III. Teil: Krieg in der Ukraine – Die Bedeutung von Gewalt in der postsowjetischen Politik Russlands
Gundula Gahlen
Interview
Veröffentlicht am: 
25. März 2022

Der völkerrechtswidrige russische Angriffskrieg gegen die Ukraine dauert inzwischen mehr als vier Wochen an. Zum russischen Agieren in diesem Krieg und zur besonderen Rolle der Gewalt in der Politik im postsowjetischen Russland gibt im dritten Teil der Themenreihe „Krieg in der Ukraine“ Prof. Dr. Jan Claas Behrends Auskunft. Er leitet das Projekt „Legacies of Communism“ am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung (ZZF) Potsdam und lehrt osteuropäische Geschichte an der Europa-Universität Viadrina. Behrends ist Experte für die Entwicklung postsowjetischer Gesellschaften vom Spätsozialismus bis zur Gegenwart. In mehreren Forschungsprojekten hat er die Gewaltkultur in der sowjetischen und postsowjetischen Gesellschaft von den 1970er Jahren bis in die Gegenwart untersucht. Bereits 2015 schrieb er mit Blick auf den Angriff Russlands auf die Ostukraine, es lohne sich „über den Wandel der russländischen Staatlichkeit und die Rolle der Gewalt nach 1991 nachzudenken. Denn der Krieg in der Ukraine und Russlands Außenpolitik lassen sich nur verstehen, wenn wir die innere Entwicklung des Landes analysieren.“1 

 

Herr Behrends, Sie sind Experte für die Gewaltkultur in der sowjetischen und postsowjetischen Gesellschaft und haben sich intensiv mit dem Zeitraum vom Afghanistankrieg 1979 über Tschetschenien bis hin zum Krieg im Donbas seit 2014 auseinandergesetzt. Wie überrascht waren Sie vom russischen Einmarsch in die Ukraine am 24. Februar 2022?

Der russische Aufmarsch an den Grenzen der Ukraine, der ja bereits im Januar 2021 begann, deutete früh auf die Möglichkeit eines Angriffskrieges hin. Wir dürfen auch nicht vergessen, dass die russische Führung um Putin seit 1999 immer wieder zu militärischer Gewalt gegriffen hat, um politische Ziele durchzusetzen: in Tschetschenien, in Georgien, auf der Krim, im Donbas, in Syrien und Libyen. Dennoch handelt es sich hier um eine neue Dimension des Krieges zwischen den beiden größten Nachfolgestaaten der Sowjetunion. Für die Ukraine ist es der Kampf um ihre Freiheit und Unabhängigkeit, für Putin geht es um die Durchsetzung seiner imperialen Ansprüche.  

Der Krieg wurde außerdem rhetorisch vorbereitet: etwa durch einen Aufsatz Putins über die „historische Einheit der Russen und Ukrainer“, der im vergangenen Sommer publiziert wurde.2 Obwohl ich nicht überrascht war, war ich entsetzt, als die Angriffe begannen. Mit diesem Waffengang beginnt ein neues Kapitel in der Geschichte des Zerfalls des russischen Imperiums. Wir wissen noch nicht, wie es endet.

 

Schon lange beschäftigen Sie sich mit der Rolle Russlands im Donbas-Krieg. 2015 haben Sie mit Blick auf den dortigen Krieg in einer Publikation gesagt, „es lohne sich, über den Wandel der russländischen Staatlichkeit und die Rolle der Gewalt nach 1991 nachzudenken. Denn der Krieg in der Ukraine und Russlands Außenpolitik ließen sich nur verstehen, wenn wir die innere Entwicklung des Landes analysieren“.3  Können Sie uns skizzieren, wie sich die Beziehung zwischen russischer Innen- und Außenpolitik in den letzten 30 Jahren entwickelte?

Im Unterschied zu Ostmitteleuropa 1989 gab es in der Sowjetunion – mit Ausnahme des Baltikums – keine friedliche Revolution gegen die kommunistische Diktatur. Die spätsozialistischen Eliten blieben an der Macht und die Geheimdienste wurden nicht zerschlagen. Das hatte schon bald Konsequenzen: So wurde etwa der russische Verfassungsstreit von 1993 nicht am Runden Tisch, sondern durch Panzer in der Innenstadt Moskaus entschieden. Die tschetschenische Sezession wurde ebenfalls mit brutaler Waffengewalt bekämpft. Zugleich ließ das Interesse an der Aufarbeitung der kommunistischen Verbrechen, der Geschichte des Stalinismus, bereits in den 1990er Jahren nach. Schon damals versuchte der Staat, die Berichterstattung aus Tschetschenien einzuschränken. 

