Mit dem russischen Angriff auf die Ukraine am 24. Februar 2022 ist die europäische Sicherheits- und Friedensordnung auf längere Zeit erschüttert worden. Der Arbeitskreis Militärgeschichte (AKM) entschied sich daraufhin, die aktuellen Ereignisse mit Beiträgen auf dem Portal Militärgeschichte in Bezug auf die Militär- und Gewaltgeschichte historisch einzuordnen.
Auch der großangelegte Angriff der Terrororganisation Hamas auf Israel im Oktober 2023 und die folgenden Kämpfe im Gazastreifen haben enorme, katastrophale Auswirkungen auf Millionen von Menschen. Gleichzeitig setzt der Konflikt transnationale Dynamiken in Gang, die wiederum alte und neue globale Konflikte offenlegen. Schnell aufeinanderfolgende Schlagzeilen und emotional aufgeladene, polarisierte Debatten bestimmten seit Monaten die Nachrichtenlage.
Wir haben uns entschieden, diesen Themenschwerpunkt trotz der Gewissheit auszuarbeiten, dass er nicht alle aktuellen Entwicklungen abdecken kann. Auch wird am Ende wohl kein allumfassendes Fazit stehen können. Die öffentliche Debatte verdeutlicht, dass im Kontext der Anerkennung des Selbstverteidigungsrechts Israels bei gleichzeitigem Mitgefühl für die humanitäre Katastrophe in Gaza um jedes Wort gerungen wird. Verschärft hat sich die Lage noch einmal, als das israelische Militär am 7. Mai 2024 seine Offensive in Rafah begann, um auch dort die Strukturen der Hamas zu zerstören. Diese Operation war im Vorfeld international bereits höchst umstritten, weil Hunderttausende Menschen zuvor nach Aufforderung der israelischen Regierung aus dem Norden des Gazastreifens in die südliche Grenzstadt geflohen waren. Ein Angriff in dieser Region musste die humanitäre Lage noch einmal deutlich verschlechtern. Am 24.5.2024 ordnete der Internationale Gerichtshof – nach entsprechenden Anträgen Südafrikas – an, die Militäroperation in Rafah sofort einzustellen.1 Über die genaue Auslegung dieser Anordnung wird erneut gestritten und damit auch über die Möglichkeiten des Schutzes von Zivilisten im Krieg.2
Expertise zu Krieg und Militär ist in dieser Situation höchst gefragt und notwendig, denn sie verspricht, die Unübersichtlichkeit der unmittelbaren Gegenwart zu ordnen und fundierte Prognosen für zukünftige Entwicklungen abzugeben. Jede Erklärung gegenwärtiger Ereignisse braucht den Blick in die Vergangenheit. Die jüngere Geschichte, aber auch weiter Zurückliegendes müssen betrachtet werden, will man aktuelle Gewaltkonflikte in einen breiteren Kontext einordnen.
Die Militär- und Gewaltgeschichte spielt hier eine entscheidende Rolle. Ihre Bedeutung wird mittlerweile – mehr als ein halbes Jahrhundert nach der ersten grundlegenden Erneuerung im Zuge der sozialgeschichtlich inspirierten „new military history“3 – auch in Deutschland nicht länger bezweifelt. Eine theoretisch ambitionierte, kulturgeschichtlich erweiterte „new ‚new‘ military history“4, die sich auch traditionelleren Themen wie der Operationsgeschichte oder der Militärtechnologie auf neue Weise wieder zuwendet, zieht auch immer mehr junge Forschende an.
Allerdings ist angesichts immer neuer Krisen und Konflikte, die in kurzen Abständen über die Welt hereinbrechen, manchmal unklar, wie sich die neuen Formen und Themen der Militär- und Gewaltgeschichte hier einbringen können. Bisweilen scheinen Reaktionen jenseits individueller und kollektiver Bekundungen von Betroffenheit angesichts von Leid und Not in Kriegsgebieten zu fehlen. Doch Differenzierung ist nicht mit Hilflosigkeit oder gar Irrelevanz gleichzusetzen. Hier setzt der AKM über das Portal Militärgeschichte und sein neu erscheinendes Open-Access-Journal „Militär und Gesellschaft“ (MUG) dezidiert einen Gegenentwurf: Wir sind überzeugt, dass gerade angesichts der politisch aufgeheizten Lage historische Einordnung und unterschiedliche Perspektivierungen notwendig sind. Daher präsentieren wir nun – nach dem Themenschwerpunkt zum Ukrainekrieg – auch eine Sammlung von Beiträgen zum Israel-Palästina-Konflikt, dessen lange Geschichte sich aktuell im Gazastreifen mit schrecklicher Gewalt fortsetzt.
Am 7. Oktober 2023 fielen, begleitet von einem großangelegten Raketenangriff, bewaffnete Kampftrupps der Hamas vom Gazastreifen aus in angrenzende israelische Gebiete ein. Sie griffen gezielt jüdische Ortschaften und Kibbuzim5 an, um deren Bewohner:innen zu ermorden oder zu entführen. Im Zuge der Attacke töteten sie etwa 1.200 Menschen und verschleppten rund 250 Personen als Geiseln. Von letzteren wurden bisher 100 freigelassen, sechs konnten befreit werden.6 Wie viele weiterhin in der Gewalt der Entführer sind oder gar nicht mehr am Leben, ist nicht bekannt.
