Irina Renz
Miszelle
Veröffentlicht am: 
03. März 2015
Schwerpunktherausgeber: 
DOI: 
10.15500/akm.03.03.2015

Die Lebensdokumentensammlung der Bibliothek für Zeitgeschichte

Die Bibliothek für Zeitgeschichte (BfZ) archiviert in ihrer Lebensdokumentensammlung Erinnerungen, private Tagebücher und Briefe von deutschsprachigen, zivilen und militärischen Kriegsteilnehmern aus dem Ersten und Zweiten Weltkrieg sowie aus den jeweiligen unmittelbaren Nachkriegsjahren. Gegenwärtig umfasst die Sammlung über 130.000 Feldpostbriefe sowie Briefe von und an Kriegsgefangene. Davon stammen aus dem Ersten Weltkrieg ca. 50.000 Briefe. Dazu kommen über 100 Tagebücher und Erinnerungsschriften mit Bezug auf den „Großen Krieg“. Teilbestände sind in internen Findbüchern und Datenbanken formal erschlossen. In manchen Fällen erleichtern Abschriften den Zugang zu den meistens in der deutschen Kurrentschrift geschriebenen Originalen. Im Themenportal Erster Weltkrieg stellt die BfZ drei Tagebuchbestände exemplarisch vor.1 (Abb. 2). Erstmals wurden für diese Modellfälle das Digitalisat des Originals und der Volltext der Abschrift zusammen mit verschiedenen in die Quelle einführenden Texten online zugänglich gemacht. Diese Tagebücher und deren Abschriften sind überdies im Online-Bibliothekskatalog2 verzeichnet und dadurch auch überregional im Karlsruher Virtuellen Katalog (KVK)3 recherchierbar. Briefsammlungen, Tagebücher und autobiographische Texte aus Deutschland, Frankreich und Großbritannien bilden auch einen Schwerpunkt im Digitalisierungsprogramm der BfZ von Büchern und Broschüren des Ersten Weltkriegs.4 Ein weiteres, inzwischen online zugängliches Projekt der Universität Potsdam hat Lebensdokumente aus einem in der BfZ archivierten Nachlass ediert.5 Die restliche Sammlung ist ebenfalls der Öffentlichkeit zugänglich. Allerdings sind weder der Datenbestand noch die Dokumente selbst anonymisiert und können daher aus rechtlichen Gründen nur im Lesesaal der Bibliothek für Zeitgeschichte eingesehen werden.

Zur Geschichte der Sammlung

Die Neuausrichtung der BfZ hin zu einer kultur- und mentalitätsgeschichtlichen Weltkriegsforschung Anfang der 1990er Jahre veränderte auch den Sammelauftrag der Sondersammlungen. Mit der Übernahme einer umfangreichen, in der Forschung bereits bekannten Privatsammlung6 von Feldpostbriefen und Tagebüchern aus dem Zweiten Weltkrieg im Jahr 1990 legte die BfZ den Grundstock ihrer Lebensdokumentensammlung. Weitere bedeutende Quellensammlungen privater Sammler auch zum Ersten Weltkrieg folgten.7

Das Sammeln privater Aufzeichnungen aus der Kriegszeit gehörte zwar seit der Anfangszeit zu den Aufgaben der Bibliothek, war aber zunächst kaum erfolgt. So hatte der Industrielle Richard Franck, Gründer der 1948 in Bibliothek für Zeitgeschichte umbenannten Weltkriegsbücherei, neben den medialen auch private Dokumente als wesentliche Bestände einer Weltkriegssammlung in Betracht gezogen. Die umfangreiche Wunschliste seines ersten öffentlichen Such- und Sammelauftrags aus dem Jahr 1915 enthält bereits Feldpostbriefsammlungen und private Tagebücher. Deren „Überlassung“ sei „besonders wertvoll“, weil diese die „unmittelbarsten Eindrücke wiedergeben“. Offensichtlich war Franck die Einwerbung dieser Quellengattung sehr wichtig, denn er machte zusätzliche Angebote für die Einsender: Die Originale konnten zurückgefordert und von den durch die Bibliothek hergestellten Abschriften „gern eine Anzahl Durchschläge zu Ihrer Verfügung“ bestellt werden.8 Leider hat sich die ursprüngliche Sammlung, sofern sie überhaupt in größerem Umfang zustande kam, nicht erhalten. Die heutige Sammlung geht auf Spenden und Erwerbungen der Jahre seit 1990 zurück. Sie wird kontinuierlich ergänzt und sukzessive erschlossen.

