Zwischen dem 11. und dem 13. September 2024 fand im Kongresshotel Potsdam die diesjährige Internationale Tagung der Militärgeschichte (ITMG) statt mit dem Thema Streitkräfte zwischen den Weltkriegen: Erfahrungen und Erwartungen in der nationalen und transnationalen Diskussion. Dabei wurde der Fokus auf eine trans- und internationale Perspektive gelegt, um eine Diskussion über den nationalen Kontext hinaus zu ermöglichen.
ALARIC SEARLE (Potsdam), der wissenschaftliche Leiter des Zentrums für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr (ZMSBw), verwies in seiner Eröffnungsrede auf die internationale Besetzung der Tagung und unterstrich, dass bei der diesjährigen ITMG auch Staaten im Mittelpunkt stünden, deren militärische Entwicklung in der Erforschung der Zwischenkriegszeit bisher zu wenig Beachtung fanden. Ihm folgte MARKUS PÖHLMANN (Potsdam), der die militärischen, technologischen und geopolitischen Besonderheiten des zu untersuchenden Zeitraumes betonte und diese in den Kontext der von Reinhart Koselleck geprägten Begriffe „Erwartungsraum“ und „Erwartungshorizont“1 stellte.
Das erste Panel unter Leitung von AGILOLF KESSELRING (Helsinki) widmete sich dem Aufbau von Streitkräften in der Zwischenkriegszeit. MIKKO KARJALAINEN (Helsinki) referierte über finnische Verteidigungsstrategien, IGOR KOPÕTIN (Tartu) über das estnische Militär. Die Perspektive europäischer Staaten wurde durch den Vortrag ALEXANDER REINECKES (Bochum) ergänzt, der über die Entwicklung der US-Army zwischen 1920 und 1939 berichtete. Dieses Tagungs-Panel verdeutlichte eindringlich die transnationalen Zusammenhänge der Streitkräfte, am Beispiel militärischer und technologischer Zusammenarbeit. Militärs rezipierten, diskutierten oder kopierten Fortschritte anderer Staaten und ließen sie in die Entwicklungen der eigenen Streitkräfte einfließen. Das Spektrum reichte dabei von fachspezifischen Diskussionen innerhalb der Militärpublizistik bis hin zur Integration ausländischer Konzepte - wie am Beispiel der finnischen Jägertruppe dargestellt, die stark durch die Entwicklung von Offizieren der Reichswehr geprägt wurde. Alle Vorträge betonten darüber hinaus, wie sehr die Ausbildung von Offizieren an ausländischen Militärakademien und der Aufbau eigener Streitkräfte mit Hilfe ausländischer Berater zum Alltag der angesprochenen Armeen in der Zwischenkriegszeit gehörte.
Die Bedeutung transnationaler Geflechte im Hinblick auf materielle und wirtschaftliche Grenzen der drei Streitkräfte standen im Mittelpunkt der anschließenden Diskussion. Dabei zeigte sich: die Reichswehr diente international oft als Vorbild, da die auferlegten Beschränkungen zu einer Reihe pragmatischer Entscheidungen führten, die länderübergreifend Gegenstand von Studien und Diskussionen waren. Darüber hinaus wurde eine der zentralen Fragestellungen der Tagung aufgeworfen: In welcher Weise wurden theoretische Überlegungen anderer Streitkräfte zu einer Praxis des eigenen Handelns?
