Binnen weniger Wochen scheiterten im Spätsommer 1914 die Operationspläne nahezu aller Kriegsparteien. Anders als geplant, hatten ihre Offensiven nicht mit einem raschen Sieg, sondern im Patt des Stellungskrieges geendet. In der Folge ist immer wieder die Frage aufgeworfen worden, wie es dazu kommen konnte. Hatten die europäischen Militärs die Zeichen der Zeit nicht erkannt? Wie hatten sie sich einen zukünftigen Krieg vorgestellt?
Neue differenzierte Antworten auf diese Fragen gibt der von Stig Förster herausgegebene Sammelband. Dieser geht zurück auf ein vom Schweizerischen Nationalfonds gefördertes Projekt an der Universität Bern. Dabei sollten die Vorstellungen vom Zukunftskrieg im europäischen Militär um 1900 erstmals systematisch analysiert werden.
Das Forschungsvorhaben knüpfte einerseits an die deutschen Untersuchungen zur Entwicklung des Kriegsbildes vor 1914 [1] und andererseits an das von Stig Förster Ende der 1990er Jahre initiierte Projekt zur Debatte um den Krieg der Zukunft in den Jahren 1919 bis 1939 an.[2]
Das nun vorliegende Buch enthält drei Aufsätze zur militärfachlichen Diskussion in Deutschland, Frankreich und Großbritannien. Die ursprünglich geplanten Beiträge zu Österreich-Ungarn und Russland konnten nicht fertig gestellt werden. (S. 12f) Das ist – vor allem in Bezug auf Russland – äußerst bedauerlich, enthält der aktuelle Band so doch den gleichen „blinden Fleck“, wie das Vorgängerwerk zum Kriegsbild der Zwischenkriegszeit hinsichtlich des militärischen Denkens in der Sowjetunion. Die auch in der deutschsprachigen Forschung zum Ersten Weltkrieg allgemein zu beobachtende Fixierung auf Mittel- und Westeuropa setzt sich hier dementsprechend fort. Das schmälert freilich nicht den Wert der einzelnen Aufsätze.
Den Anfang macht dabei der Beitrag „Das unentdeckte Land. Kriegsbild und Zukunftskrieg in deutschen Militärzeitschriften“. (S. 21-131) Darin analysiert Markus Pöhlmann ausgehend von der Entwicklung der Militärfachzeitschriften bis 1914 detailliert die einzelnen Debattenstränge: Technik, Rüstung und Wehrgedanke, Infanterie, Artillerie, Kavallerie, Befestigungen, Marine sowie schließlich die Bilder vom „Großen Krieg der Jetztzeit“.
Fundiert kann er nachweisen, dass das deutsche Offizierkorps sich vor 1914 einer kritischen Reflexion über die Erscheinungen und Probleme eines zukünftigen Krieges keineswegs entzogen hatte, wie es in der älteren Forschungsliteratur noch gern suggeriert wurde.[3] (S. 127) Allerdings wurden vor allem Einzelfragen diskutiert. Wie die Betrachtungen zum „Großen Krieg der Jetztzeit“ verdeutlichen, beschäftigten sich nur wenige Aufsätze und Buchbesprechungen mit teilstreitkräfteübergreifenden Fragen oder gar dem Zukunftskrieg im Ganzen. (S. 104) Dessen Dauer wurde zumeist auf sechs Monate bis zwei Jahre geschätzt. Kennzeichnend für die geschilderten Szenarien war jedoch, dass diese lediglich bis zur erwarteten Hauptschlacht – in Frankreich – reichten. Was danach geschehen sollte, wenn der Feldzug dadurch nicht entschieden sein würde, lag jenseits der Grenzen der Prognostik. (S. 130)
Letztere kennzeichneten auch die von Adrian E. Wettstein betrachtete Diskussion um den Krieg der Zukunft in den französischen Militärfachzeitschriften. (S. 133-243) Nach einer Charakterisierung der Epoche und der Kräftekonstellation in Europa geht der Autor zunächst schwerpunktmäßig auf die Entwicklung von Technik und Taktik bei den einzelnen Waffengattungen ein. Bemerkenswert ist die visionäre Kraft der im Anschluss erörterten Luftkriegsphantasien. Praktisch unmittelbar nach Erfindung des Motorfluges wurden in Frankreich Flächenbombardements, Luftschlachten, Flugzeugträger und Luftlandungen sowie der Aufstieg der Luftwaffe zur eigenständigen Teilstreitkraft imaginiert. (S. 204) Wenn es um die konkrete Nutzung bereits verfügbarer Technologien – wie den Lastkraftwagen mit Verbrennungsmotor oder das Telefon – ging, war die Begeisterung, wie deren schleppende Einführung ins französische Heer verdeutlicht, indes schon nicht mehr ganz