Unter Wladimir Putin radikalisierte sich seit 1999 der staatliche Gewalteinsatz nach innen und bald auch nach außen. Zugleich wurden die unabhängigen Medien – mit wenigen Ausnahmen – unterworfen und die Zivilgesellschaft unterdrückt. Die innere Gleichschaltung und Repression ging dabei stets mit weiterer außenpolitischer Aggression einher. Der eskalierende Konflikt mit dem Westen wurde ebenso wie die militärischen Erfolge im Ausland – Stichwort: Krim-Annexion – genutzt, um ein Regime zu legitimieren, dass den Russen seit 2014 keine neuen Wohlstandsgewinne mehr präsentieren konnte.

Russische Innen- und Außenpolitik lassen sich eben nicht trennen. Erst in der Gesamtschau überblicken wir die Dynamik eines sich radikalisierenden, repressiven Regimes auf seinem Pfad von der Autokratie zur persönlichen Diktatur.  

 

Bis in die ersten Regierungsjahre Wladimir Putins Anfang des 21. Jahrhunderts herrschte im westlichen Europa die Hoffnung, dass sich Russland seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion ähnlich wie die Staaten in Ostmitteleuropa trotz mancher Rückschläge in Richtung Demokratie entwickle. Sah Europa lediglich das Russland, das es sehen wollte?

Das kann man so sagen. Heute wissen wir: Die Elitenkontinuität in Russland und die fehlende Auflösung der Geheimdienste führte zu einem neuen, repressiven Regimetyp sui generis. 

 

Welche Rolle spielte Gewalt in den ukrainisch-russischen Beziehungen nach 1991 und lassen sich Entwicklungslinien zur völkerrechtswidrigen Annexion der Krim 2014 und zum jetzigen Krieg ziehen?

Die letzten dreißig Jahre sind durch die graduelle Befreiung der Ukraine aus der imperialen Umklammerung durch Moskau gekennzeichnet. Beide Staaten haben sich – trotz mancher Parallelen – letztlich in unterschiedliche Richtungen entwickelt. Die Ukraine ist eine demokratisch verfasste Staatsbürgernation, die sich Richtung Westen orientiert und sich der Europäischen Union anschließen möchte. Russland hingegen ist eine nach innen autoritäre, nach außen revisionistische Macht, die das Völkerrecht bricht und sich in einen rogue state verwandelt hat. 

Die Ukraine ist dem Kreml 1994 im Budapester Abkommen weit entgegengekommen. Sie hat ihre Nuklearwaffen abgegeben und bekam dafür eine Garantie ihrer Grenzen. Zwanzig Jahre später ist Moskau dann in die Ukraine einmarschiert und hat die Krim annektiert. Diese Geschichte weist weit über Osteuropa hinaus. Sie hat dazu geführt, dass zukünftig wohl kaum noch ein Staat freiwillig seine Nuklearwaffen abgibt. Für die Ukraine ging das schlecht aus. Das Beispiel zeigt zudem, dass Abrüstung nicht unbedingt zu mehr Sicherheit führt. 

Spätestens seit 2004 hat Wladimir Putin gezielt versucht, den russischen Einfluss in Kyjiw auszubauen. Dabei ist er auf den Widerstand der ukrainischen Gesellschaft und eines großen Teils der Eliten gestoßen. Moskau hat der Ukraine tatsächlich nichts Attraktives anzubieten. Die Ukrainerinnen und Ukrainer haben sich für eine offene Gesellschaft entschieden. Wie wir heute sehen, sind sie bereit, für ihre Vision eines freien Landes zu kämpfen.

Der Krieg Putins gegen die Ukraine begann im März 2014 mit der illegalen Annexion der Krim. Dass in der Ukraine Krieg herrscht, hat der Westen lange ignoriert. Bundeskanzlerin Merkel hat noch 2015 der Pipeline Nord Stream 2 zugestimmt – ein Teil der negativen Ukrainepolitik des Kremls – und dann stets behauptet, es handle sich lediglich um ein kommerzielles Unterfangen. So hat Berlin die revisionistischen Ambitionen und den geopolitischen Revanchismus Russlands noch gefördert. Dabei wäre es in unserem Interesse gewesen, entschlossen die Ordnung von 1989/91 zu verteidigen – die Ordnung eines Europas freier Nationen. Putins Ziel ist es, die Souveränität der Staaten Osteuropas auszuhöhlen, sie wieder zu unterwerfen. Sie sollen Teil einer russischen Einflusssphäre werden. 

