Anmerkungen zu den Verteidigungsplanungen der NATO (1960–1990). VI. Teil: Krieg in der Ukraine
Gerd Bolik/Heiner Möllers
Aufsatz
Veröffentlicht am: 
09. Mai 2022
DOI: 
https://doi.org/10.15500/akm.09.05.2022

Vorbemerkungen1

Die Besetzung der Krim durch russische Streitkräfte 2014 und der am 24. Februar 2022 erfolgte Überfall Russlands auf die Ukraine rücken die seit 2015/16 schwelende bundeswehrinterne Diskussion über „LV/BV“ (Landes- und Bündnisverteidigung) schlagartig in den Mittelpunkt sicherheitspolitischer Debatten. Es geht nicht mehr allein um Deutschland: die NATO-Staaten in Mittel- und Nordosteuropa forcieren die Debatte aus nachvollziehbaren Bedrohungswahrnehmungen. Offensichtlich ist die Bundesrepublik (ebenso wie ihre Partner in der NATO und hier besonders an der Ostflanke) eben nicht mehr allein „von Freunden umzingelt“,2 wie Volker Rühe es in den 1990er Jahren einmal umschrieb.

Frühere Überlegungen, Planungen und Vorstellungen zur Verteidigung im Bündnis gewinnen an Bedeutung, auch wenn das heute in der Ukraine zu erkennende Kriegsbild nicht von großräumigen Offensiven mit Panzerarmeen wie in den militärischen Planungen im "Kalten Krieg" geprägt ist. Dieses neue Interesse konnte man bereits seit einigen Jahren an der plötzlichen Suche von Bundeswehrdienststellen nach „ihren General Defense Plans (GDP)“ erkennen, die der amtierende Supreme Allied Commander Europe (SACEUR) der NATO, General John Galvin, am Tag vor der Wiedervereinigung beider deutscher Staaten am 2. Oktober 1990 außer Kraft gesetzt hatte.

Dass GDPs bis vor kurzem geringe Aufmerksamkeit erhielten und bislang nur wenig historisch untersucht worden sind, mag daran liegen, dass der Aktenzugang lange schwierig bis unmöglich war.3 Es mag auch daran liegen, dass GDPs in gewisser Hinsicht hypothetisch scheinen. Tatsächlich aber waren es reale Planungen der NATO zur Verteidigung Mitteleuropas im Zeitalter der Blockkonfrontation, die zudem regelmäßig beübt wurden, aber nie umgesetzt werden mussten!

Dieser Beitrag widmet sich der Frage, wie die NATO auf der Grundlage ihrer strategischen Denkweise die Verteidigung Mitteleuropas ausgeplant hat. Anhand der deutschen militärischen Überlieferung zu den GDPs werden die Planungen für alle NATO-Korps dargestellt, die an der Verteidigung der Bundesrepublik Deutschland von den Alpen bis zur Elbe beteiligt waren. Aus der Perspektive der NATO und seiner Mitgliedsstaaten wird aufgezeigt, wie sich die Alliierten den Aufmarsch und die Verteidigung in den ersten Tagen eines Angriffs des Warschauer Pakts planerisch vorstellten.

Der Beitrag setzt sich nach einer Skizzierung der Literatur- und Quellenlage mit dem GDP als Quelle auseinander. Anschließend beschreibt er die sich über die Jahre verändernde NATO-Strategie und deren Auswirkungen auf die Landesverteidigungsplanungen in Deutschland entlang des Eisernen Vorhangs bzw. der innerdeutschen Grenze. Dazu zeigt er die Gefechtsstreifen der nationalen Korps, die Schwerpunktbildungen und Truppeneinteilungen, die Kampfgrundsätze sowie die Bildung und den geplanten Einsatz der Reserven auf. Weil sich dieser Aufsatz überwiegend auf die deutsche militärische Überlieferung stützt und weil bislang wenige Erkenntnisse zu den GDPs anderer Nationen vorliegen, versteht er sich auch als Anstoß zu weiteren internationalen Forschungen.

 

1. Literatur- und Quellenlage

Zum „Kalten Krieg“, mit dem genau genommen das Zeitalter der Blockkonfrontation beziehungsweise des Ost-West-Konflikts gemeint sein müsste, hat sich in den letzten Jahren eine Fülle von Forschungen ergeben, bei denen manche Autoren einen spürbaren Bogen um das Militär machen, sich aber ausführlich zur Militärpolitik der jeweiligen Zeit äußern.4 Die Verteidigungsplanungen der NATO im Kalten Krieg, genauer gesprochen das, was das westliche Verteidigungsbündnis im Zuge der zeitweiligen „Vorneverteidigung“ angelegt und vorbereitet hat, ist erst recht bis heute eine Black Box.

