Alexander Leyde
Miszelle
Veröffentlicht am: 
24. Januar 2022
DOI: 
https://doi.org/10.15500/akm.24.01.2022

150 Jahre nach dem Deutsch-Französischen Krieg (1870/71) zeigt die Museumsausstellung „Alsace. Rêver la province perdue. 1871–1914“ (Deutsch: „Elsass. Träumen von der verlorenen Provinz. 1871–1914“) die Folgen des Konflikts für Künstler, Exilanten und die allgemeine Bevölkerung des Elsass.

Die Ausstellung, welche vom 6. Oktober 2021 bis zum 7. Februar 2022 im „Musée national Jean-Jacques Henner“ in Paris zu sehen ist, konzipierte das Museum in Zusammenarbeit mit dem „Musée Alsacien de Strasbourg“. Aus einer kulturhistorischen Perspektive arbeitet sie heraus, wie Frankreich den Verlust der im Krieg von 1870/71 an das Deutsche Reich abgetretenen Gebiete verarbeitete und wie dieser Prozess revanchistische und nationalistische Argumentationslinien beeinflusste.

Den Auftakt bildet im ersten Ausstellungsraum eine kurze Vorstellung des romantischen Bildes, welches das Zweite Kaiserreich (Französisch: Second Empire) vom Elsass hatte. Im folgenden Raum ist ein Zeitstrahl (Abb. 2) besonders aufschlussreich, der die wichtigsten Ereignisse des Deutsch-Französischen Krieges illustriert und so vor allem Besuchern ohne viel Hintergrundwissen eine historische Einordnung ermöglicht: Nach der Nennung des Jahres 1648, in der Habsburg das Elsass im Zuge des Dreißigjährigen Krieges (1618–1648) de jure an Frankreich abtrat, fährt die Chronologie mit der französischen Kriegserklärung an Preußen von 1870 fort. Obwohl deutsch-französische Spannungen als ausschlaggebend betrachtet werden, werden etwa die Spanische Erbfolgekrise und Bismarcks Emser Depesche nicht thematisiert, wodurch Frankreich hier dezidiert als Aggressor wahrgenommen werden kann. Die Dreyfus-Affäre, in der ein jüdischer Offizier aus Mulhouse (Elsass) fälschlich der Spionage verdächtigt wurde, dient als Beispiel der mentalitätsgeschichtlichen Entwicklung in der Dritten Französischen Republik, bevor die Kriegserklärung des Deutschen Reiches 1914 den Abschluss der Chronik bildet. Im Folgenden sollen einerseits die Konstruktion desjenigen Bildes im Fokus liegen, welches sich in Frankreich nach Kriegsende bezüglich seiner „verlorenen Provinz“ entwickelte, andererseits die Vermittlungsrolle des Museums heute.

Zwei militärische Ereignisse bildeten den Grundstein für den Wunsch, dass das deutsche Elsass-Lothringen wieder als Alsace und Lorraine nach Frankreich zurückkehren sollte: die Schlacht bei Wörth (6. August 1870) und die Belagerung von Belfort (3. November 1870 bis 16. Februar 1871). Die künstlerische Auseinandersetzung mit diesen Kriegsabschnitten nahm die heldenhaften Aktionen französischer Soldaten und Zivilisten in den Fokus, wodurch sie die Wiederherstellung des Status quo zu legitimieren versuchte:

Anhand eines Gemäldes, das eine Szene der Schlacht bei Wörth zeigt, vermittelt die Ausstellung beispielhaft die Legendenbildung um die Opferbereitschaft französischer Soldaten. Zwar konnten preußische und verbündete Truppen die Schlacht vom 6. August 1870 für sich entscheiden und militärisches Gerät erbeuten, doch stolz konnten die Franzosen aufgrund eines Gegenangriffs sein: Trotz großer Bedenken führte General Alexandre Ernest Michel seine berittenen Truppen an die preußische Infanterie heran, welche den Angriff erfolgreich im Dorf Morsbronn abwehrte, weshalb die große Mehrheit der französischen Reiterei fiel. Ihren Kampfeswillen und ihr Pflichtgefühl zeigten die Soldaten allerdings durch ihre Bereitschaft, auf dem Schlachtfeld den Heldentod zu sterben – der dem preußischen Sieg vorzuziehen war. Diese Erzählweise setzte sich in der Dritten Republik schnell durch.

