Mobilmachungsaufruf und Liebesbriefe, Lebensmittelmarken, ein Eisernes Kreuz und eine Spielzeugkanone – alles Objekte aus der Zeit des Ersten Weltkriegs, alle in direktem Bezug zu Esslingen am Neckar. In einem 52-monatigen Langzeitprojekt (der Dauer des Krieges entsprechend) bearbeiten Stadtmuseum und Stadtarchiv, unterstützt vom Kulturamt, die bislang unerforschte Kriegsgeschichte und kommunale Erinnerungskultur dieser württembergischen Kleinstadt.
Das Besondere: Die Forschungsergebnisse werden nicht in einer klassischen Museumsausstellung über ein paar Wochen gezeigt. Vielmehr wird, um sowohl die Totalität der Kriegserfahrung als auch die zermürbend empfundene Kriegsdauer erfahrbar zu machen, seit August 2014 jeden Monat bis November 2018 ein besonderes Objekt aus der städtischen Kriegsgeschichte im Stadtmuseum präsentiert.
Auf der Basis eines thematischen Rasters werden diese 52 Gegenstände gezielt recherchiert oder aus den in Stadtmuseum und Stadtarchiv überlieferten Quellen und Objekten ausgewählt. Doch das Projekt bietet auch Raum für Zufälliges, Widersprüchliches und Unerwartetes. Denn einen wichtigen Anteil haben jene Objekte, die dem Projekt von Esslinger Bürger/innen zugetragen werden. Gerade diese Bürgerbeteiligung lässt ein intensives, oftmals bislang unbekanntes Zeitbild entstehen.
Wissenschaftlich fundierte Vorträge begleiten das jeweilige Objekt und beleuchten in einer „dichten Beschreibung“ dessen Herkunfts- und Bedeutungsgeschichte. Kontextualisiert werden die Objekte durch eine monatlich wachsende stadthistorische Chronologie mit Daten der Weltkriegsgeschichte, Zitaten aus Kriegsbriefen sowie weiteren Hintergrundinformationen, die über einen Touchscreen abgerufen werden können.
Die in die Objekte eingelagerten lokalen Geschichten sind verwoben mit einer Vielzahl von Aspekten der regionalen, nationalen und globalen Weltkriegsgeschichte. Nicht eine möglichst stimmige Erzählung ist das Ziel, vielmehr webt das Projekt, die Eigenschaft von Objekten als Semiophoren (Pomian), als vielschichtige Bedeutungsträger ernst nehmend, ein Netz aus privaten und öffentlichen Erinnerungen, aus lokaler und nationaler Geschichte, aus ziviler, militärischer sowie geschlechter- und generationenspezifischer Sichtweise auf den Krieg.
Darüber hinaus wächst im Stadtmuseum Monat für Monat eine Ausstellung mit den bereits gezeigten Objekten – gleichsam als Projektgedächtnis und Stadtgeschichtsspeicher. Am Ende des Projektzeitraums werden besagte 52 Objekte durch weitere Dinge aus der städtischen Nachkriegs- und Erinnerungsgeschichte ergänzt sowie in einem Buch zusammengeführt. Bis dahin sind die bearbeiteten Objekte sowie Veranstaltungen im Rahmen des Projektes auf der Homepage www.52x.esslingen.de zu finden.
Das Projekt ist sich bewusst, selbst (konstruierender) Teil der Stadtgeschichte zu sein. Ein Effekt des langen Forschungszeitraums ist, dass Projektergebnisse gleichsam überholt werden können und immer wieder überdacht und ergänzt werden müssen, wenn neue Objekte und Quellen oder neu gewonnenes historisches Wissen und neue Erinnerungen der Esslinger Bürger an das Projektteam herangetragen werden. Gerade solche Unwägbarkeiten, die durch die Bürgerbeteiligung entstehen können, machen die besondere Herausforderung, aber auch den besonderen Reiz aus.