Die Literaturlage zu den Verteidigungsplanungen des Westens in den Jahren zwischen 1960 und 1990 ist so insgesamt als eher dürftig zu bezeichnen.5 Einzelstudien zu ausgewählten Regionen und überwiegend zu den frühen Jahren der Blockkonfrontation,6 stehen bislang nur wenige Studien zu den operativen Planungen der Gegenseite gegenüber, die entweder kaum auf Quellen zurückgreifen konnten,7 oder sich überwiegend auf Übungsszenarien und damit nicht auf reale Planungen für den Ernstfall aus westlicher Sicht beziehen.8

Über sehr lange Zeit existierten allenfalls offiziöse Darstellungen (wie zum Beispiel die Weißbücher der Bundesregierung), die als politische Kommunikationsinstrumente auch in Richtung Osten natürlich nicht besonders in die Tiefe reichten, und Nachfragen hierzu waren höchst verdächtig. Etwas Licht ins Dunkel brachte 1975 Ulrich de Maizières Studie „Verteidigung in Europa Mitte“, der die Friedensdislozierung und die geplanten Einsatzräume erwähnte, ohne indes detaillierter darauf einzugehen.9 Heinz Magenheimer gab 1986 eine Fülle von (offiziösen) Informationen preis.10 Nach Ende des Kalten Krieges folgten Veröffentlichungen beispielsweise von Dieter Krüger zu den Operationsplanung der frühen NATO für Österreich und Norditalien 1951 bis 196011 und von Helmut Hammerich zu den Verteidigungsplanungen im Bereich des I. bis III. (GE) Korps. Sie konnten sich erstmals auf „scharfe“ Einsatzplanungen stützen.12 Diese ersten Ansätze von Mitarbeitern des damaligen Militärgeschichtlichen Forschungsamtes (MGFA), eine Operationsgeschichte des Kalten Krieges zu schreiben, wurden aber nicht weitergeführt.

Für die Planungen des Warschauer Paktes in den 1970er/80er Jahren bietet Oliver Bange den bislang profundesten Einblick in das dortige Verständnis von militärisch abgestützter Sicherheitspolitik und damit einhergehender Operationsplanung der Gegenseite.13 Insbesondere reflektiert er den Strategiewandel der Sowjetunion Mitte der 1980er Jahre und seine Auswirkungen auf die operativen Planungen in Zentraleuropa. Diese erfolgten letztlich als Reaktion auf die Modernisierungen bei Waffen und Gerät im Westen und hiesige operative Planungsänderungen durch Einbindung größerer Reserven aus den USA auf dem mitteleuropäischen Kriegsschauplatz. Insofern muss man künftig also die westlichen Planungen auch im Kontext ihrer östlichen Folgen und umgekehrt betrachten. Gerd Boliks Studie, auf dessen Ergebnissen dieser Aufsatz beruht, ist das erste Überblickswerk, welches aktengesättigt die NATO-Planungen in Mitteleuropa über den Lauf der Zeit hinweg skizziert.14 Boliks Buch ist freilich keine vollständige Darstellung aller Verteidigungsplanungen über die gesamte Zeit des Kalten Krieges. Aus der Perspektive der NATO und seiner Mitgliedsstaaten zeigt es vielmehr auf, wie sich die Alliierten den Aufmarsch und die Verteidigung in den ersten Tagen eines Angriffs des Warschauer Pakts planerisch vorstellten. Gefragt wird, welche Gefechtsstreifen waren von welcher Nation mit welchen Truppen besetzt und wo verliefen die Grenzen dieser Gefechtsstreifen? Welche Kampfweise war vorgesehen – lineare Aufstellung aller gefechtsbereiten Truppenteile oder Bereithaltung kampfkräftiger Reserven?

Zur Quellenlage ist zu konstatieren, dass viele Dokumente immer noch als Verschlusssachen in Archiven lagern, weil das ein oder andere fortgeschrieben worden sein soll; insbesondere dann, wenn es sich nicht um Planungen der (deutschen) Bundeswehr, sondern der (internationalen) NATO handelt. Auch Akten zu den „ABC-Themen“, also denjenigen, die von Nuklearwaffen sowie der Kriegsführung und ABC-Bedrohungen handeln, werden noch weitreichend als Verschlusssachen nicht offengelegt.15