Das nächste Panel befasste sich mit der Frage, inwiefern politische Aspekte die Auswahl und Ausbildung von Soldat:innen beeinflussten. PETER MITCHELL (New York) wählte hierfür eine vergleichende Perspektive zwischen West Point und deutschen Infanterie- und Offiziersschulen der Weimarer Republik. ANDREAS STEIGER (Wiener) hingegen widmete sich dem Mikrokosmos der Theresianischen Militärakademie zwischen 1936/37. Im Anschluss beschäftigte sich GUNDULA GAHLEN (Berlin) mit den psychischen Erkrankungen von Soldaten und Offizieren der Reichswehr und Wehrmacht, sowie deren gesellschaftlicher Akzeptanz. Den Abschluss bildete JOHN ZIMMERMANN (Potsdam), der mit Ulrich de Maizière einen Offizier und General dreier deutscher Streitkräfte vorstellte, dessen Beitrag zur Inneren Führung und dem Bild des Staatsbürgers in Uniform die Bundeswehr nachhaltig prägen sollte. Am Ende dieser Sektion wurde die Frage der Relevanz von Politik in Streitkräften diskutiert und der Mythos apolitischer Offiziere hinterfragt. Dabei wurde der gemeinsame Konsens gefunden, dass das Narrativ einer unpolitischen Reichswehr längst widerlegt sei und auch bis in die jüngere Vergangenheit hinein hatte sich gezeigt, dass Streitkräfte stets politisch gehandelt hatten. Am Beispiel de Maizières zeigte ZIMMERMANN sehr eindrücklich auf, dass auch das bürgerliche Selbstverständnis des Offiziers und späteren Generals kritisch betrachtet werden müsse.
Der Beginn des zweiten Tages war der Technik gewidmet, wobei der Fokus auf deren Bedeutung für künftige Kriegsführung lag. LUTZ BUDRASS (Bochum) und DAMIEN ACCOULON (Orléans) richteten ihre Vorträge auf die bisher wenig besprochenen Luftstreitkräfte aus: Hier wurden die geheimen Aufrüstungsbestrebungen der Reichswehr bei der Genfer Abrüstungskonferenz näher beleuchtet und im Anschluss der gescheiterte Versuch vorgestellt, eine „International Air Police“ zu begründen. Durch die Beiträge von DALIBOR DENDA (Belgrad) und MATHIAS ANDRÉ (Namur) zu den Motorisierungsanstrengungen jugoslawischer und belgischer Streitkräfte rückten die Bodenstreitkräfte wieder in den Mittelpunkt. Diskussion zu den Vorträgen boten insbesondere die Panzer- und Luftwaffen-Doktrinen, die im genannten Zeitraum länderübergreifend diskutiert wurden und militärische sowie politische Führungen nachhaltig prägten. Aber auch der tschechoslowakische Rüstungskomplex wurde in die Diskussion einbezogen. Schließlich hatte dieser bis zu seiner Zerschlagung 1939 nicht nur großen Einfluss auf die Rüstungsanstrengungen in den Ländern der Kleinen Entente, auch andere europäische Kleinstaaten profitierten von den militärischen Entwicklungen der Tschechoslowakei.
Gewaltakteure und Paramilitärs bildeten den Kern des vierten Abschnitts. Durch den Vortrag von FRANZISKA ZAUGG (Bern) zu Gewaltakteuren in „Neuserbien“, YAACOV FALKOVS (Tel Aviv) Beitrag zu sowjetischen Guerilla-Kriegsführungs-Doktrinen und MARKUS WIENS (Sofia) Frage nach einem „Tiefen Staat“ in Mazedonien, zeigte sich unverkennbar die Kontinuität der Gewalt im osteuropäischen Raum. Folglich konnte in der anschließenden Diskussion hervorgehoben werden, dass der Begriff der Zwischenkriegszeit die Perspektive außerhalb Westeuropas unzureichend beschreibt, wenn nicht sogar falsch darstellt. Diese Erkenntnis sollte auch in der Abschlussdiskussion wieder aufgegriffen werden.
Mit ihrem Beitrag über die deutsch-sowjetischen Militärattachés eröffnete MARIA TIMOFEEVA (Bonn) die vorletzte Sektion der ITMG. Im gleichen Themenspektrum der transnationalen Militärkontakte bewegten sich auch die Vorträge von TAKUMA MELBER (Heidelberg), der deutsche Militärberichtsakten in Japan untersuchte, und MICHAEL M. OLSANSKY (Zürich), der einen tieferen Einblick in die österreichisch-schweizerischen Beziehungen der Zwischenkriegszeit gewährte.