Sofort nach der Attacke wurde in Israel der Kriegszustand verhängt. Am 10. Oktober begann die israelische Armee (Israel Defence Forces, IDF) im Zuge der Operation „Eiserne Schwerter“ mit Luftangriffen auf den von der Hamas kontrollierten Gazastreifen. Die Zivilbevölkerung wurde aufgefordert, sich aus dem Norden in den Süden des abgeriegelten Gebiets zu begeben. In der Nacht vom 27. auf den 28. Oktober begann die Bodenoffensive der IDF gegen die Hamas, mit der die Kontrolle Israels über den Gazastreifen hergestellt, die Geiseln befreit und die islamistische Terrororganisation zerschlagen werden sollte.
In einem so dicht besiedelten Gebiet wie dem Gazastreifen ist eine Militäroperation ohne massiven Einfluss auf die Zivilbevölkerung nicht durchführbar. In der Tat sind von rund 2 Millionen Einwohner:innen laut UN-Angaben über 1,9 Millionen auf der Flucht.7 Nachdem der Schwerpunkt der Angriffe zunächst tatsächlich im Norden des Gazastreifens lag, hat sich das Kampfgebiet, in dem Luft- und Bodenangriffe auch viele zivile Opfer fordern, mittlerweile nach Süden verlagert. Nach Auskunft des Ministry of Health in Gaza wurden durch die israelische Militäroperation allein bis Mitte Februar 2024 über 28.000 Menschen getötet.8 Seither steigt die Zahl der Toten und Verletzten weiter an, während Quantifizierungen aufgrund des disruptiven Einflusses der Kämpfe immer schwieriger werden.
Die brutale Gewalteskalation im Nahen Osten hat international heftige Kontroversen ausgelöst. Sie beschäftigt auch den Internationalen Gerichtshof (International Court of Justice, ICJ) in Den Haag. Vor diesem hatte Südafrika Klage gegen Israel wegen Völkermordes erhoben und kurzfristig Sofortmaßnahmen („Provisional Measures“) zum Schutz der palästinensischen Bevölkerung verlangt. Am 26. Januar 2024 hat das Gericht seine Entscheidung zu den unmittelbar geforderten Maßnahmen veröffentlicht.9 Entgegen den von Südafrika erhobenen Forderungen verlangte der ICJ keinen sofortigen Stopp der militärischen Aktionen. Dennoch hat das Gericht Israel dringend aufgefordert, den Verdacht auf Verletzung der Völkermordkonvention zu beseitigen, indem konkrete Gegenmaßnahmen ergriffen werden. Deren Umsetzung erwies sich allerdings als schwierig, da die IDF bei ihrer Operation gegen die Hamas mittlerweile in den südlichen Abschnitt des isolierten Küstenstreifens vorgedrungen waren. Eben dorthin hatten sich große Teile der Zivilbevölkerung nach dem Evakuierungsaufruf der IDF zurückgezogen. Über den abgeriegelten Grenzübergang von Rafah ist eine Ausreise der oft staatenlosen Palästinenser:innen nicht möglich. Der internationale Druck auf Israel, endlich eine Verhandlungslösung herbeizuführen, wächst.
Zusätzlich aufgeheizt wurde die Lage zeitweise durch den Vorwurf, dass Mitarbeiter:innen des UN-Hilfswerks für Palästina-Flüchtlinge (UNRWA) am Terrorangriff der Hamas und an dessen Vorbereitung beteiligt gewesen seien. Diverse Geberländer hatten daraufhin zvorübergehend ihre finanzielle Unterstützung des 1949 gegründeten Hilfswerks eingestellt. Gerade in der aktuellen Gewaltsituation ist jedoch humanitäre Hilfe dringend notwendig, und diese kann über etablierte Kontakte und Verbindungen oft schneller und effizienter geleistet werden als über neu zu suchende Wege.
In nationalen und internationalen Öffentlichkeiten ist der Konflikt in Gaza derzeit ein höchst sensibles Thema und vermengt sich zum Teil auch mit innenpolitischen Konflikten. Der Ton der Debatten ist rau geworden, besonders in den sozialen Medien. Demonstrationen und öffentliche Solidarisierungen führen bis zu körperlich ausgetragenen Auseinandersetzungen. Der Umgang mit pro-palästinensischen Protestaktionen an Universitäten wirft speziell in Zeiten des Wahlkampfes große Schwierigkeiten auf und schlägt hohe öffentliche Wellen. Gerade in Deutschland und den USA, wichtigen politischen Verbündeten Israels, werden die Spannungen immer mehr zur gesellschaftlichen Zerreißprobe.