Nach inoffiziellen Aussagen sollen bis 1990 noch nicht an das Militärarchiv abgegebenen Unterlagen zu den GDPs auf Weisung des Bundesministeriums der Verteidigung um 1992 vernichtet worden sein. Tatsächlich aber fanden sich in den zurückliegenden Jahren noch vielfältige GDP-Unterlagen der Bundeswehr im Militärarchiv. Bei der Suche nach den Plänen zur Verteidigung Westeuropas erwies sich das frühere III. (deutsche) Korps als Glücksfall. Sein Bestand im Bundesarchiv-Militärarchiv dokumentiert als bislang einziger diese Planungen seit den 1960er Jahren beinahe vollumfänglich.16 Anhand der Akten zu den deutschen Korps im Militärarchiv ließen sich auch einige Erkenntnisse zu den benachbarten alliierten Korps gewinnen. So ist der General Defense Plan (GDP) des V. (US) Korps von 1981/82 beispielsweise in Form einer Auswertung durch das Ministerium für Staatsicherheit im Internet einsehbar,17 aber nicht das Original. Amerikanische und belgische Stellen ließen Anfragen zum GDP unbeantwortet. Allerdings konnten Zugänge zu den GDPs der Niederlande und Großbritanniens gewonnen werden. Je nach Informationslage können so die einzelnen nicht-deutschen Korps in die Darstellung einbezogen werden.

 

2. Wie liest man einen GDP?

Um die eingangs gestellten Fragen beantworten zu können, muss man einen GDP lesen können, seine Konstruktion und seine Genese verstehen: In den verschiedenen militärischen Stäben wurden die GDPs für ihre Verantwortungsbereiche im regelmäßigen Rhythmus von beinahe zwei Jahren überprüft, aktualisiert oder neu anlegt (wobei das dann wieder eine Fortschreibung war, weil Vieles aus einem Vorgänger-GDP übernommen werden konnte). Dabei ist ein GDP kein Werk eines Einzelnen, sondern das Ergebnis vieler Mitwirkenden. Für das III. (deutsche) Korps und seinen GDP 1/[19]87 hat der damalige G3op (Generalstabsoffizier für operative Planung) dies so beschrieben:18 Er und seine beiden Mitarbeiter haben damals auf Weisung des Kommandierenden Generals seines Korps und auf der Grundlage der von der vorgesetzten Central Army Group der NATO (CENTAG) getätigten Vorgaben oder aus eigenen Lagebeurteilungen heraus den GDP über eine Zeit von beinahe drei Jahren aktualisiert. Zum 1. Oktober 1987 hat ihn dann der Kommandierende General in Kraft gesetzt. „Aktualisiert“ bedeutet in diesem Zusammenhang, dass beim G3op alle Unterlagen zusammenliefen, die von den einzelnen Abteilungen im Stab des III. Korps, der nachgeordneten Korpskommandos (für Logistik, Heeresflieger, Sanität usw.) sowie der dem Korps unterstellten Truppenteile (2. Panzergrenadierdivision und 5. Panzerdivision sowie der Panzerbrigade 34) erstellt wurden. Der G3op legte auf ihrer Grundlage das Gesamtwerk an. Konkret mussten hierbei für den GDP 1/87 des III. Korps – neben vielen anderen, kleineren Aspekten –
• die „Neuformulierung des Korpsauftrages,
• die Bereitstellung und Einsatzkonzeption für die Korpsreserve,
• die Neuregelungen im Bereich der Kampfunterstützung (Artillerie und Pioniere),
• die Änderungen des Alarmplanes, besonders hinsichtlich der Auswirkungen auf den Aufmarsch“
berücksichtigt und angepasst werden.19

Die Befehlsgebung für die Korpskommandos und Divisionen wurde somit nicht vollständig neu angelegt, sondern in weiten Teilen angepasst und aktualisiert. Solche Aktualisierungen waren insbesondere dann erforderlich, wenn z.B. durch Veränderungen der Auftragslage (etwa seitens der CENTAG) oder durch eigenständige Entscheidungen des Korps und seiner Divisionen bei den Aufträgen für die Verbände in der Verteidigung Änderungen auftraten.20

