Feldpostbriefe von Dr. Walther Jung an seinen älteren Schwager Josef Reichardt, 1941–1944
Pit Stoye
Buchbesprechung
Veröffentlicht am: 
03. Juli 2017

Mit seinem umfangreichen Werk „Als Truppenarzt an der Ostfront“ legt Otmar Jung eine beispielhafte Aufarbeitung der eigenen Familiengeschichte vor. In dem bei Königshaus und Neumann erschienenen Buch finden sich nicht nur die in transkribierter Form abgedruckten 124 Briefe des Vaters des Autors, Dr. Walther Jung, an dessen Schwager, sondern auch eine kontextualisierende Familiengeschichte und eine militärgeschichtliche Analyse der Briefe selbst. Das Buch gliedert sich dabei in vier Kapitel: Den familiengeschichtlichen Abriss, den Abdruck der Feldpostbriefe, die Analyse derselben und eine Zusammenfassung der Kriegs- und Nachkriegserlebnisse des Briefeschreibers, des Empfängers und derer Familie für die Zeit nach dem Ende des dokumentierten Briefverkehrs.

Das mit etwa 250 Seiten längste Kapitel bildet dabei der Abriss der Familien und Personengeschichte Dr. Walther Jungs und seines Schwagers Josef Reichardt. Hier zeigt sich, dass der Autor ein umfangreiches und mit einer Vielzahl an Quellen belegtes Wissen über seine Familie besitzt, an dem er den Leser in teils ausschweifender Form teilhaben lässt. So ist es beispielsweise für das Verständnis der Briefe durchaus relevant zu wissen, dass Josef Reichardt als Weltkriegsteilnehmer und Offizier der Reserve in den Jahren 1941 bis 1944, den Erfahrungshorizont des Dr. Jung eher teilte als andere Familienmitglieder. Ebenso dürfte seine Erfahrung mit der Schutzhaft im Dritten Reich und die darauf folgende Gängelung den Inhalt der Briefe an ihn nicht unbeeinflusst gelassen haben. Warum diese, für das Gesamtwerk so relevante, biografischen Informationen nun aber in Unterkapiteln des Kapitels über die Geschwister des Briefschreibers, genauer das über die Schwester Carola Jung, verbannt wurden, bleibt dem Leser rätselhaft. Deutlich weitgehender sind dann auch die Informationen über den Briefeschreiber Dr. Walther Jung selbst. Diese nehmen in etwa die Hälfte des biografischen Kapitels in Anspruch und decken die Kindheit, das Studium und den beruflichen Werdegang bis zum Beginn des Briefverkehrs ab.

Eben diese 124 Briefe, abgedruckt im zweiten Kapitel, stellen den eigentlichen Kern des Buches dar. Sie decken den Zeitraum vom August 1941 bis zum Januar 1944 mit unterschiedlicher Dichte ab und dokumentieren sowohl private Gedanken, als auch Kriegserlebnisse sowie die Erfahrungen mit Land und Leuten. Ausnahmslos zu allen Briefen sind über Fußnoten die relevanten Daten beigefügt, in vielen Fällen dienen solche Anmerkungen zusätzlich zur Einordnung der im Text erwähnten Geschehnisse und Umstände. Besonders bemerkenswert sind die teils vollständig in den Fußnoten wiedergegebenen Quellen, zumeist Berichte höheren Dienststellen, welche die in den Briefen geschilderten Ereignisse belegen.

Im dritten Kapitel widmet sich der Autor dann der Analyse der Feldpostbriefe. Hierzu dienen nicht nur die familienbiografischen Angaben, sondern auch die ganze Breite der aktuellen Feldpostbriefforschung und militärhistorische Werke allgemeiner Art sowie Literatur zum Sanitätswesen. Mit diesen Mitteln an der Hand wird versucht, die Äußerungen des im Feld stehenden Truppenarztes in den Kontext von Ideologie, Ausbildung und Kriegserlebnis einzuordnen. Den Kern dabei bildet die einmalige, aber um so deutlichere Aussage in einem Brief vom Mai 1942, in dem die Rolle der Juden im Land erörtert, sowie von den massenhaften Morden an der jüdischen Bevölkerung berichtet wurde. Der Autor versucht sich den Aussagen seines Vater aus verschiedenen Richtungen zu nähern und Erklärungsansätze für dessen Verhalten zu präsentieren.

Das Vierte Kapitel schlussendlich beleuchtet das weitere Schicksal der beiden am Briefwechsel Beteiligten und ihrer Familien, inklusive eines Exkurses über das Œuvre des Lehreres und Malers Josef Reichardt und dem Schicksal seiner Werke bis in jüngste Zeit.

Eben diese Fülle an Informationen zur Familie und damit zum Hintergrund des Briefwechsels selbst, machen das Besondere an diesem Werk aus. So sind sie nicht nur zum Verständnis mancher Inhalte äußerst hilfreich, sondern bilden auch die Grundlage zur Einordnung der in den Schriften getätigten Aussagen.

Ebenso umfangreich wie die Familienbiografie sind die Anmerkungen, die eine sehr große Menge an Quellen, Erinnerungen und Literatur anführen, um die geschilderten Ereignisse in zeitliche und wissenschaftliche Zusammenhänge einzuordnen. Teilweise nimmt der Umfang der Anmerkungen dabei ausufernde Züge an und manches Mal ist es nicht leicht zu verstehen, warum eine Information in ihrer Ausführlichkeit nun eine Anmerkung oder Teil des Textes geworden ist. Auch die teils vollständig zitierten Berichte aus den Einheiten, in denen Dr. Walther Jung diente, und die Darstellungen der Forschungslage zu bestimmten Fragestellungen hätten vielleicht eher in den Fließtext bzw. einen Anhang gepasst, anstatt als Anmerkung über teils mehr als eine ganze Seite zu gehen. Einzig eine gewisse Inkonsequenz bei der Erläuterung zeittypischer Begriffe und soldatischen Jargons lässt sich feststellen, die aber das Verständnis der Briefe nicht schmälert. Abgesehen von deneben erwähnten, durch Fußnoten gefüllten Seiten, ist das Buch übersichtlich gegliedert, was auf Grund der teils sehr ins Detail gehenden Unterkapitel auch zwingend notwendig ist. Hilfreich ist an dieser Stelle auch, dass durch eine Übersichtsseite vor dem eigentlichen Inhaltsverzeichnis die Hauptkapitel noch einmal separat aufgelistet wurden.

Die herangezogene wissenschaftliche Literatur zur Feldpostforschung einerseits, aber auch in die Breite der militärgeschichtlichen sowie medizin- und regionalhistorischen Forschung, zeigen, dass der Autor sich umfassend mit jedem im Buch behandelten Aspekt auseinandergesetzt hat. Sie werden noch ergänzt durch die zur Diskussion der antijüdischen Äußerungen genutzten Werke zur Holocaustforschung. Das Buch bietet so nicht nur eine umfangreiche Auswertung einer Briefserie und Geschichte einer Familie vor, während und nach dem Zweiten Weltkrieg, sondern bietet auch einen Überblick über die aktuelle Forschungslage und somit auch einen guten Einstieg in das Thema Feldpost- und Familienforschung.

 

Otmar Jung, Als Truppenarzt an der Ostfront. Feldpostbriefe von Dr. Walther Jung an seinen älteren Schwager Josef Reichardt, 1941–1944, Königshausen&Neumann: Würzburg 2017, 678 S., € 48,00, ISBN 978-3-8260-6093-9.

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