An vielen Universitäten stellen sich Lehrende immer wieder die Frage, wie aktuelle Ereignisse in die Lehre eingebunden werden können. Nach dem terroristischen Angriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 und der Reaktion Israels hatten viele Student:innen das Bedürfnis, sich auch in den Lehrveranstaltungen über die Ereignisse auszutauschen. Am Lehrstuhl für Militärgeschichte/Kulturgeschichte der Gewalt an der Universität Potsdam, an dem die Studiengänge War and Conflict Studies und International War Studies angeboten werden, wurde auf diesen Wunsch schnell reagiert. Wir haben Matteo Scianna für ein Kurzinterview getroffen. Er ist langjähriger wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl. Einer seiner Forschungsschwerpunkte ist der Nahe und Mittlere Osten im 20. und 21. Jahrhundert. Kürzlich erschien der von ihm zusammen mit Stefan Lukas herausgegebene Sammelband „Der Nahe Osten in einer globalisierten Welt. Entwicklungslinien, Gegensätze, Herausforderungen“ im Campus Verlag.
Welche Fragen wurden an die Lehrenden nach dem 7. Oktober 2023 herangetragen? Wie wurde in den Kursen thematisch reagiert?
Wir haben verstärkt über die historischen Wurzeln des Nahostkonfliktes gesprochen, aber auch über die militärhistorische Entwicklung der Kriege im Nahen und Mittleren Osten. Um unmittelbar auf den starken Wunsch nach intensiver Diskussion einzugehen, haben wir eine Sondersitzung unter Hinzuziehen eines Völkerrechtlers, Prof. Dr. Manuel Brunner, abgehalten. Darin haben wir auch juristische Aspekte der aktuellen Operationen beleuchten können.
Was für Überlegungen wurden von Dir getroffen? Welche Aspekte erscheinen Dir in diesem Zusammenhang wichtig?
Im Sommersemester biete ich (wie immer) ein Seminar über die Entwicklung der Konfliktmuster im Nahen Osten seit 1948 an. Darin gehen wir vor allem auf die zwischenstaatlichen Kriege Israels gegen seine Nachbarn, die irregulären Konfliktformen, aber zum Beispiel auch auf die Aufstandsbekämpfung der Franzosen in Algerien oder Ägyptens im Jemen ein. Der irakisch-iranische Krieg 1980–1988 und die sowjetische Besatzung Afghanistans 1979–1989 bilden ebenso Schwerpunkte des Kurses, der damit über die häufig doch sehr enge Fokussierung auf den Nahostkonflikt hinaus die gesamte Region in den Blick nehmen soll.
Die israelische Armee wurde scheinbar vom Angriff der Hamas am 7. Oktober überrascht. Wie wird dies in der Lehre kontextualisiert?
Man muss generell zwischen einer taktischen und strategischen Überraschung unterscheiden. Zudem scheint es mir immer zu einfach, auf die Geheimdienste zu zeigen und zu sagen: „Die haben versagt!“ Das muss man sich in Ruhe anschauen und Lehren daraus ziehen. Die Gegenmaßnahmen am ersten Tag erschienen zwar teils unkoordiniert und langsam, aber vergleichen wir doch mal, wie lange es zum Beispiel in Deutschland oder in anderen europäischen Ländern dauert, bis ein oder zwei flüchtige Terroristen gefasst sind.
Das Vorgehen der israelischen Armee im Gazastreifen steht zurzeit besonders im Fokus der medialen Berichterstattung und auch in der deutlichen Kritik. Was unterscheidet das Vorgehen der israelischen Armee von den kriegerischen Auseinandersetzungen, die ja schon häufig im Gazastreifen stattfanden?
Das Ziel scheint diesmal ein anderes zu sein. Man sprach in den vorherigen Gaza-Kriegen stets von einem „mowing the grass“-Ansatz, also einem begrenzten Vorgehen alle paar Jahr, um die Gefahr wieder etwas einzuhegen. Diesmal sind die israelischen Ziele viel weitgehender und man hofft, die militärische Struktur der Hamas auszuschalten. Das erinnert mich persönlich eher an den Kampf gegen den sogenannten Islamischen Staat (ISIS), der letztlich auch durch eine strategische „Decapitation“-Operation weitgehend handlungsunfähig gemacht wurde.
Welche Fragen haben die Studenten besonders beschäftigt? Die Gruppe der Studierenden setzt sich ja sehr international zusammen. Wir prägt das die Diskussionen?
Die Frage, welche Rolle die Europäische Union einnehmen kann bzw. sollte. Zudem wurde die innenpolitische Dimension in Israel intensiv diskutiert.
Interview mit Bastian Matteo Scianna
Christin Pschichholz
Interview
Veröffentlicht am:
19. August 2024
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DOI:
10.15500/akm.19.08.2024
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