Am Vorabend des Ersten Weltkrieges durchzogen mehr als 58.000 km Schienennetz das Deutsche Reich, mehr als doppelt soviel wie 1870. Um dieses Netz im Falle eines feindlichen Einbruches zerstören zu können, erhielten bis Sommer 1914 über 900 Eisenbahnbrücken im Deutschen Reich vorbereitete Minenanlagen. Davon wiesen etwa 70 Eisenbahnbrücken zusätzlich Anlagen zum fortifikatorischen Schutz der Brückenwiderlager auf. Mit diesen Anlagen sollte vor allem sichergestellt werden, dass die Pioniere ausreichend Zeit zur Ladung der Minen entsprechend der im voraus erstellten Ladetabellen gehabt hätten.
Das fächerübergreifende Projekt möchte in einer Zusammenschau aller zur Verfügung stehenden Quellen den Bauwerkstopos der fortifizierten Eisenbahnbrücke in Deutschland untersuchen. Ausgangspunkt bilden die jeweils heute noch existierenden, durch Rückbau und Vandalismus stark gefährdeten baulichen Überreste an Rhein, Elbe, Oder und Weichsel. Die starke Nachfrage von Festungsforschern und Denkmalbehörden nach diesen Bauten einerseits, der hohe Verlust von Festungsbauten des 19. Jahrhundert in Folge des Versailler Vertrages andererseits, zeigen den durchaus praxisnahen Bezug des Projektes.
Als Grundlage sind dabei sowohl die Entstehungsprozesse von Eisenbahnprojekten im 19. Jahrhundert, als auch jene konstruktionsgeschichtlichen Entwicklungen im Brückenbau des Industriezeitalters zu untersuchen, welche unter militärischer Einflußnahme standen. Gerade an den Eisenbahnbrücken lässt sich die Integration des Eisenbahnnetzes in die Landesverteidigung als ein hochaufgeladenes Spannungsfeld zwischen Militär- und Zivilumwelt, Fortifikation und Ingenieurkonstruktion beschreiben. Der Mangel an geschlossenen Archivbeständen macht es unumgänglich eine breite Quellenbasis aus lokalen, regionalen und überregionalen Archiven zusammen zu stellen. Das Studium umfangreicher Planbestände von ehemaligen preußischen Eisenbahnverwaltungen ergiebt eine, wenn auch nicht immer reiche, dennoch klare Übersicht zur Entwicklungsstruktur dieser Baugruppe.
Die ab 1843 entwickelten Fortifikationen, Blockhäuser und Türme rührten in Konstruktion und Architektur direkt aus dem Festungsbau her. Sie mußten jedoch den besonderen technischen Anforderungen und Standorten gerecht werden. Weitab von den Festungen, jedoch gelegentlich auch innerhalb dieser, bildete sich ein Bautyp heraus, der den Anforderungen im taktischen Wirkungsbereich einer Eisenbahnbrücke angepasst war. Um 1900 realisierten die deutschen Militärbehörden, dass die befestigten Brücken in Bauform und Bewaffnung eine Modernisierung erfahren mußten. Blockhäuser aus Eisenbeton, Maschinengewehre, Annäherungshindernisse und auch vorbereitete Minenfelder kamen nunmehr zur Ausführung. Letztlich reichte es aber auch bei größeren Brücken aus, unter Schutz weniger Schießscharten vorbereitete Sprengkästen an den Knotenpunkten der Eisenkonstruktionen der Brücken zu laden, um im Ernstfall die Brücke zerstören zu können.
Das Projekt zeigt eindringlich, inwiefern sich der Deutschen Bund, Preußen und letztlich auch Reichsinstanzen vermehrt der militärischen Sicherung der Verkehrsinfrastruktur Deutschlands zuwandten. Anhand bautypologischer Unterschiede können zudem regionale, aber auch politisch motivierte Unterschiede in der Architektur und Gefechtsstärke befestigter Eisenbahnbrücken herausgestellt werden. Dazu sind erstmals die gesetzlichen und verwaltungsmäßigen Mechanismen klar herausgestellt, welche den Entstehungsprozeß dieser Festungsbauten außerhalb von regulären Festungen ermöglichten. Mithin bietet das Projekt auch tiefen Einblick in die Verfassungstopographie des Kaiserreiches, macht es doch eine zunehmende militärische Durchdringung der Zivilgesellschaft deutlich. Für Militär-, Technik- und Eisenbahnhistoriker bildet die Arbeit eine materialreiche Handhabe zum Verständnis dieser zu oft vergessenen Brückenarchitekturen und lädt den Interessierten zu einer, abseits der bekannten Festungskulissen blickenden Sichtweise auf Fortifikaton im Zeitalter der Eisenbahn ein.
Die kurz vor Abschluß stehende Dissertation wird von Prof. Dr.-Ing. Hans-Christoph Thiel, Lehrstuhl Eisenbahn- und Straßenwesen der Brandenburgischen Technischen Universiät Cottbus (BTU) betreut. Als Co-Betreuer fungieren Prof. Dr. Ralf Pröve, Universität Potsdam und Prof. Dr. Günter Bayerl, BTU. Die Arbeit wurde zu Teilen mit einem Graduierten-Stipendium des Landes Brandenburg gefördert.