Generationen von Historiker/-innen haben mit dem Opus magnum des preußischen Generalmajors Carl von Clausewitz gerungen. Sein unvollendetes und erst posthum publiziertes Hauptwerk „Vom Kriege“ hat immer wieder zu Debatten über militärisches Denken und Strategiefragen Anlass gegeben. Mit seiner neuartigen Abhandlung stellte sich Clausewitz gegen die damals gängigen Vorstellungen der Geometrie in der Kriegsführung. Damit wurde der Preuße zum intellektuellen Antipoden von Antoine Henri Jomini, dem zeitlebens größere Beachtung zukam. Wo der Schweizer in französischen und russischen Diensten allgemeingültige Prinzipien aus der napoleonischen Kriegsführung abzuleiten suchte, brach Clausewitz mit der Vorstellung von festen Regeln und erarbeitete stattdessen ein metaphysisches Kriegsverständnis. Dabei trieben Clausewitz weniger die Fragen nach der konkreten Kriegsführung oder der praxisorientierten Kunst der Generalität um, als vielmehr die Suche nach dem realen Wesen des Krieges in all seinen Widersprüchen.
Der Potsdamer Militärhistoriker Christian Th. Müller hat es sich nun zur Aufgabe gemacht, die wirkmächtigen Gedanken für „den mit Clausewitz noch nicht vertrauten Leser“ (6–7) aufzuarbeiten. Schon in der Einleitung beklagt sich Müller über die „bruchstückhaft[e] und verkürzt[e]“ (2) stammtischartige Rezeption des preußischen Denkers. Denn bis heute müssen in militärischen und politischen Kreisen oftmals Clausewitz-Zitate herhalten, um zuvor gefasste Beschlüsse zu legitimieren oder dem Sprecher einen belesenen Anstrich zu verleihen. Clausewitz zu lesen und ihn zu verstehen heißt allerdings, mit seiner komplexen Theorie zu ringen, ähnlich dem eingängigen Bild des erweiterten Zweikampfs, das Clausewitz als Gleichnis für die Unberechenbarkeit des Krieges verwendet. Erst nach intensiver Lektüre kann Clausewitz für das Studium aktueller Kriege fruchtbar gemacht werden. In den Worten des Autors: „Die Clausewitzsche Theorie bildet dementsprechend ein wichtiges heuristisches Mittel bei der Analyse konkreter Konfliktszenarien.“ (6).
Der kurzen Einleitung samt knapper Skizzierung des Forschungsstandes folgt das erste Hauptkapitel zu „Leben und Werk“. Müller vermischt darin gekonnt Ereignisgeschichte mit der Vita seines Protagonisten. Die militärische Sozialisation und erste Kriegserfahrungen als preußischer Kindersoldat formten einen für damalige Verhältnisse atypischen Autodidakten, der mit dem Besuch an der Allgemeinen Kriegsschule in Berlin und der schicksalhaften Freundschaft mit dem Heeresreformer Gerhard Johann David von Scharnhorst (1755–1813) aufblühte. Müller lässt allerdings keinen Zweifel daran, dass auch die spätere Frau, die Hofdame Gräfin Marie von Brühl, Clausewitz „intellektuell bereicherte und über ein Vierteljahrhundert wie keine andere Person an seinem Denken Anteil hatte.“ (16–17). Nach seiner Zeit in Kriegsgefangenschaft an der Seite von Prinz August, die nach Müller eher einer „erzwungenen Bildungsreise“ (21) gleichkam und weiteren Reisen, kehrte Clausewitz nach Berlin zurück. Pädagogisch geschickt entwickelte sich Clausewitz schnell zu einem versierten Lehrer für den preußischen Hof und die Kriegsakademie.
Aus seinem intellektuellen Werdegang dürfte der Anspruch erwachsen sein, den Krieg aus Immanuel Kants philosophischer Denkschule zu begreifen. Dafür übernahm Clausewitz nach Ansicht Müllers drei Kantsche Konzepte: „Das waren insbesondere die Begriffsbildung mit ihrer Unterscheidung von reinem und empirischem Begriff, die allgemeine Logik sowie die dialektische Betrachtung von Satz und Gegen-Satz.“ (43).
Dieser philosophischen Einordnung folgend widmet sich der Autor dem Clausewitzschen Kriegsverständnis. Clausewitz ging es dabei stets darum, das Wesen des Krieges zu beschreiben. Hier beschreibt der Autor einige der bekannten theoretischen Konzepte ein erstes Mal: Der Krieg als erweiterter Zweikampf, die darin zum Vorschein kommenden Wechselwirkungen, die Friktion, die Zweck-Ziel-Mittel-Relation sowie die wunderliche Dreifaltigkeit. Letztere illustriert Müller originell in einer Yin-Yang-Yang Schablone und nicht mit dem gängigen Dreieck mit verschiedenen Polen, zwischen denen der tatsächliche Krieg oszilliert (68).