Beim Lesen eines GDP, der mit Anlagen21 z.B. allein für das III. Korps und ohne seine Truppen über 200 Seiten lang war und nur mit den dazugehörenden Unterlagen dieser nachgeordneten Verbände usw. verstanden werden kann, wird man an ein Drehbuch für den ersten Gefechtstag erinnert. – Ab dem zweiten hätte vermutlich das System der Aushilfen seinen Lauf genommen. Allerdings beschleichen Lesende oft Zweifel, ob dieses Drehbuch letztlich zum Erfolg geführt hätte. Es ist in den GDPs beispielsweise keine Rede davon, dass ein Aufmarsch möglicherweise nicht planmäßig durchgeführt werden könnte, weil Brücken gesprengt oder die Vormarschstraßen mit Flüchtlingen belegt worden wären, und sich Letztere gar noch dem Versuch widersetzt hätten, die Straßen für das Militär freizumachen. Es ist in den GDPs ebenso keine Rede davon, dass die sorgfältige Aufmarschplanung nicht greift, weil eine nationale Regierung die Lage unterschiedlich oder falsch eingeschätzt und daher zu einer anderen Zeit mobilgemacht hätte als die übrigen Verbündeten. – Natürlich ging alle Theorie davon aus, dass die NATO-Staaten gemeinsam den Verteidigungsfall gemäß Artikel 5 der NATO-Charta festgestellt hätten. Ob dazu noch genügend Zeit gewesen wäre, entzieht sich heute jeglicher Bewertung. – Die NATO ging nach eigenen Aussagen von einer Vorwarnzeit von 48 Stunden aus. Dann könnte eine solche Feststellung des Bündnisfalls durchaus zeitgerecht getroffen worden sein.22

Beklemmend ist weiter, dass in frühen GDPs zu Zeiten der Strategie der „Massive Retaliation“ erschreckend nüchtern diejenigen Zielpunkte, auch auf dem Gebiet der Bundesrepublik, genannt werden, die mit atomarem Feuer belegt werden sollten.

 

3. Strategie und Planungen

Die Planungen der Verteidigungsoperationen waren an den zeitgenössischen strategischen Richtlinien der NATO ausgerichtet, die vereinfachend als „Strategie“ bezeichnet werden.23 Dabei ging die NATO bei den GDPs grundsätzlich von einem „worst case“-Szenario aus, das bis 1990 von einer deutlichen Überlegenheit des Warschauer Paktes bei konventionellen Waffensystemen geprägt war. Deswegen galt es als unumgänglich, so früh und so weit vorne wie möglich die Verteidigung zu beginnen – weswegen sich der „Vordere Rand der Verteidigung“ (VRV) über die Jahre immer weiter an die innerdeutsche Grenze vorschob.

Abb. 1: Schematische Darstellung der im Zuge der sich wandelnden NATO-Strategien (von der Forward Strategy zur Flexible Response nach Osten verschobenen First Line of Defense. Quelle: Militärgeschichtliches Forschungsamt, 2005.

Forward Strategy
Die erste NATO-Strategie, niedergeschrieben im Dokument MC 14/1 (Final) vom 9. Dezember 1952, hatte den Streitkräfteeinsatz zwischen der damals als „Zonengrenze“ bezeichneten innerdeutschen Grenze und der Rhein-Ijssel-Linie sowie die Verteidigung wichtiger Räume in den südlichen deutschen Mittelgebirgen zum Ziel. Es galt damals der Grundsatz der Vorwärtsverteidigung in Westeuropa, d.h. Verteidigung so weit ostwärts des Rheins wie möglich. Dazu bedurfte es allerdings starker konventioneller Streitkräfte, deren Schaffung auf der Tagung des NATO-Rates in Lissabon (20.-25. Februar 1952) beschlossen worden war. Die dabei vereinbarten Streitkräfteziele (bis 1954 die Schaffung von 52 einsatzbereiten und 90 Reservedivisionen, die binnen 30 Tagen nach Mobilmachung einsatzbereit sein sollten) wurden – trotz der im Dezember 1952 beschlossenen Verschiebung auf das Jahr 1956 – nie erreicht. Daher musste die NATO eine neue strategische Richtlinie entwickeln, die insbesondere die konventionelle Disparität ausgleichen konnte.

Massive Retaliation
Mit dem Strategiedokument MC 14/2 (Final) vom 23. Mai 1957 verschrieb sich die NATO – aufgrund der eigenen konventionellen Unterlegenheit wie auch der amerikanischen Übermacht an strategischen Nuklearwaffen – dem Prinzip der „Massive Retaliation“. Bei einem konventionell vorgetragenen Angriff bestand fortan die Gefahr für den Angreifer, dass die NATO sofort massiv nuklear zurückschlägt.

