Sebastian Johannes, Aline Michutta
Tagungsbericht
Veröffentlicht am: 
11. März 2024
DOI: 
https://doi.org/10.15500/akm.11.03.2024

Die 2020er-Jahre sind geprägt durch eine militärische Zeitenwende: den Rückzügen aus Afghanistan 2021 und Mali 2023 sowie der Rückkehr des Krieges nach Europa 2022. Mit dem Begriff Zeitenwende waren jedoch schon dreißig Jahre zuvor die Ereignisse der Jahre 1989/90 umschrieben worden.

Mithilfe von Vorträgen und der Einbindung von Zeitzeugen präsentierte die Tagung Nach dem »Sieg«? Deutsche Sicherheitspolitik und die Bundeswehr nach dem Ende des Kalten Krieges 1990–1994 des Forschungsbereichs Einsatz des Zentrums für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr (ZMSBw) erste aktengestützte Ergebnisse der Zeitenwende am Ende des Kalten Krieges. Dabei kamen zeitgebundene Narrative mit Hilfe geisteswissenschaftlicher Methoden auf den Prüfstand. Eingebettet in den Kontext einer gesamtdeutschen Sicherheits- und Verteidigungspolitik fragte die zweitägige Veranstaltung nach dem Stellenwert des Militärs in der geeinten Bundesrepublik nach 1990. Nach zwei Einführungsvorträgen folgten vier Panels mit anschließenden Diskussionen.

In der Eröffnungsrede wies der Kommandeur SVEN LANGE (ZMSBw) darauf hin, dass vorherrschende Narrative immer ein Spiegel der Gegenwart seien. Sie zu dekonstruieren sei jedoch nur der halbe Weg einer fundierten wissenschaftlichen Arbeit. Anschließend gelte es, quellengesättigt eine Geschichte zu erzählen. Quellen sind hier Akten und Zeitzeugenberichte. Lange nutzte zudem die Gelegenheit, sich bei den anwesenden Gästen zu bedanken und auf das kürzlich im Forschungsbereich Einsatz begonnene Zeitzeugenprojekt zu verweisen.

Anschließend erläuterten die Organisatoren, MARTIN REESE (ZMSBw) und TORSTEN KONOPKA (Universität Potsdam) die aktuelle Relevanz des Tagungsthemas. Mit Verweis auf die Vielzahl an medial überlieferten Schlagworten sowie sozialwissenschaftlichen Arbeiten über die Bundeswehr ermögliche nun das Auslaufen archivalischer Schutzfristen die Überprüfung gängiger Narrative. Es gelte zu hinterfragen, ob sich bekannte Positionen durch zugängliche Quellen bestätigen lassen, oder ob die Geschichte deutscher Sicherheits- und Verteidigungspolitik nach 1990 anders gedacht werden müsse.

Unter der Moderation von HELMUT HAMMERICH (ZMSBw) folgten zwei Einführungsvorträge. Den Auftakt machte THORSTEN LOCH (ZMSBw), der einen deutenden Überblick zur Bundeswehrgeschichte und ihrer Einordnung in die Sicherheits- und Verteidigungspolitik der Bundesrepublik vornahm. Sein Fokus lag auf der politischen Zäsur der Jahre 1990/91, in deren Folge sich die Bedeutung und die Aufgaben der deutschen Streitkräfte drastisch veränderten. Dies sei aber nicht nur auf die Wende zurückzuführen, sondern ebenfalls auf einen sich ändernden Sicherheitsbegriff mit Ursprung im Kalten Krieg. Den zweiten Vortrag hielt HORST SIEDSCHLAG (ehem. Referatsleiter Militärstrategie im BMVg). Als unmittelbarer Mitwirkender an den konzeptionellen Arbeiten zur Neuausrichtung der Bundeswehr beschrieb er zunächst die BMVg-internen Auseinandersetzungen bei der Entstehung der wesentlichen Planungsdokumente sowie der fehlenden Zusammenarbeit der Bundesbehörden.

Unter der Moderation von SVEN DEPPISCH (ZMSBw) folgte das erste Panel zur Bündnispolitik zwischen Westbindung und Osterweiterung. Es begann BENJAMIN PFANNES (Universität Potsdam) mit einem Vortrag über Multinationalität und Bundeswehr. Er beschrieb die Entwicklung innerhalb des Bündnisses von rein national geprägten Streitkräften hin zur Aufstellung von multinationalen Verbänden und deren Problemen. Dabei bezog er sich auf die innerdeutsche politische Debatte über das sich verändernde Aufgabenfeld der Bundeswehr. HANS-GEORG RIPKEN (Universität Mannheim) ging in seinem Vortrag auf die bisher nur unzureichend untersuchte deutsche Debatte zur NATO-Osterweiterung ein. Während die deutsche Politik zunächst im Einklang mit den Partnern eine Mitgliedschaft ausschloss, habe das Bundesinteresse nach dem Ausbruch des Jugoslawienkrieges darin gelegen, Europa zu stabilisieren. Außenminister Volker Rühe habe dies erst durch eine deutsche Führungsrolle bei der Osterweiterung zu erreichen versucht, diese aber zu Gunsten der USA aufgegeben.

