Dieses Dissertationsvorhaben untersucht die Bedeutung des Ministeriums für Nationale Verteidigung (MfNV) für die innere Sicherheit der DDR von seiner Gründung 1956 bis zum Ende der Ära Ulbricht im Jahr 1971. Es widmet sich damit einer bislang von der Forschung vernachlässigten, zentralen Institution für die Sicherheitspolitik der DDR. Dem Verteidigungsministerium oblag die Führung des Einsatzes aller bewaffneten Kräfte sowohl im Rahmen der Landes- und Bündnisverteidigung als auch im Fall einer inneren Krise, der von der Staatsführung befürchteten sogenannten ‚Konterrevolution‘. Durch die Konzeption von Einsatz- und Ausbildungsplänen hatte das MfNV die Einsatzbereitschaft der Streitkräfte unter allen denkbaren Bedingungen zu gewährleisten, was im Widerspruch zur offiziellen Inszenierung der Nationalen Volksarmee (NVA) als Landesverteidigerin stand. Diese Aufgabenstellung, innerhalb des Ministeriums als „seine komplexe Verantwortung für den militärischen Schutz der Deutschen Demokratischen Republik“ bezeichnet, machte die Institution zum Organ einer integrativen Sicherheitspolitik.1
Im Rahmen der historischen Sicherheitsforschung soll in dieser Studie ergründet werden, welche Bedeutung dem militärischen Führungsorgan auf dem Politikfeld der Inneren Sicherheit im Lauf der 1950er- und 1960er-Jahre zukam. Der Untersuchungszeitraum umfasst die Konsolidierungsphase der ostdeutschen Sicherheitspolitik. Dieser war von Zäsuren geprägt, die unmittelbare Rückwirkungen auf die Arbeit des MfNV hatten. Es gilt zu untersuchen, wie sich die innere Funktion des Militärs im Kontext des Sicherheitssystems der DDR entwickelte.2 Die Fragestellung wird dabei vom übergeordneten Interesse an der Bedeutung von Militär für die Herrschaftssicherung sozialistischer Diktaturen im 20. Jahrhundert geleitet.
Untersuchungsgegenstand
Innerhalb des weit verzweigten Sicherheitssystems der DDR nahm das Verteidigungsministerium eine zentrale Rolle ein, die von der Forschung bislang noch nicht ausgeleuchtet wurde. Dem MfNV kamen Aufgaben zu, die den Verantwortungsbereich vergleichbarer Institutionen, wie die Organisation, Bewaffnung und Führung der Streitkräfte, die das Politikfeld der Landesverteidigung beschreiben, weit überstiegen. Dies war seiner durch die Staats- und Parteiführung zugedachten Rolle geschuldet: Das Verteidigungsministerium fungierte als das zentrale Organ zur Verteidigung der sogenannten ‚Errungenschaften des Arbeiter- und Bauerstaats‘ mit Hilfe bewaffneter Kräfte. Sein Minister hatte dem NVR (Nationaler Verteidigungsrat) regelmäßig den „Plan des militärischen Einsatzes der bewaffneten Kräfte der Deutschen Demokratischen Republik im Innern der Deutschen Demokratischen Republik sowie im Verteidigungszustand“ vorzulegen, der vom Hauptstab des Ministeriums erarbeitet wurde. Er beinhaltete die Konzeption des Einsatzes der bewaffneten Kräfte aller drei sogenannten Sicherheitsministerien, zu denen neben dem Ministerium für Staatssicherheit (MfS) auch das Ministerium des Innern (MdI) gehörte. Obwohl die drei Ministerien strukturmäßig gleichgestellt waren, war es das MfNV, welches deren Einsatz zu planen, zu organisieren und im Kriegs- oder inneren Krisenfall zu führen hatte. Die militärische Führungsrolle des Verteidigungsministeriums drückte sich in Friedenszeiten außerdem durch seine Aufgabe aus, die Ausbildung der bewaffneten Kräfte der anderen beiden Ministerien zu unterstützen.
Im Lauf der 1960er-Jahre wurden dem Verteidigungsministerium zwei Institutionen übertragen, die zuvor dem Innenministerium unterstellt gewesen waren. Es handelte sich dabei zum einen im Jahr 1961 um die Grenztruppen, welche für die militärische Sicherung des Grenzgebiets nach innen und außen zuständig waren. Zum anderen wurde dem Verteidigungsministerium 1968 die Gesellschaft für Sport und Technik unterstellt. Diese paramilitärische Massenorganisation hatte die wehrsportliche und vormilitärische Erziehung von Kindern und Jugendlichen zur Aufgabe. Durch die neuen Verantwortlichkeiten war es damit einerseits für ein maßgebliches Repressionsinstrument der SED-Diktatur gegenüber der eigenen Bevölkerung verantwortlich und wurde andererseits ein zentraler Akteur für die fortschreitende Militarisierung ziviler Lebensbereiche, einem markanten Kennzeichen der ostdeutschen Gesellschaft unter der Herrschaft der SED.