Ego-Dokumente des Krieges als wissenschaftliche Quelle

Noch 1986 bezeichnete Peter Knoch, dessen umfangreiche Briefsammlung zum Ersten Weltkrieg die BfZ aus seinem Nachlass übernehmen konnte, die Feldpost als eine „unentdeckte historische Quellengattung“.9 Heute ist die Relevanz dieser popularen Quellen für die unterschiedlichsten Fragestellungen dagegen gemeinhin anerkannt. Entsprechend dem Paradigmenwechsel in der Geschichtsschreibung des Ersten Weltkriegs, wie überhaupt der geisteswissenschaftlichen Disziplinen, haben sich seither jedoch auch die wissenschaftliche Anwendung und die Funktion der Ego-Dokumente für die Forschung verändert.

Stehen die publizierten Briefsammlungen der Kriegs- und Nachkriegszeit der zwanziger und dreißiger Jahre unter dem Verdacht der Manipulation und der Instrumentalisierung für die deutschnationale Erziehung, sah die in den achtziger Jahren dominierende alltagshistorische Feldpostforschung in den authentischen Soldatenbriefen vor allem eine „Wirklichkeitsquelle“ (Ortwin Buchbender), in der sich die Perspektive des „Kleinen Mannes“ widerspiegelt. Versucht wurde eine Annäherung an die Kriegsteilnehmer über deren eigene, zeitgleiche Mitteilungen, denn hier galt: „die Toten bleiben jung“.10 In der sozial- und geschlechtergeschichtlichen Forschung gab es seit den 1990ern ebenfalls Ansätze für die Einbeziehung von Ego-Dokumenten aus dem Krieg. Für die Aufrechterhaltung der hierarchisch gesetzten Geschlechterordnung wie auch der Kampfmoral, so die Ergebnisse der Genderforschung, war die Feldpost von eminenter Bedeutung (Christa Hämmerle). Neuere mentalitäts- und kulturhistorische Forschungen befassen sich mit dem erfahrungsgeschichtlichen Gehalt und den längerfristigen Mustern der individuellen Kriegsdeutung sowie ihrem Einfluss auf die Gedenkkultur. Eine Analyse der Sprache der Kriegsbriefe erlaubt eben nicht nur Einblicke in das Denken von Individuen, sondern bietet gleichsam einen „Speicher des gesellschaftlichen Wissens“ (Klaus Latzel).

Diskutiert werden heute nach wie vor die Grenzen und Besonderheiten der wissenschaftlichen Nutzung: Dass diese subjektiven Quellen eben gerade nicht zeigen, „wie der Krieg wirklich war“, nicht einmal, was der Krieg für den Briefschreiber bedeutete.11 Hierfür gilt das eingeschränkte Deutungs- und Ausdrucksvermögen als Argument, aber auch die „Schere im Kopf“, die aus den individuellen Reflexionen eine brieftaugliche Mitteilung zu schneidern hatte. An der Grenze zwischen dem Sagbaren und dem Unsagbaren griffen auf die Adressaten zugeschnittene Filter, nicht unbedingt die Angst vor Zensur.12 Ein kritischer Umgang mit den Feldpostbriefen wird daher angemahnt. Das Potential der Quellengattung für die Forschung wird deswegen aber nicht mehr in Frage gestellt.

Der Bestand

In der Sammlung der BfZ finden sich Briefe und Tagebücher beider Geschlechter und verschiedener Alterskohorten. Ebenso sind unterschiedliche soziale Gruppen und Bildungsniveaus, Berufsgruppen und militärische Ränge vertreten. Es besteht kein regionaler Schwerpunkt, die geografische Herkunft der Verfasser erstreckt sich über ganz Deutschland und somit die militärische Zugehörigkeit - im Falle der Soldaten - auf die preußische Armee, die bayerische, die württembergische sowie die sächsische Armee.