Der vierte Teil untersucht die theoretischen „Konstruktionsprinzipien“ der Clausewitzschen Gedanken und stellt damit einen sehr anspruchsvollen Teil dar. Hier arbeitet Müller Mal für Mal die „ostentative Ablehnung des kriegstheoretischen Mainstreams um 1800“ durch den Querdenker Clausewitz heraus. Der Autor zeigt, dass Clausewitz zwar mannigfaltige Denkimpulse liefert, wahrlich aber keine Patentrezepte.
Kapitel fünf stellt die geistig-moralischen Kräfte sowie das der Mechanik entliehene Konzept der Friktion in das Zentrum. Gefolgt werden diese Ausführungen von einem Abschnitt zum verschachtelten Verhältnis von Zweck und Mittel, das gemäß Müller „das zentrale Strukturprinzip des Clausewitzschen Begriffsapparates“ (108) ist. So entspricht die physische Gewaltanwendung dem militärischen Mittel, das dem politischen Zweck, dem Gegner den eigenen Willen aufzuzwingen, dient. Daraus wurden später die Grundkomponenten strategischen Denkens: Ziele, Mittel/Kräfte und Methoden/Wege. Zudem klingt in diesem Kapitel auch das Strategieverständnis von Clausewitz an, auf welches im nächsten Abschnitt ausführlich Bezug genommen wird. Vereinfachend entsprach die damalige „Strategie“ etwa der heutigen operativen Ebene.
Es folgen Einschübe etwa zum Einfluss von Otto August Rühle von Lilienstern (1780–1847) sowie zur Rolle von Angriff und Verteidigung als „Paradebeispiel […] dialektischen Denkens.“ (166). Aufbauend auf neuer Forschung macht Müller deutlich, dass Clausewitz nicht nur für die Analyse „großer“ Kriege, sondern auch für den „kleinen“ Guerillakrieg nutzbar gemacht werden kann. Ebenso zeigt der Autor, dass Clausewitz auch von Aufstandstheoretikern und Volkskriegsautoren im 19. und 20. Jahrhundert rezipiert wurde. Kapitel elf und zwölf weiten diese Rezeptionsgeschichte umfangreich aus. Müller liefert in diesen starken Teilen auch einen Abriss über die Instrumentalisierungs-, Missbrauchs- und Vereinnahmungsgeschichte des preußischen Denkers. Der Autor beschließt sein Buch mit zwei Ausblickkapiteln, in denen klar wird, weshalb Clausewitz trotz des technologischen Wandels längst nicht obsolet geworden ist. In den Worten Müllers: „Die Clausewitzsche Theorie bietet für die geistige Durchdringung und Bewältigung [der komplexen sicherheitspolitischen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts] immer noch ein analytisch höchst leistungsfähiges Instrumentarium.“ (277–278).
Sehr lobenswert ist das breite Aktenstudium, auf das sich das Buch stützt. Müller hat nicht nur „Vom Kriege“ mehrfach integral studiert, sondern auch ältere Schriften von Clausewitz zur Kenntnis genommen und in seine Deutung integriert. Die sprachliche Gestaltung des Bandes ist ebenfalls äußerst gelungen – einzig beim Druck scheint es zu Zeilen ohne Abstandszeichen gekommen zu sein (z.B. 24, 28, 81, 92, 102). Und eine konsequente Übersetzung der englischen Zitate ins Deutsche hätte dem Buch einen noch größeren Lesefluss verliehen.
Beachtlich – und auch für den mit Clausewitz vertrauten Leser unterhaltsam – ist die Tatsache, dass Müller etablierte Lesarten auch großer Namen quellengesättigt zu hinterfragen weiß. Insbesondere neuartige Modebegriffe und Schlagworte erfahren vom Autoren Kritik. Es darf vermutet werden, dass er den Titel „Clausewitz verstehen“ bewusst in Abgrenzung zu Beatrice Heusers „Clausewitz lesen“ gewählt hat.
Wie dem auch sei, Christian Th. Müller hat aus seiner jahrzehntelangen Beschäftigung mit Clausewitz ein wichtiges Buch geschöpft. Es bleibt zu wünschen, dass eine Kombination des „neuen“ Denkens von Clausewitz mit den „älteren“ Gedanken insbesondere von Jomini weiterhin vertieft wird. Wenn damit das Werk eines der kreativsten Kriegsphilosophen des 19. Jahrhunderts in einer aktuell nötigen strategischen und sicherheitspolitischen Grundsatzdebatte eine orientierende Grundlage bietet, so wird Christian Th. Müller einen wichtigen Anteil dazu beigetragen haben.
Christian Th. Müller, Clausewitz verstehen. Wirken, Werk und Wirkung, Paderborn 2021, ISBN: 978-3-506-70317-0, 305 Seiten.
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut durch Lisa-Marie Freitag.
Zitierempfehlung: Marcel Berni, Rezension zu: Christian Th. Müller, Clausewitz verstehen. Wirken, Werk und Wirkung, in: Portal Militärgeschichte, 27. Juni 2022, URL: https://portal-militaergeschichte.de/berni_zu_mueller_clausewitz, (Bitte fügen Sie in Klammern das Datum des letzten Aufrufs dieser Seite hinzu).