Fragestellung
Im Mittelpunkt bisheriger Studien zur NVA standen die Erforschung der vom Verteidigungsministerium angeleiteten äußeren Funktion, also die Vorbereitung der Streitkräfte auf eine militärische Eskalation des Kalten Kriegs in Europa und ihre Integration in die WVO, ihr inneres Gefüge, ihre gesellschaftliche Bedeutung und die Kontrolle der Streitkräfte durch die SED. Es bleibt dagegen zu untersuchen, inwiefern sich die verantwortlichen Akteure im Ministerium den inneren Auftrag zu eigen machten und konzeptionell verwirklichten. Die institutionelle Einbindung des militärischen Führungsorgans in die Abwehr innerer Bedrohungen des Staats lässt sich als eine Militarisierung von Sicherheit verstehen. Die Untersuchung dieses Phänomens erlaubt sowohl einen Beitrag zum Verständnis des ostdeutschen Sicherheitssystems leisten zu können als auch eine vernachlässigte Facette der Sicherheitskultur in der DDR zu beleuchten. Durch den Fokus auf dessen innere Funktion stellt sie darüber hinaus eine Ergänzung der Debatte um die Rolle des Militärs in der SED-Diktatur dar.
Die Untersuchung von Dokumenten aus der Provenienz des ostdeutschen Verteidigungsministeriums verspricht für die Erforschung des Sicherheitssystems der DDR zweierlei: Erstens stellt die ausstehende Analyse des MfNV als verantwortliches Führungsorgan für das Vorgehen der bewaffneten Kräfte gegen innere Regimegegner eine Forschungslücke dar, die angesichts der zentralen Bedeutung des Verteidigungsministeriums zu schließen ist. Zweitens relativiert sie das in der Forschung etablierte Bild der NVA als Instrument der Landesverteidigung, indem Führungsrolle und Einsatzvorbereitungen des ostdeutschen Militärs hinsichtlich innerer Krisen auch nach den frühen 1960er-Jahren ergründet werden. Damit leistet die Studie einen Beitrag zum Verständnis der Bedeutung des Militärs im Repressionsapparat der SED-Diktatur.
Angesichts der mehrere Politikfelder umfassenden sicherheitspolitischen Verantwortung des Verteidigungsministeriums lautet die Arbeitshypothese, dass das MfNV als vielseitiges und flexibles Instrument der SED-Führung zur Herrschaftssicherung nach außen und innen fungieren sollte. Es gilt zu erforschen, wie die Akteure im Verteidigungsministerium im Rahmen ihrer Verantwortlichkeit für die innere Sicherheit die Sicherheitskultur der DDR prägten. Für dieses Vorhaben bietet sich aus zwei Gründen ein Untersuchungszeitraum von der Entstehung des MfNV bis zum Ende der politischen Herrschaft Walter Ulbrichts an. Erstens markiert er die Zeit, in der das Verteidigungsministerium sowohl seinen Platz unter den Institutionen der Sicherheitspolitik als auch seine innere Struktur fand, die es bis ins Frühjahr 1990 einnehmen sollte. Damit würden die Untersuchungsergebnisse über diesen Zeitraum hinaus deuten, ohne den Rahmen der Studie zu überdehnen. Zweitens waren die Jahre der Konstituierung der ostdeutschen Sicherheitsarchitektur von Zäsuren gekennzeichnet. Die Analyse davon, wie die Akteure des MfNV diesen begegneten, erlaubt Rückschlüsse auf die Fragen, inwiefern sich die Institution im Lauf der Zeit transformierte und ob damit konzeptionelle oder gar doktrinäre Veränderungen einhergingen.
Das Forschungsprojekt wird durch Prof. Dr. Jörn Leonhard am Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte Westeuropas des Historischen Seminars der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg betreut.
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut durch Lisa Marie Freitag.
Zitierempfehlung: Linus Birrel, Organ einer integrativen Sicherheitspolitik? Die Bedeutung des Ministeriums für Nationale Verteidigung für die innere Sicherheit der DDR (1956–1971), in: Portal Militärgeschichte, 13. Juni 2022, URL: https://portal-militaergeschichte.de/birrel_organ (Bitte fügen Sie in Klammern das Datum des letzten Aufrufs dieser Seite hinzu).
- 1. BA-MA DVW 1/114424. Das Statut des MfNV vom 01.02.1968. S. 33.
- 2. Anmerkung: Mit Militär sind im Folgenden die Streitkräfte der DDR gemeint, die dem Verteidigungsministerium unterstanden, also die Teilstreitkräfte der NVA sowie ab 1961 die Grenztruppen. Nicht hinzugezählt werden die nicht zu den Streitkräften der DDR gehörenden, dem Ministerium für Staatssicherheit beziehungsweise dem Ministerium des Innern unterstehenden bewaffneten Kräfte, also das Wachregiment ‚Feliks Dzierzynski‘ respektive der Deutschen Volkspolizei und der Kampfgruppen der Arbeiterklasse.