Das zweite Panel über die Frage einer fortwährenden Bedrohung durch Russland nach 1990 wurde von CHRISTIAN JENTZSCH (ZMSBw) moderiert. Den ersten Vortrag hielt Martin Reese, der die These vertrat, dass sich Deutschland 1991 auch deshalb nicht am Golfkrieg beteiligte, weil der Auftrag der Bundeswehr der Schutz Mitteleuropas für den Fall eines sowjetischen Angriffs gewesen wäre. Er stellte fest, dass mit einiger Sicherheit die Übernahme der Verteidigungsaufgaben erst die Verlegung der US- und britischen Streitkräfte an den Golf ermöglichte. Insofern erschöpfte sich der deutsche Beitrag nicht allein in materieller und finanzieller Unterstützung der Golfallianz, sondern gewährleistete rund um die Ratifizierung des Zwei-plus-Vier-Vertrages, die strategische Flankensicherung für die Operation Desert Storm. Der zweite Beitrag stammte von WERNER SCHÖNLEBER (Bundeswehruniversität Hamburg), der über die nukleare Teilhabe der Bundeswehr im Spannungsfeld zwischen Abrüstung und Abschreckung referierte. Er zeigte auf, dass die Beibehaltung der nuklearen Teilhabe für die BRD vor allem aus bündnispolitischen Erwägungen erfolgte. Gegenüber den USA inszenierte sich die Regierung Kohl so als verlässlicher Partner, während sie mit dem Verzicht auf eigene Nuklearwaffen Bedenken bei den europäischen Nachbarn zu zerstreuen versuchte.

Der zweite Tag begann unter der Moderation von MARTIN RINK (ZMSBw) mit dem dritten Panel über die Konfliktregionen Südosteuropa und Naher Osten. Den Anfang machte MECHTHILD LINDEMANN (Institut für Zeitgeschichte Berlin-München) zum Einsatz deutscher Kräfte zur Befriedung der Krisen im ehemaligen Jugoslawien. Im Vortrag sprach sie einerseits den Druck an, den die Partner auf die Bundesregierung ausgeübt hätten, um sich bei der Lösung der Balkankonflikte zu beteiligen. Andererseits skizzierte sie die innenpolitische Debatte in der BRD über die Verfassungsmäßigkeit von Out-of-Area-Einsätzen und das Credo der Regierung, keine deutschen Kräfte in Regionen zu stationieren, in welchen Verbrechen durch deutsche Soldaten verübt worden waren. Mit dem Nahen Osten und der Neuausrichtung der deutschen Sicherheits- und Verteidigungspolitik beschäftigte sich SILVIA-LUCRETIA NICOLA (ZMSBw) in ihrem Vortrag über die Operation Kurdenhilfe in der Türkei und dem Iran 1991. Nach einem Überblick über die Lage der irakischen Kurden und dem Grund für den Einsatz ging sie auf die innerdeutsche Migrationsdebatte ein. Ihrem Fazit zufolge, habe es sich bei der Kurdenhilfe um ein Prestigeprojekt von Bundeswehr und deutscher Außenpolitik gehandelt, mit dem das geeinte Deutschland seine militärisch-organisatorische Fähigkeiten international präsentieren wollte.

Das letzte Panel der Tagung behandelte die Frage, ob es sich bei den Bundewehreinsätzen weltweit um Großmachtstreben oder Mitläufertum gehandelt hätte. Moderiert wurde es von LINUS BIRREL (ZMSBw). Im ersten Vortrag hinterfragte Torsten Konopka, ob es sich bei der schrittweisen Beteiligung an Auslandseinsätzen der Bundeswehr (auch Salamitaktik genannt) um eine Form einer Grand-Strategy gehandelt habe. Hierzu skizzierte er die Prozesse der damaligen Entscheidungsfindung in der BRD zur Frage einer (Nicht)Beteiligung an UN-Missionen Anfang der 1990er-Jahre und die unterschiedlichen Interessen der beteiligten Ministerien. Konopka stellte die These auf, dass es auf der Ebene der Regierung keine Grand-Strategy zur langsamen Gewöhnung der deutschen Öffentlichkeit und der Bundeswehr an Auslandseinsätze gegeben habe. Die Regierung sei kein monolithischer Akteur mit einem zentralen Interesse gewesen, vielmehr hätten die Ministerien teils unterschiedliche Ziele verfolgt. Der letzte Vortrag stammte von EMMA BESSI (Universität Potsdam), die als erste quellenbasiert zur sanitätsdienstlichen Unterstützung der Bundeswehr im Rahmen der UN-Missionen UNAMIC und UNTAC 1991 bis 1993 in Kambodscha vortrug. Sie beschrieb die dortige Ausgangslage, den Auftrag der UN an die Bundeswehr, die Motivation der Bundeswehrangehörigen zur freiwilligen Teilnahme und die Diskrepanz zwischen UN, Bundesregierung und Streitkräften hinsichtlich der Auftragsausfüllung.

