Der Adel kann gewiss als „klassischer“ Gegenstand der Geschichtswissenschaft bezeichnet werden. Dennoch gelingt es Chelion Begass mit ihrer Dissertation eine bisher verborgene Facette des Adels für die Geschichtswissenschaft zu erschließen. Entgegen der weitverbreiteten Tendenz in der Adelsforschung, schwerpunktmäßig die mächtigen und wohlhabenden Adelsfamilien in den Blick zu nehmen, widmet sich Begass ganz bewusst verarmten Adelsfamilien in Preußen während der Umbruchjahrzehnte um 1800. Mit diesem zeitlichen Fokus rückt die Autorin zudem eine Zeit in den Vordergrund, welche ebenfalls abseits des Forschungsinteresses lag. Als Aufgabe ihrer Forschung wählt sich Begass die Rollenbestimmung des verarmten Adels innerhalb der gesellschaftlichen Wandlungsprozesse in Preußen an der Wende zum 19. Jahrhundert.
Mit Recht attestiert die Autorin der deutschsprachigen Adelsforschung das weitgehende Ausblenden des mittellosen Adels. Auch unter Hinzuziehung jüngst erschienener Arbeiten kann dies bestätigt werden.[1] Ihren Forschungsgegenstand bearbeitet die Autorin mit verschiedenen methodischen Herangehensweisen gewinnbringend. Begass adaptiert dabei Methoden der Adels-, Armuts-, Mobilitäts-, Geschlechter- und Militärgeschichte. Hierbei gelingt es ihr sehr anschaulich kultur- und sozialgeschichtliche Prämissen in Einklang zu bringen, da sie sowohl sozioökonomische Faktoren als auch die Perspektive der historischen Akteure analysiert. Von den Überlieferungen ausgehend untersucht die Autorin das Material mit jeweils passenden methodischen Vorgehensweisen und kann dadurch eine große Vielzahl an unterschiedlichen Quellen einbinden. So stellt die Autorin in Teil B z. B. erst die sozioökonomischen Bedingungen des militärischen Dienstadels in Preußen und insbesondere den Abstieg mittelloser adliger Offiziere nach der Katastrophe von 1806 in den Vordergrund.(127-141)
In Teil C beleuchtet Begass dann die individuellen Bewältigungsstrategien bspw. des mittellosen und invaliden Frank Karl von Gauwain, welcher gezwungen war, um die Aufnahme von vier seiner Söhne in eine Kadettenanstalt zu bitten. Grundsätzlich folgt die Arbeit jedoch einer strukturalistischen Interpretationstendenz, da nicht nur die Erkenntnisfragen auf langfristige sozioökonomische Transformationsprozesse gerichtet sind.(237f) Auch der Aufbau der gesamten Dissertation orientiert sich an politischen, wirtschaftlichen und sozialen Strukturen.
Als eine besondere Leistung stellt die Autorin die Untersuchung der von ihr als „Bittgesuche“ betitelten Quellenkategorie heraus. Im Zusammenhang der Adelsforschung seien diese Überlieferungen bisher überhaupt noch nicht untersucht worden. Damit mag Begass durchaus Recht in Bezug auf Bittschreiben von Adligen im 19. Jahrhundert haben. Insgesamt aber ist die Quellengattung der Suppliken für die Frühe Neuzeit bereits ausführlich erforscht worden.[2] Daneben erscheint auch die Einordnung der „Bittgesuche“ in die Gruppe der Ego-Dokumente als wenig plausibel. Viel naheliegender wäre die Zuordnung zu den „Selbstzeugnissen“[3] gewesen, um der Lebenswelt verarmter Adliger z. B. mit differenzierteren Abstufungen der „Ich-Bezüge“ analytisch näherzukommen.(32)
Gegliedert ist die Arbeit in drei Hauptkapitel. Im ersten Hauptteil legt Begass die sozioökonomischen Transformationsprozesse in Preußen um 1800 dar, indem sie einen Dreischritt unternimmt. Zuerst erörtert sie die naturräumlich-wirtschaftlichen Bedingungen und dann die Adelsschutzpolitik im Verlauf des 18. Jahrhunderts. Drittens entwickelt die Autorin das Begriffspaar des „versorgungsabhängigen Dienstadels“, welcher aufgrund fehlenden oder zu kleinen Landbesitzes maßgeblich auf staatliche Transferleistungen angewiesen war. Das nachfolgende Hauptkapitel (Teil C) ist ganz den verschiedenen Erscheinungsbildern adliger Armut gewidmet. Dieser Abschnitt liefert einen lebendigen Einblick in die Vielfalt der Armutsausprägungen und die verschiedenen Gruppen verarmter Adliger.
