zurzeit sehen wir das Spiel „Wünsch Dir was“. Jeder stellt Wunschlisten auf, welches Material er gerne hätte. Im Vordergrund muss aber stehen: Wann ist die erste Brigade des Heeres kampfbereit, wann die zweite und wann die dritte und damit die erste Division. Dasselbe gilt für die Luftwaffe, wobei hier die Dinge aufgrund der sehr teuren Technik noch komplizierter sind.

 

Aus (militär-)historischer Perspektive mag man von einem Rückfall in die Blockkonfrontation des Kalten Krieges sprechen (siehe der Einmarsch in Ungarn 1956 und in die Tschechoslowakei 1968). Aber lässt sich angesichts neuer Akteure die komplexe Gemengelage überhaupt vergleichen? Gibt es Ihrer Ansicht nach deutliche Parallelen, was sind entscheidende Unterschiede?

Vergleichen kann man immer, aber natürlich wird man deutliche Unterschiede zur heutigen Situation feststellen. Anders als Ungarn oder die Tschechoslowakei befindet sich die Ukraine schon seit 30 Jahren nicht mehr in einem Verteidigungsbündnis mit Russland, es gibt keine Breschnew-Doktrin und zumindest bis zum 24. Februar keinen Kalten Krieg. Vor allem: Es geht um die kulturelle Eigenständigkeit der Ukraine. Die hat Moskau 1956 weder Ungarn noch 1968 der Tschechoslowakei und schon gar nicht 1980 Polen abgesprochen.


Die internationale Ächtung des Krieges verbunden mit Boykottaktionen ebenso wie der Widerstand in der russischen Bevölkerung selbst wecken Erinnerungen an die Reaktionen auf die sowjetische Intervention in Afghanistan 1979, die letztendlich bedeutend zum Zerfall der Sowjetunion beitrug. Könnte der Krieg in der Ukraine in Verbindung mit den wirtschaftlichen Sanktionen langfristig ähnliche Auswirkungen für das „System Putin“ haben?

Alle Beobachter sind sich einig, dass Putin diesen Krieg bereits verloren hat. Er kann ihn vielleicht taktisch gewinnen und zumindest Teile der Ukraine besetzen. Aber er wird mittel- und langfristig dieses Land nicht beherrschen können. Die Kosten für das Erreichte sind für Russland schon jetzt enorm. Allerdings sollten wir mit Prognosen vorsichtig sein. Es hängt sehr davon ab, wie lange der Krieg dauert, welche Rolle China spielt, ob es dauerhaft bei den harten Wirtschaftssanktionen bleibt. Und selbst wenn Putin in einigen Jahren stürzen würde, ist immer noch die Frage, was danach kommt.


Etwas Spekulation – Der Krieg ist nicht nur nach Europa, sondern auch schlagartig in die Köpfe zurückgekehrt. Auch die Militärgeschichte steht damit wieder stärker im Fokus der öffentlichen Wahrnehmung und soll Erklärungen für aktuelle Entwicklungen bieten. Besteht hier die Gefahr, dass die Militärgeschichte 3.0 wieder anwendungsorientierter bzw. „applikatorisch“ wird?

Ach je, das wird ja immer wieder als ein Schreckgespenst in Deutschland beschworen. Merkwürdigerweise ist mir in meiner Zeit in Großbritannien diese Frage nie gestellt worden. Aber ich kann Sie beruhigen: Die deutsche Militärgeschichte und das deutsche Militär bewegen sich – von Ausnahmen abgesehen – in zwei völlig unterschiedlichen Sphären und ich glaube nicht, dass sich daran etwas ändern wird.

 

Zitierempfehlung: Jannes Bergmann/Paul Fröhlich, Interview mit Prof. Dr. Sönke Neitzel. I. Teil: Krieg in der Ukraine – Historische Parallelen und zukünftige Auswirkungen, in: Themenschwerpunkt „Krieg in der Ukraine. Militär- und gewaltgeschichtliche Hintergründe“, hg. von Jannes Bergmann/Paul Fröhlich/Gundula Gahlen, Portal Militärgeschichte, 11. März 2022, URL: https://portal-militaergeschichte.de/bergmann_froehlich_interview_neitzel (Bitte fügen Sie in Klammern das Datum des letzten Aufrufs dieser Seite hinzu). 

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