so groß. Drei weitere Abschnitte beschäftigen sich mit dem Landkrieg und dem Seekrieg der Zukunft sowie der Mobilisierung von Gesellschaft und Wirtschaft im und für den Krieg. Resümierend stellt Wettstein fest, dass in den französischen Militärzeitschriften ein „Gesamtbild des Krieges […] kaum entworfen“ (S. 238) wurde. Die Vielzahl der Neuerungen, die der Autor bevorzugt mit dem vermeintlichen Superlativ des „Quantensprungs“ [4] belegt, und deren Wechselwirkungen überforderten ähnlich wie in Deutschland die Prognosemöglichkeiten der Militärsachverständigen. So endeten auch in Frankreich die Prognosen regelmäßig mit der großen Entscheidungsschlacht. (S. 242)
Schließlich wendet sich Andreas Rose im dritten Aufsatz der Erörterung des „Großen Krieges“ in den britischen Militärzeitschriften zu. (S. 245-389). Nach einem Rundblick auf die technische Entwicklung der Teilstreitkräfte folgt zunächst eine Charakterisierung der spätviktorianischen British Army, die sich spätestens seit 1905 verstärkt auf einen Kontinentalkrieg in Europa und den Aufwuchs zum Massenheer einstellte. (S. 286) Marinefragen spielten in der britischen Debatte naturgemäß eine herausragende Rolle. Aus deutscher Sicht bemerkenswert sind dabei Roses Ausführungen zur Bedrohungsperzeption britischer Marineoffiziere. Danach wurden die U. S. Navy und bis 1906 auch die französische Marine als die größeren Bedrohungen betrachtet. Die deutsche Hochseeflotte galt demgegenüber als „vergleichsweise beherrschbare Luxusflotte“, die „im Ernstfall in der Nordsee eingeschlossen werden“ könnte. (S. 357) Hinsichtlich der jungen Fliegerei vermutete ein Autor der Naval Review 1913 ebenso hellsichtig wie zutreffend, dass die Strategie bereits in 20 bis 30 Jahren durch den Luftkrieg revolutioniert werden würde. (S. 372) In puncto Science Fiction waren britische Autoren mindestens ebenso phantasievoll wie ihre französischen Kollegen, womit dann zum Teil auch umfassende Kriegsszenarien verbunden waren, die ansatzweise bereits eine Totalisierung des Krieges vorwegnahmen.
Insgesamt gibt der vorliegende Band einen detaillierten und instruktiven Überblick der militärischen Debatte um den Krieg der Zukunft in Deutschland, Frankreich und Großbritannien – soweit es die Militärfachzeitschriften betrifft. Die längeren Debattenbeiträge in Buchform, in denen zum Teil durchaus komplexe Vorstellungen vom künftigen Krieg entwickelt wurden, blieben hingegen weitgehend unberücksichtigt.
Schließlich hätte der Band ein sorgfältiges inhaltliches und sprachliches Lektorat verdient. Da wird Alfred unversehens zu Arthur Thayer Mahan (S. 96) und bereits ein Jahr vor dem „Dreadnought“-Sprung die Seeschlacht von Tsushima mit „Großkampfschiffen“ (S. 99) ausgetragen. Kürassiere werden zu Dragonern (S. 133) und „friendly fire“ wird ebenso unbedarft wie unglücklich zu „freundlichem Feuer“ (S. 307) eingedeutscht. Dazu kommt eine ganze Reihe von Tipp- und Grammatikfehlern. So spannend und erhellend der Band sich in weiten Teilen liest, so zwiespältig bleibt daher leider der zurückbleibende Gesamteindruck.
[1] Vgl. Dieter Storz, Kriegsbild und Rüstung vor 1914. Europäische Landstreitkräfte vor dem Ersten Weltkrieg, Herford 1992. Christian Müller, Anmerkungen zur Entwicklung von Kriegsbild und operativ-strategischem Szenario im preußisch-deutschen Heer vor dem Ersten Weltkrieg, MGM 57, 1998, H. 2, S. 385-442.
[2] Stig Förster (Hg.), An der Schwelle zum Totalen Krieg. Die militärische Debatte über den Krieg der Zukunft 1919-1939 (=Krieg in der Geschichte, Band 13), Paderborn u.a. 2002.
[3] Vgl. etwa: Bernd-Felix Schulte, Die deutsche Armee 1900-1914. Zwischen Beharren und Verändern, Düsseldorf 1977.
[4] Zum Begriff und seiner Verwendung vgl. http://www.zeit.de/1996/19/quanten.txt.19960503.xml
Stig Förster (Hg.), Vor dem Sprung ins Dunkle. Die militärische Debatte über den Krieg der Zukunft 1880-1914 (=Krieg in der Geschichte, Band 92), Paderborn 2016, 406 Seiten, 9 s/w Abb., Festeinband ISBN: 978-3-506-78266-3 , Preis: EUR 54,00 / CHF 65,90.