Gerhard Hirschfeld
Miszelle
Veröffentlicht am: 
02. Oktober 2015

Der langjährige Direktor der Bibliothek für Zeitgeschichte (BfZ), Prof. Dr. Jürgen Rohwer, ist am 24. Juli 2015 in Weinstadt verstorben. Jürgen Rohwer gehörte zur studentischen „Generation der 1945er". Die erste Generation deutscher Akademiker nach 1945, die den Krieg noch als junge Soldaten, Flakhelfer oder als Hitlerjungen im „Volkssturm" erlebt hatte, zeichnete sich durch ein „Pathos der Nüchternheit" aus (so der australische Historiker Dirk Moses) - jenseits aller politischen Aufgeregtheit. Angesichts der ungeheuerlichen Verbrechen des NS-Staates und des vollständigen Bankrotts der Ideale, an die viele von ihnen geglaubt hatten, richteten sich die Hoffnungen dieser Generation auf einen politischen Neubeginn und eine stabile, funktionstüchtige Demokratie. Eine solche Haltung war zweifellos auch Jürgen Rohwer eigen, der von 1942 - 1945 in der Kriegsmarine diente. Nach einem Studium der Geschichte und anschließender Promotion (1954) an der Universität Hamburg war er zunächst als Geschäftsführer des (zeitgleich zur Gründung der Bundeswehr etablierten) Arbeitskreises für Wehrforschung in Frankfurt a.M. sowie seit 1959 als Leiter der ehemaligen Weltkriegsbücherei, nunmehr Bibliothek für Zeitgeschichte, in Stuttgart tätig.

In beiden Funktionen bemühte er sich - ebenso erfolgreich wie nachhaltig - um eine Verwissenschaftlichung der traditionellen Kriegsgeschichte und zugleich um eine Neupositionierung der Militärwissenschaften jenseits ihrer politischen Indienstnahme und Instrumentalisierung durch Reichswehr und Wehrmacht. Unter Rohwers Ägide entwickelte sich die BfZ zu einem national wie international bekannten und nachgefragten Zentrum für die Militärgeschichte des 20. Jahrhunderts. Dies gelang ihm insbesondere durch eine stärkere Verknüpfung der etablierten Militärgeschichte mit der Geschichte der internationalen Beziehungen sowie der Geschichte der militärischen Technik und des Nachrichtenwesens. Hiervon künden zahlreiche Veröffentlichungen aus seiner Feder, Dokumentationen und Sammelbände der BfZ und nicht zuletzt einige internationale Kongresse, die Rohwer gemeinsam mit seinem Historiker-Kollegen Eberhard Jäckel vom Historischen Institut der Universität Stuttgart ausrichtete. Zwei dieser Tagungen verdienen eine besondere Hervorhebung, zumal sie in mancher Hinsicht wissenschaftliches Neuland betraten bzw. weitere wichtige Forschungen anstießen: Das von Historikern, Kryptologen und Zeitzeugen bestrittene Symposium zur Funkaufklärung im Zweiten Weltkrieg (1978), zu dem die BfZ eine beachtenswerte Ausstellung beisteuerte und dabei zugleich ihr eigenes Exemplar einer Rotor-Verschlüsselungsmaschine („Enigma") präsentieren konnte. Geradezu als eine Schlüsseltagung der Holocaustforschung gilt inzwischen der Stuttgarter Kongress deutscher und internationaler Experten über „Entschlußbildung und Verwirklichung" des Mords an den europäischen Juden mit ihren ebenso engagiert wie kontrovers geführten Diskussionen (1984).

Nicht nur die Forschung profitierte von dem großen Elan und unermüdlichen Wirken des Stuttgarter Militärhistorikers. Auch die Sammlungen der BfZ verzeichneten, nicht zuletzt dank Rohwers internationaler Kontakte und Präsenz, erheblichen Zugewinn. Das gilt vor allem für die Fotosammlungen des sogenannten Marinearchivs, das für Historiker wie für interessierte Laien gleichermaßen eine außerordentliche Fundgrube zur deutschen und internationalen Marinegeschichte seit ca. 1850 darstellt. Mit der erzwungenen Einstellung der von Jürgen Rohwer lange Jahre als Schriftleiter (und faktischem Herausgeber) geführten Marine-Rundschau Mitte der 1980er Jahre kam dem Marinearchiv allerdings „nicht nur sein größter Zuträger, sondern auch sein größter Nutzer abhanden" (Thomas Weis). Auch bei dem Erwerb und der Etablierung weiterer Sammlungen bewies Rohwer eine glückliche Hand, so etwa bei dem 1964 mit öffentlichen Mitteln erworbenen „Zarenarchiv", dem Nachlass eines Adjutanten des russischen Zaren Nikolaus II., sowie bei der Einrichtung 1972 der zunächst von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten „Dokumentationsstelle für unkonventionelle Literatur" (heute „Neue Soziale Bewegungen"), die unter anderem das überaus heterogene Schriftgut der Studentenbewegung nach 1968 versammelte.

Die fast 30jährige Amtszeit (von 1959 bis 1989) des Historikers Jürgen Rohwer war ein Glücksfall für die BfZ, deren öffentliche wie vor allem fachwissenschaftliche Wahrnehmung allzu lange von dem Bild ihrer Vorgängerin, der 1921 in Stuttgart von Richard Franck neu-gegründeten Weltkriegsbücherei, bestimmt blieb. Rohwer gelang es, die BfZ allmählich aus dem deutsch-national und militaristisch geprägten Dunstkreis der Weltkriegsbücherei heraus zu führen, indem er engagiert für eine international orientierte und neuen Forschungen und Fragestellungen gegenüber aufgeschlossene Militärgeschichte warb. Ausweis der neu gewonnenen Akzeptanz waren nicht nur Rohwers Ernennung zum Honorarprofessor der Universität Stuttgart (1970) und seine Mitgliedschaften in zahlreichen nationalen wie internationalen Organisationen - so war er (von 1985 bis 1990) Vizepräsident der Internationalen Kommission für Militärgeschichte -, sondern die Tatsache, dass die BfZ mit ihren reichen bibliothekarischen wie archivarischen Sammlungen schließlich zu einer zentralen Anlaufstelle der modernen Zeitgeschichtsforschung in Deutschland werden konnte.