Das Paradoxe an Putins negativer Ukrainepolitik ist, dass er das Gegenteil dessen erreicht hat, was sein Ziel war. Durch die russische Aggression hat sich die Nationsbildung in der Ukraine und damit auch die Abkehr von Russland stark beschleunigt. Wir können jetzt schon festhalten: Putin und Russland haben die Ukraine auf Dauer verloren. Er kann sie nur noch zerstören, aber nicht mehr zurückgewinnen.

 

Am Ende dieses Interviews sei der Blick auf die Rolle des Westens im jetzigen Krieg gerichtet. Ein wichtiges Argument Putins für den russischen Einmarsch in die Ukraine ist es, dass die NATO russische Sicherheitsinteressen verletzt und Russland zunehmend eingekreist habe. Wie schätzen Sie den Beitritt der ostmitteleuropäischen Staaten zur NATO und die diesbezügliche Gesprächsbereitschaft der NATO mit der Ukraine ein? 

Die Staaten Osteuropas haben legitime Sicherheitsinteressen. Sie hatten das Recht und auch zahlreiche Gründe, dem westlichen Bündnis beizutreten. Sämtliche Staaten, die in der NATO sind, leben heute in Frieden. Staaten, die den Beitritt nicht geschafft haben – wie die Ukraine, Georgien oder Moldau – haben gegen ihren Willen russische Truppen auf ihrem Territorium. Das zeigt: Der Schutz durch die NATO funktioniert. 

Leider hat Angela Merkel 2008 in Bukarest die Aufnahme der Ukraine in die NATO blockiert. Eine bessere Ausrüstung Kyjiws, eine stärkere Annäherung an den Westen hätte Russland vielleicht von einer Aggression abgeschreckt. Dank der Berliner Beschwichtigung konnte Putin seine revisionistische Politik ungestört fortsetzen. Dem Westen fehlte es an Entschlossenheit und insbesondere Deutschland hat immer wieder gebremst und sich konkret für russische Interessen eingesetzt. Ein Fehler, für den jetzt die Ukraine bezahlt. 

Die NATO hat zu keinem Zeitpunkt die Sicherheit der Militär- und Nuklearmacht Russland gefährdet. Das ist ein absurdes Argument aus dem Giftschrank der russischen Propagandamedien. 

 

Spätestens seit 2014 gelten die Beziehungen zwischen Russland und dem Westen als zerrüttet. Seit Februar haben sich die Frontstellungen noch deutlich verschärft. Wie bewerten Sie die aktuelle Gefahrenlage in Bezug auf eine mögliche Ausweitung des Konflikts und welche Schritte des Westens würden Sie als hilfreich ansehen, um dazu beizutragen, die Waffen zum Schweigen zu bringen?

Dieser Konflikt wird jetzt auf dem Schlachtfeld entschieden. Unser Interesse ist es, dass die Ukraine diesen Krieg nicht verliert. Deshalb sollten wir sie mit Waffen, Geld und Ausrüstung unterstützen. Die Ukrainerinnen und Ukrainer kämpfen schließlich auch für unsere Freiheit und unsere Werte. Je stärker die Ukraine ist, desto besser für unsere Sicherheit und auch für den Frieden in Europa.

Mittelfristig sollte unser Ziel sein, Putins Russland wirtschaftlich so stark zu schwächen, dass es keine Bedrohung mehr für Europa darstellt. Bis das gelingt, muss sich der Westen so aufstellen, dass er in der Lage ist, Russland wirksam abzuschrecken. Davon sind wir zurzeit weit entfernt. 

 

Zitierempfehlung: Gundula Gahlen, Interview mit Prof. Dr. Jan Claas Behrends. III. Teil: Krieg in der Ukraine – Die Bedeutung von Gewalt in der postsowjetischen Politik Russlands, in: Themenschwerpunkt „Krieg in der Ukraine. Militär- und gewaltgeschichtliche Hintergründe“, hg. von Jannes Bergmann/Paul Fröhlich/Gundula Gahlen, Portal Militärgeschichte, 25. März 2022, URL: https://portal-militaergeschichte.de/gahlen_interview_behrends (Bitte fügen Sie in Klammern das Datum des letzten Aufrufs dieser Seite hinzu).

  • 1. Jan Claas Behrends, Ein Jahr der Gewalt: Russlands Staatskrise und der Krieg gegen die Ukraine, in: Osteuropa 65 (2015), S. 47–66, hier S. 48.
  • 2. Vladimir Putin, Über die historische Einheit der Russen und der Ukrainer. Dokumentation, in: Osteuropa 7 (2021), S. 51–66.
  • 3. Behrends, Ein Jahr der Gewalt (wie Anm. 1), S. 48.
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