Einige wenige Autoren dienten in der österreichisch-ungarischen Armee. Die Lebensdokumentensammlung zum Ersten Weltkrieg besteht aus drei Bestandsgruppen mit jeweils unterschiedlicher Erschließungstiefe und abweichenden Ordnungsprinzipien: Die Sammlung Schüling, die Sammlung Knoch sowie die Sammlung der Einzelkonvolute (N-Bestände). Überwiegend ist die Ordnung der Materialien biographisch orientiert. So kann ein Personen-Konvolut Briefe und Gegenbriefe, Tagebücher und Memoiren sowie weiteres Material wie Fotografien, Zeichnungen, Ausweise oder sonstige Korrespondenzen aus dem Umfeld des Autors, beispielsweise Kondolenzbriefe zu seinem Tod, enthalten. Der Normalfall ist dies nicht.

In ihrem Umfang sind die einzelnen Konvolute sehr unterschiedlich. Manche enthalten nur wenige Briefe oder ein einzelnes Tagebuch. Für die Bestände unbekannter Herkunft, wie sie durch die Übernahme von Privatsammlungen in die BfZ gelangten, stellt sich das Kernproblem, dass soziodemografische Daten zum Briefautor nur mit großem Aufwand in Erfahrung zu bringen sind. Soweit möglich, werden diese aber bei jeder Aufnahme eines Konvoluts in die Sammlung erfasst und die Provenienz der Dokumente festgehalten.

Briefe

Die Zahl der im Ersten Weltkrieg transportierten deutschen Feldpost wird auf 28,7 Milliarden geschätzt. Rund 11 Milliarden wurden von den Soldaten ins Reichsgebiet geschickt, ca. 17,7 Milliarden gingen von der Heimat ins Feld, das heißt, nahezu 17 Millionen Sendungen waren täglich unterwegs.13 In der Lebensdokumentensammlung der BfZ ist das Verhältnis umgekehrt, es überwiegen die Briefe der Soldaten. Dies mag zum einen mit der Wertschätzung zusammenhängen, die für die Soldatenbriefe weitaus höher lag, zum anderen mit den eingeschränkten Möglichkeiten, die ein Soldat in Kampfsituationen hatte, die empfangene Post mit sich zu führen oder aufzubewahren. Überproportional hoch erscheint in der Sammlung der Anteil an Briefen von Gefallenen – soweit die Lebensdaten der Schreiber überhaupt bekannt sind. Auch dies mag mit der Wertschätzung innerhalb der Familien gerade dieser Personengruppe zusammenhängen. Gefallenenbriefen wurde im Familienkreis oftmals ein „Denkmal“-Status zugesprochen. Beispielhaft sind hierfür auch die schon während des Krieges publizierten Abschriften von Briefen und Tagebüchern der Verstorbenen in „Familiengedenkschriften“. Über das Kriegsereignis hinausführende Korrespondenzen sind im Bestand der BfZ hingegen selten: Da es sich vorrangig um Briefe von und an das familiäre Umfeld handelt, entfiel mit der Heimkehr normalerweise auch die Notwendigkeit einer schriftlichen Mitteilung.

Tagebücher

Die Hinwendung der Weltkriegsforschung zur Kultur- und Mentalitätengeschichte hat – neben den traditionell von der Geschichtsforschung herangezogenen Tagebüchern der militärischen und politischen Entscheidungsträger – auch die Tagebücher der „normalen“ Kriegsteilnehmer ins Blickfeld gerückt. Während die Tagebücher der höheren Militärs mit den Nachlässen in die Militärarchive gelangten, sind die Tagebücher anderer Personengruppen über verschiedene Arten von Archiven verstreut. Entsprechend schwierig ist es, die Quellenbasis für einen thematischen Zusammenhang zu ermitteln.