In Teil D erfolgt dann die Untersuchung der Handlungsmöglichkeiten und Handlungsbeschränkungen, die sich den Akteuren boten bzw. bestimmte Tätigkeiten verboten. Die Bewältigung der nicht standesgemäßen Vermögens- und Erwerbssituation des armen Adels untersucht die Autorin wiederum in drei Teilschritten. An erster Stelle unterscheidet sie als standesgemäß verstandene Bewältigungsstrategien von nicht standesgemäßen. Im Anschluss daran nimmt Begass das Erfahren dieser Handlungsweisen durch die Akteure unter die Lupe und typologisiert hieran die drei Formen der Pendler-, Absteiger-, und Wiederaufsteigerkarrieren armer Adliger. Mit dieser Typologisierung differenziert Begass ihr Konzept des „versorgungsabhängigen Dienstadels“ überzeugend.
Als Kernstück der Arbeitsergebnisse kann die Begriffsprägung des „versorgungsabhängigen Dienstadels“ angesehen werden.(116-141) Aufgrund des Fehlens oder der nur geringen Größe der Güter, gepaart mit geringen landwirtschaftlichen Erträge, den Kriegen im 17. und 18. Jahrhundert und der daraus resultierenden Verschuldung vieler Adelsfamilien bewirkte der gleichzeitige Staatsausbau in Preußen eine große ökonomische Abhängigkeit vieler Adliger von staatlichen Zuwendungen. Dies hatte sowohl für den Staat als auch für die Adelsfamilien zunächst Vorteile. Doch offenbarte insbesondere die Staatskrise nach 1806/07, dass große Teile des preußischen Adels nicht mehr außerhalb des Staatsdienstes ihren standesgemäßen Lebensunterhalt aufzubringen vermochten. Die Armut des Adels, welche sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts zu einem gesellschaftlichen Problem im Königreich Preußen entwickelte, führte laut Begass zu einer zunehmenden Delegitimierung des Adels. Auf diese Weise verbindet die Autorin die immer deutlichere Kritik am adelszentrierten Gesellschaftssystem Preußens mit der im Grunde genommen verloren gegangen Fähigkeit zu einer adligen Lebensführung. An dieser entscheidenden Stelle wird somit das kulturgeschichtliche Phänomen zur Erklärung sozial-gesellschaftlicher Umwälzungen herangezogen, was zugleich innovativ und überzeugend ist.
Zusammengefasst beschreitet die Arbeit von Begass sowohl inhaltlich als auch methodisch neue Wege. Anhand ihres Fallbeispiels des armen preußischen Adels kann die Autorin schlüssig darlegen, welche Auswirkung die Verarmung der Adligen innerhalb der Gesamtgesellschaft hatte. Mit dem Begriff des „versorgungsabhängigen Dienstadels“ gelingt ihr die Prägung eines Konzeptes, welches ein Zugewinn für die Geschichtswissenschaft darstellt. Begass gelingt eine wichtige Erweiterung der Adelsforschung, die zur weiteren Übersuchungen anregt, in Zukunft Adel auch in anderen Territorien differenzierter untersuchen zu können.
[1] Der hohe Anteil von Adligen im kursächsischen Offizierskorps erlaubt an dieser Stelle die Heranziehung Dethloffs Untersuchung, welche sich zwar mit der sich Zusehens verschlafenden wirtschaftlichen Situation beschäftig, dies jedoch auf ein Minimum beschränkt. Vgl. Andreas Dethloff, Das kursächsische Offizierskorps 1682–1806. Sozial-, Bildungs- und Karriereprofil einer militärischen Elite. (Hochschulschrift, wiss. Diss). Rostock 2019, S. 88-89.
[2] Cecilia Nubola/Andreas Würgler (Hrsg.), Bittschriften und Gravamina. Politik, Verwaltung und Justiz in Europa (14. - 18. Jahrhundert). (Schriften des Italienisch-Deutschen Historischen Instituts in Trient, 19). Berlin 2005.
[3] Vgl. Benigna von Krusenstjern, Was sind Selbstzeugnisse? Begriffskritische und quellenkundliche Überlegungen von Beispielen aus dem 17. Jahrhundert, in: Historische Anthropologie 2, 1994, S. 462-471.
Chelion Begass, Armer Adel in Preußen 1770-1830 (=Quellen und Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte, 52), Berlin 2020, 457 S., ISBN 978-3-428-15652-8, 99,90 €.