In allen Beiträgen wurde deutlich, dass innenpolitische und ideologische Vorstellungen die Arbeit der internationalen Militärkontakte maßgeblich prägen konnten. Dabei kam es immer wieder zu Zielkonflikten zwischen Politik und Militärattachés, die sich nicht nur unmittelbar auf die Arbeit der Gesandten auswirkten, sondern auch maßgeblich mögliche Lerneffekte in den eigenen Streitkräften betrafen. Darüber hinaus wurde insbesondere von MELBER und TIMOFEEVA die bislang nur unzureichend erforschte Quellenlage thematisiert. Die bis dato unberücksichtigten Attaché- und Militärberichte könnten für die Analyse des Tagungsthemas noch weitreichendere Erkenntnisse liefern. Dies wurde auch in der anschließenden Diskussion aufgegriffen und vorgeschlagen, einen Workshop zum Thema „Attaché-Berichte“ zu veranstalten, um der Quellenproblematik zu begegnen. Auf die Frage nach dem Einfluss der NS-Ideologie auf die Analysefähigkeit der deutschen Attachés wiesen die Referenten auf einen zunehmend rassistischen Unterton in den Berichten ab 1933 hin.
Der letzte Abschnitt der Tagung stand unter dem übergeordneten Themenschwerpunkt Herausforderungen. Hierzu stellten WIM KLINKERT (Breda) die niederländischen, MANUEL STĂNESCU (Bukarest) die rumänischen und RAJENDRA SINGH THAKUR (New Delhi) die indischen innen- und geopolitischen Probleme der Streitkräfte vor. Die Vorträge zeigten die Vielfalt der Herausforderungen dieser Armeen (bspw. Kolonialismus, Wahrung der Neutralität, eigene und fremde Allianzsysteme oder Wirtschaftskrisen), aber auch Gemeinsamkeiten, wie die immanente Gefahr einer sowjetisch-kommunistischen Bedrohung, die Politik und Streitkräfte der verschiedenen Nationen prägte.
In der Abschlussdiskussion konnten angeschnittene Fragen und Anregungen der Tagung wieder aufgegriffen werden. Es herrschte allgemeiner Konsens, dass der stärkere Fokus auf kleinere Streitkräfte und bisher vernachlässigte Themenbereiche für das umfassendere Bild einer Zwischenkriegszeit zielführend waren. Der in der Militärgeschichte weiterhin dominierende Blick auf die späteren Hauptakteure des 2. Weltkrieges sollte aufgebrochen werden, auch um den Begriff der Zwischenkriegszeit - der insbesondere im asiatischen und osteuropäischen Raum unpassend wirken kann - zu hinterfragen. Die Quellen zur Erforschung dieses Themenbereichs seien vorhanden, sie müssten zukünftig nur deutlich intensiver herangezogen werden. Kritisch angemerkt wurde außerdem, dass trotz des intensiven Austausches, Attaché-Verbindungen und Militärpublizistik, hinterfragt werden muss, welche Lernfähigkeiten die Streitkräften überhaupt vorweisen konnten. Mit „Viel schreiben – weniger lesen – noch weniger lernen?“ wurde eine mögliche Fragestellung aufgeworfen, die sich explizit den Effekten von inter- und transnationalen Diskussionen widmen und die Erkenntnisse der Tagung weiterführen könnte.