Es reicht aber nicht, allein von diesem Paradigma auszugehen. Vielmehr muss man begreifen, dass die NATO aufgrund der eigenen konventionellen Unterlegenheit in Europa sowie dem damals bei den US-Streitkräften vorherrschenden geradezu atomhörigen Denken die Ansicht bestand, allein mit der Androhung des Nuklearwaffeneinsatzes Konflikte regeln zu können. Offen muss dabei bis heute bleiben, ob es um ein Beherrschen, Bekämpfen oder Vermeiden ging. Und nicht zuletzt muss berücksichtigt werden, dass mit dem von Präsident Eisenhower in den USA verkündeten und in der Streitkräfteplanung umgesetzten „New Look“ ebenfalls aus Gründen der Finanzierbarkeit konventioneller Streitkräfte der Griff zu den Nuklearwaffen kostengünstiger und einfacher schien. – Vereinfacht gesprochen ging man nach dem Motto „more bang for a buck“ davon aus, dass ein Nuklearsprengkopf eine Brigade ersetzen könne.

Ungeachtet der damaligen Betonung strategischer Nuklearpotenziale galt der Grundsatz der Vorwärtsverteidigung fort und wurde am 1. September 1963 durch den Supreme Allied Commander Europe (SACEUR) für die Bereiche Allied Forces Central Europa (AFCENT) und Baltic Approaches (Ostseezugänge, BALTAP), also vom Nordzipfel Dänemarks bis zu den Alpen, als strategisches Prinzip befohlen.

In Folge der zunehmenden nuklearen Kapazität der UdSSR verlor die Massive Vergeltung an Glaubwürdigkeit. Insbesondere der Regierungswechsel in den USA 1961 sowie der bereits zuvor einsetzende Chor der Kritiker und nicht zuletzt die Kuba-Krise im Oktober 1962 bewirkten und beschleunigten ein Umdenken.24 Die USA initiierten für sich die Strategie der „Flexible Response“, die 1967/68 dann – im Kontext des Harmel-Berichts – als MC 14/3 zur offiziellen Strategie der NATO wurde.

Flexible Response
Diese Strategie, als MC 14/3 (Final) am 16. Januar 1968 in Kraft gesetzt, hatte als Kerninhalt das Prinzip der Flexible Response. Die NATO beabsichtigte damit künftig, einem Aggressor zunächst auf der von ihm gewählten „Stufe“ entgegenzutreten (vermutlich der des konventionellen Angriffs). Sie behielt sich aber bei Scheitern der eigenen Verteidigung eine Eskalation bis hin zum Einsatz der taktischen Nuklearwaffen vor. Auch die Flexible Response enthielt das Prinzip der Vorwärtsverteidigung. Dies sollte durch Tiefenstaffelung der Streitkräfte sowie entsprechende taktische Beweglichkeit sichergestellt werden. Erst im Laufe der folgenden Jahre sollte sich die Begrifflichkeit ändern in Vorneverteidigung (statt bislang Vorwärtsverteidigung), womit es zudem um eine politisch-deeskalierende Formulierung ging.

Essenziell an der Strategie der Flexiblen Antwort war nun der Aufbau der mitunter so bezeichneten NATO-Triade:25 Auf der untersten Stufe ging es um die Direktverteidigung, die vorzugsweise – bzw. als Reaktion auf die Art des Angriffs seitens des Warschauer Paktes – konventionell erfolgen sollte. Sollte die NATO hierbei ins Hintertreffen geraten oder der Konflikt nicht beendet werden können, behielt sie sich auf der zweiten Stufe eine vorbedachte Eskalation vor. Diese hätte in einem demonstrativen Einsatz von Nuklearwaffen (z.B. als sogenannter „Air Burst“ über der menschenleeren Ostsee) bestehen können, um der Gegenseite die Möglichkeit zum Reagieren zu geben bzw. sie zur Einstellung der Kampfhandlungen zu bewegen. Auf der dritten, und fraglos finalen Stufe des Konfliktes wäre die Allgemeine Reaktion, also unter Einsatz strategischer Nuklearwaffen eingetreten.

 

4. Die Planung der Landesverteidigung

Die Literatur zur Landes- und Bündnisverteidigung der NATO im Zeitalter der Blockkonfrontation bezieht sich immer wieder auf das Bild der sogenannten „Schichttorte“ (siehe Abbildung 1). Selbst in offiziellen Dokumenten der Bundesregierung und nicht zuletzt in den zahlreichen Internetquellen dazu findet man immer wieder graphische Darstellungen dieses „Kuchens“, der tatsächlich aber nur einen ersten Eindruck vermittelt.

Die „Schichttorte“ und Zonen
Aus politischen Gründen wurden die zur Verteidigung Mitteleuropas vorgesehenen nationalen Korps ab den späten 1960er Jahren endgültig nebeneinander eingesetzt, wobei die Verteidigungsoperationen grundsätzlich schon an der innerdeutschen Grenze beginnen sollten.