Die Liste der nahezu unlösbar scheinenden Probleme im Israel-Palästina-Konflikt ist lang. Eine geschichtswissenschaftliche Perspektive ermutigt in dieser Situation dazu, gedanklich zurückzutreten und größere Zusammenhänge zu untersuchen, ohne das menschliche Leid auf beiden Seiten aus dem Blick zu verlieren. Die Beiträge zum vorliegenden Themenschwerpunkt erschließen das Feld des israelisch-palästinensischen Konflikts aus unterschiedlichen Blickwinkeln: Im interdisziplinären Austausch mit Kolleg:innen aus der Politikwissenschaft und den sozialwissenschaftlich-gegenwartsorientierten „area studies“ werden Wurzeln und Auswirkungen der Auseinandersetzung diskutiert. Eine Analyse der operationsgeschichtlichen Besonderheiten des urbanen Krieges ordnet das militärische Vorgehen der IDF ein. Die Bedeutung des Krieges für die humanitäre Praxis vor Ort und die universitäre Lehre in Deutschland wird beleuchtet. Im Einzelnen liegen folgende Beiträge vor:
• Die Politikwissenschaftler Stephan Stetter und Jan Busse bieten im Gespräch mit Anke Fischer-Kattner einen Überblick zu den Ursprüngen der aktuellen Konfliktlage und reflektieren über die Bedeutung der Geschichte für gegenwartsbezogene Analysen.
• Jonas Neugebauer beschreibt in seinem Essay den Charakter eines Krieges im urbanen Raum und ordnet damit viele Schlagzeilen in einen militärgeschichtlichen Kontext ein.
• Matteo Scianna gibt in einem Interview mit Christin Pschichholz einen kurzen Einblick, wie in der Universitätslehre auf einen aktuellen Konflikt reagiert werden kann.
• Die israelische Historikerin Liat Kozma, die selbst zur Medizingeschichte des Israel-Palästina-Konflikts forscht, hat den Chief Protection Officer des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz zur aktuellen Lage der medizinischen Versorgung im Gazastreifen befragt. Sie setzt das Interview zudem in den historischen Kontext der humanitären Herausforderungen im Zuge der israelischen Staatsbildung.
In seiner Ideengeschichte des israelischen Staates hat der Historiker Michael Brenner eindrucksvoll gezeigt, dass dem Projekt der Staatsgründung Israels ein Widerspruch zwischen Normalisierung und Einzigartigkeit schon seit dem Beginn der zionistischen Bewegung im späten 19. Jahrhundert eingeschrieben ist – und wie die sich vielfältig entwickelnde israelische Gesellschaft mit ihm umgegangen ist.10 Die Militärgeschichte kann auf dieser Grundlage herausarbeiten, in welchem Zusammenhang der fundamentale Widerspruch mit Konflikten im Laufe der Geschichte steht, und dabei das Eindeutigkeitsversprechen der Gewalt als Illusion entlarven. Widersprüche und Ambivalenzen lassen sich nicht einfach mit einem Schlag beseitigen – auch nicht mit einem militärischen. Jenseits dieser simplen negativen Feststellung braucht es Differenzierung und Detailarbeit, Kommunikation und Kreativität, um im Bewusstsein der Vergangenheit eine friedliche Zukunft zu erschaffen. Die erneuerte „Neue Militärgeschichte“ leistet hier im Kleinen wie im Großen ihren Beitrag.
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut durch Paul Fröhlich.
- 1. https://icj-cij.org/sites/default/files/case-related/192/192-20240524-ord-01-00-en.pdf (letzter Zugriff: 06.06.2024).
- 2. https://www.lto.de/recht/nachrichten/n/igh-gaza-israel-rafah-offensive-idf-militr-bodenoffensive-krieg-palstina/ (letzter Zugriff: 06.06.2024).
- 3. Vgl. z. B. Joanna Bourke, New Military History, in: Matthew Hughes, William J. Philpott (Hrsg.), Palgrave Advances in Modern Military History, London 2006, S. 258–280.
- 4. Vgl. für diese Terminologie Christine Haynes, The New „New” Military History. Recent Work on War in the Age of Revolutions, in: The Journal of Modern History 95/2 (2023), S. 385–415.
- 5. Siehe zur Entwicklung dieser ländlichen Kollektivsiedlungen aus sozial- und wirtschaftswissenschaftlicher Perspektive z. B. Shoshana Feingold-Studnik, Der Kibbuz im Wandel. Wirtschaftliche und politische Grundlagen, Wiesbaden 2002.
- 6. Stand: 08.06.2024.
- 7. [UN Press Release:] As Israel’s Aerial Bombardments Intensify, „There Is No Safe Place in Gaza“, Humanitarian Affairs Chief Warns Security Council, vom 12. Januar 2024, https://press.un.org/en/2024/sc15564.doc.htm (letzter Zugriff: 13.05.2024).
- 8. Vgl. z. B. die aggregierten Zahlen bei https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1417316/umfrage/ opferzahlen-im-terrorkrieg-der-hamas-gegen-israel/ (letzter Zugriff: 19.02.2024).
- 9. Siehe https://www.icj-cij.org/case/192 (letzter Zugriff: 19.02.2024).
- 10. Michael Brenner, In Search of Israel. The History of an Idea, Princeton 2018.