Tagungsprogramm
Mittwoch, 11.09.2024
13:00–13:10 Uhr, Begrüßung
Alaric Searle (ZMSBw, Potsdam)
13:10–13:15 Uhr, Organisatorische Hinweise
John Zimmermann (ZMSBw, Potsdam)
13:15–13:30 Uhr, Einführung
Markus Pöhlmann (ZMSBw, Potsdam)
13:30–15:30 Uhr, Sektion I:
Transnationale Perspektiven beim Aufbau von Streitkräften
Moderation: Agilolf Keßelring (Helsinki)
Foreign Influence and Evolution of Finnish Defence in the 1920s and 1930s, Mikko Karjalainen (Helsinki)
The German Influence on the Estonian Military Education and Training System before World War II, Igor Kopõtin (Tartu)
Die United States Army zwischen Stagnation und Revolution in der Zwischenkriegszeit, Alexander Reineke (Bochum)
16:00–18:30 Uhr, Sektion II:
Offiziere von morgen – Anforderungen und Ausbildung
Moderation: Thorsten Loch (ZMSBw, Potsdam)
West Point and the Kriegsschulen: Curriculum Reform in the Interwar Period, Peter Mitchell (West Point, NY)
Die österreichische Berufsoffiziersausbildung an der Theresianischen Militärakademie 1936/37, Andreas Steiger (Wiener Neustadt)
Nervenstärke als Kriterium für „Offiziersfähigkeiten“ in Reichswehr und Wehrmacht 1919-1939, Gundula Gahlen (Berlin)
General der Bonner Republik und Rekrut der Reichswehr – das Beispiel Ulrich de Maizère, John Zimmermann (ZMSBw, Potsdam)
Donnerstag, 12.09.2024
09:00–12:00 Uhr, Sektion III:
Politik, Technik und der Krieg von Morgen
Moderation: Cristina Brăgea (Bukarest)
Das Scheitern der Genfer Abrüstungskonferenz, die Aufrüstung der Luftwaffe und das Ende von Weimar 1932/33, Lutz Budraß (Bochum)
New Perspectives on a International Air Force during the Interbellum, Damien Accoulon (Orléans)
Motorization and Mechanization in the Royal Yugoslav Army between World Wars, Dalibor Denda (Belgrad)
The Belgian Army and the Development of Armoured Warfare, Mathias André (Namur)
13:30–15:30 Uhr, Sektion IV:
Irreguläre und der Staat
Moderation: Christin Pschichholz (Potsdam)
Lokale, transnationale und internationale Gewaltakteure in „Neuserbien“ 1919–1941, Franziska Anna Zaugg (Bern)
Regular Irregulars: The Development of Soviet Guerrilla Warfare as a Derivative of The Deep Operation Theory and Doctrine, 1925–1941, Yaacov Falkov (Tel Aviv)
Die „Innere Mazedonische Revolutionäre Organisation“ - Teil eines „Tiefen Staates“ in Bulgarien?, Markus Wien (Sofia)
16:00–18:00 Uhr, Sektion V:
Organisierte Beobachtungen
Moderation: Kristiane Janeke (ZMSBw, Potsdam)
Deutsche und sowjetische Militärattachés 1933–1941: eine vergleichende Perspektive, Maria Timofeeva (Bonn)
Japans Streitkräfte im Spiegel deutscher Militärberichte, Takuma Melber (Heidelberg)
Freitag, 12.09.2024
09:00–11:00 Uhr, Sektion VI:
Militärpolitische Positionen
Moderation: Peter Lieb (ZMSBw, Potsdam)
Neutralité à outrance: The Netherlands Seeks Security in a Dangerous World, 1935/1936, Wim Klinkert (Breda)
The Geostrategic Challenges of the Romanian General Staff, 1923–1941, Manual Stănescu (Bukarest)
Challenges Faced by the British Indian Army Between the First and the Second World War, Rajendra Singh Thakur (Neu-Delhi)
11:15–12:15 Uhr, Zusammenfassung und Abschlussdiskussion
Alaric Searle (ZMSBw, Potsdam)
12:15–12:30 Uhr, Verabschiedung
Alaric Searle (ZMSBw, Potsdam)
- 1. Koselleck, Reinhart, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a. M. 2000, S. 349–375.