Einige Monate danach begann die Belagerung von Belfort am 3. November 1870. Sie endete mit der Übergabe der Stadt am 16. Februar 1871 nicht aufgrund einer militärischen Niederlage, sondern auf Befehl der französischen Regierung. Die deutschen Sieger erwiesen den ausziehenden Soldaten militärische Ehren und der ungewöhnlich lange Widerstand fand in der Übergabekonvention Erwähnung. Die Stadt war deshalb der einzige Teil des Elsass, der bei Frankreich verbleiben durfte. Daraufhin errichteten verschiedene Institutionen dem Befehlshaber der Festung Belfort, Oberst Aristide Denfert-Rochereau, und den anderen militärischen und zivilen Verteidigern der Stadt einige Denkmäler: Der „Lion de Belfort“ ist eine Plastik, welche sich in Belfort befindet. Die 22 Meter lange, aus Sandstein bestehende Figur steht dort am Fuße der Festung und wurde vom Architekten Auguste Bartholdi bereits 1879 fertiggestellt. In Paris selbst erinnert an die Belagerung noch heute die nach dem Offizier benannte Place, in dessen Mitte sich eine verkleinerte Kopie des „Löwen von Belfort“ befindet. Das Museum, welches ein Modell des Löwen aus Bronze (Abb. 1) ausstellt, hebt damit hervor, wie der französischen Bevölkerung tagtäglich die Folgen des Krieges vor Augen geführt wurden. Der letztlich vergebliche, aber unermüdliche Eifer der Verteidiger ließ sich so leicht in nationalistische und revanchistische Erzählstränge einflechten.

Die Allegorie der Alsace fasst all diese Sentimentalitäten zusammen: Das ausgestellte Bild „L’Alsace. Elle attend“ (Deutsch: „Das [Mädchen] Elsass. Es wartet“, 1871) von Jean-Jacques Henner (1829–1905) zeigt ein junges Mädchen, welches den Betrachter ernst anblickt. Sie trägt ein schwarzes Trauerkleid und eine typisch elsässische, große Schleife als Kopfbedeckung, an welcher eine blau-weiß-rote Kokarde befestigt ist. Der Name des Bildes weist darauf hin, dass die Alsace stellvertretend für die elsässische Bevölkerung im Stillen darauf hofft, dass sie nur vorübergehend von ihrer Heimat getrennt ist. Die Trikolore unterstreicht die Solidarität der gesamten französischen Nation mit dem Elsass. Weitere solcher Allegorien sind im Ausstellungsraum zu sehen, womit das Museum den Besuchern die Konstruktion des Bildes der „verlorenen Provinz“ (Französisch: province perdue) noch näherbringen will.

Einen weiteren Teil der Ausstellung bildet eine knappe Darstellung des Netzwerks elsässischer Künstler in Paris, die sich nach dem Gebietsabtritt dort niedergelassen hatten. Anschließend thematisiert das Museum die Bedeutung von Alsace und Lorraine im zeitgenössischen Alltag – etwa in Liedern, Zuhause und in der Schule: Die Besucher können beispielsweise ein Gesellschaftsspiel begutachten, in welchem die Spieler eine Soldatenfigur als Spielstein nutzen und dessen Ziel es ist, nach einem „Wettrennen“ durch Frankreich als Erster in Straßburg anzukommen; hier geht es also um die Rückkehr der Provinz in die französische Heimat. Auch der Comic „La tache noire“ (Deutsch: „Der schwarze Fleck“) von 1886, in welchem zwei junge Männer zwei Mädchen aus Lorraine und Alsace versprechen, sie zu rächen und zu beschützen, und am Ende sogar die „verlorenen Provinzen“ zurückerobern, unterstreicht, dass nicht nur die Politik, sondern jede Bevölkerungsgruppe emotional in diesem (konstruierten) Trauma involviert ist und sein sollte.

Im letzten Ausstellungssaal findet Jean-Jacques Henner, der Namensgeber des Museums, als elsässischer Künstler einen Raum, in welchem seine Auseinandersetzung mit dem Thema dezidiert gezeigt wird. In seinen Gemälden spielte die militärische und politische Niederlage nun keine Rolle mehr; zwar sind die Bilder seiner Heimat oft dunkel und dramatisch gemalt, doch beinhalten sie nicht etwa Schlachten-, sondern Natur- und Landschaftsdarstellungen.

Die Ausstellung zeigt an vielfältigen Beispielen auf, wie sich nationalistische und revanchistische Ideen in Frankreich (weiter)entwickelten, indem Künstler heroisierende und an das Heimatgefühl appellierende Denkkonstrukte entwarfen, welche zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs beitrugen. Interessierte können so neue Einblicke in die Folgen des Krieges erhalten. Doch auch Personen, deren Hauptinteresse nicht in der Militärgeschichte liegt, können den Museumsbesuch genießen.

 

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut durch Takuma Melber.

 

Zitierempfehlung: Alexander Leyde, Als Frankreich noch von der Rückkehr des Elsass träumte, in: Portal Militärgeschichte, 24. Januar 2022, URL: https://portal-militaergeschichte.de/leyde_elsass, DOI: https://doi.org/10.15500/akm.24.01.2022 (Bitte fügen Sie in Klammern das Datum des letzten Aufrufs dieser Seite hinzu).

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