Zum Abschluss ließ AGILOF KESSELRING (Nationale Verteidigungsuniversität Helsinki) die Tagung noch einmal Revue passieren. Er wies daraufhin, dass die historiographische Forschung zur Epoche der Einsätze im Sinne einer Grundlagenforschung noch ganz am Anfang stünde und die Tagung erste Schneisen in eine komplexe Gemengelage geschlagen hätten. Er betonte die Notwendigkeit für eine in den Kalten Krieg ausgreifende Forschung. Es sei eine Reihe von Fragen aufgeworfen worden, für deren Beantwortung eine stärkere Betrachtung des Militärs in Staat und Gesellschaft von Nöten sei. Grundsätzlich rege die Tagung dazu an, bestehende Narrative zu überdenken und sie quellenkritisch in den jeweiligen zeitgebundenen Kontext zu stellen.

 

Tagungsprogramm

Mittwoch, 13.12.2023

12:30 Uhr Begrüßung und Eröffnung der Tagung SVEN LANGE, ZMSBw

12:35 Uhr Einführung in die Tagung
MARTIN REESE, ZMSBw
TORSTEN KONOPKA, Universität Potsdam

12:50 Uhr Einführungsvorträge
Moderation: HELMUT HAMMERICH, ZMSBw
Die Geschichte der Bundeswehr 1955‑1994. Versuch eines deutenden Überblicks
THORSTEN LOCH, ZMSBw
Verteidigungspolitik und Bundeswehrplanung an der Wegscheide zwischen Wunschdenken und Strategie
HORST SIEDSCHLAG, ehem. Referatsleiter im BMVg

14:00 Uhr Panel I
Bündnispolitik zwischen Westbindung und Osterweiterung
Moderation: SVEN DEPPISCH, ZMSBw
Multinationalität und die Bundeswehr nach 1990: Anpassung an veränderte sicherheitspolitische Herausforderungen
BENJAMIN PFANNES, Universität Potsdam
»Von Freunden umzingelt« oder Pulverfass im Osten? Die deutsche Debatte um die NATO-Osterweiterung in den Jahren 1990‑1994
HANS-GEORG RIPKEN, Universität Mannheim

15:45 Uhr Panel II
Kontinuität nach 1990: Fortwährende Bedrohung durch Russland?
Moderation: CHRISTIAN JENTZSCH, ZMSBw
Mehr als nur Scheckbuchdiplomatie? Die »Notverteidigung« der Central Region als deutscher Beitrag zum Golfkrieg
MARTIN REESE, ZMSBw
Nukleare Teilhabe im Spannungsfeld von Abrüstung und Abschreckung im (ersten) »postnuklearen Zeitalter«
WERNER SCHÖNLEBER Universität der Bundeswehr Hamburg

Donnerstag, 14.12.2023
08:30 Uhr Panel III Konfliktregion Südosteuropa und Mittlerer/Naher Osten
Moderation: MARTIN RINK, ZMSBw
Deutsche Soldaten im Balkan-Raum? Zur Haltung der Bundesrepublik in den internationalen Debatten um Wege zur Eindämmung und Befriedung des Krieges im ehemaligen Jugoslawien 1992‑1995
MECHTHILD LINDEMANN, Institut für Zeitgeschichte München
Abenteuerlust á la Karl May? Die Rolle der Operation »Kurdenhilfe« bei der Neuausrichtung der deutschen Sicherheits- und Verteidigungspolitik Anfang der 1990er Jahre
SILVIA LUCTRETIA NICOLA, ZMSBw

10:00 Uhr Panel IV
Großmachtstreben oder Mitläufer? Die Bundeswehr weltweit
Moderation: LINUS BIRREL, ZMSBw
»Salamitaktik« als Grand Strategy? Bundesdeutsche Beteiligung an Missionen der Vereinten Nationen 1989‑1994
TORSTEN KONOPKA, Universität Potsdam
Engel von Phnom Penh? Sanitätsdienstliche Unterstützung der Bundeswehr in Kambodscha 1991‑1993
EMMA BESSI, Universität Potsdam

11:30 Uhr Tagungsabschluss und Versuch eines Fazits
AGILOF KESSELRING, Nationale Verteidigungsuniversität Helsinki

11:45 Uhr Verabschiedung
MARTIN REESE, ZMSBw
TORSTEN KONOPKA, Universität Potsdam

 

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut durch Daniel R. Bonenkamp und Urte Evert.

Zitierempfehlung: Sebastian Johannes, Aline Michutta, Nach dem »Sieg«? Deutsche Sicherheitspolitik und die Bundeswehr nach dem Ende des Kalten Krieges 1990–1994 (ZMSBw, 13./14.12.2023), in: Portal Militärgeschichte, 11. März 2024, DOI: https://doi.org/10.15500/ akm.11.03.2024 (Bitte fügen Sie in Klammern das Datum des letzten Aufrufs dieser Seite hinzu).

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