In der Sammlung der BfZ sind die unter dem Textgenre „Kriegstagebuch“ gesammelten Aufzeichnungen in Form und Umfang sehr heterogen. Die Skala reicht von flüchtigen, stichwortartigen Notizen bis hin zu ausformulierten, manchmal auch in Reinschrift überlieferten Selbstzeugnissen. Die zeitliche Nähe zum reflektierten Ereignis kann daher trotz der diaristischen Form unterschiedlich sein. Schon das äußere Erscheinungsbild variiert. Es gibt abgewetzte Hosentaschen-Heftchen, lose Blätter sowie in Leder gebundene Exemplare. Nicht immer sind dies im heutigen Sinne „private“ Tagebücher. Viele Tagebuchblätter der Soldaten kursierten – wie die Briefe auch – im Familien- und Freundeskreis. Ausformuliert für den Kameradenkreis fanden sie in den 1930er Jahren häufig Eingang in die Regimentsgeschichten. Hier sind die Übergänge zu den Erinnerungswerken fließend. Nur in wenigen Fällen legen die Tagebuchautoren die Intention ihrer Aufschriebe offen. Allen gemeinsam war aber das große Bedürfnis, das Erlebte für die Nachkriegszeit festzuhalten.

Erinnerungen

Gedruckte Memoirenliteratur zum Ersten Weltkrieg bildete in der Büchersammlung der BfZ lange einen Sammelschwerpunkt. Folglich wurden auch in die Lebensdokumentensammlung ungedruckte Erinnerungswerke aufgenommen. Dieser Fundus an meist nicht zur Publikation gelangten Lebensgeschichten erlaubt Einblicke in die Verarbeitung von Krieg, Niederlage und Nachkriegszeit. Lebenserzählungen entstehen häufig aus dem Blickwinkel fortgeschrittenen Alters. Die Bewertung und Einordnung der Kriegserfahrung in die Biographie wird, wie bei jedem autobiographischen Text, vom Verfasser selbst vorgenommen. Der Unterschied zu den publizierten Autobiographien liegt allerdings darin, dass es sich bei den Autoren der hier gesammelten Memoiren weder um arrivierte Persönlichkeiten handelt, noch um Menschen mit großer Schreibpraxis. „Ich schreib, wie mirs in die Feder kommt. [...] Die Vergangenheit war auch nicht ohne Fehler.“ So bereitet der Verfasser einer zehnbändigen Kriegserinnerung seine Leser vor. (Abb. 10). Zwar wurden die Texte selten für den Buchmarkt geschrieben, trotzdem sind die Erinnerungsbände oftmals aufwändig und mit großer Akribie gestaltet: angereichert mit Fotos, Karten und manchmal unter Verwendung der eigenen Briefe und Tagebuchseiten.

Auch dieses Textgenre kann als Quellenbasis für ein breites Spektrum wissenschaftlicher Fragestellungen dienen, die über die Kriegsjahre hinausweisen und sich mit dem „Krieg in den Köpfen“ (Gerd Krumeich) nach dem Ersten Weltkrieg befassen.

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Abbildung 2: Präsentation von Tagebüchern und Feldpostbriefen im Themenportal Erster Weltkrieg der Bibliothek für Zeitgeschichte
Abbildung 3: Abschiedsfotografie eines Ehepaars aus einem Briefkonvolut (BfZ, N Schüling II, 252)
Abbildung 4: Ein Konvolut von Briefen und Tagebüchern aus dem Ersten Weltkrieg in der Lebensdokumentensammlung der Bibliothek für Zeitgeschichte
Abbildung 5: Feldpostbrief eines 18jährigen Kanoniers an seine Eltern und Geschwister, Galizien, 1.7.1917 (BfZ, N97.04)
Abbildung 6: Brief einer Mutter an ihren ins Feld ziehenden Sohn, Flammersbach / Hessen, 1. August 1914 (BfZ, N:Schüling, Bd.27.1)
Abbildung 7: Brief eines Landwirts an seinen an der Westfront eingesetzten Sohn, Engelade, 15. Oktober 1918 (BfZ, N94.17)
Abbildung 8: Loses Blatt aus dem Tagebuch eines Leutnants der Reserve bei der Feldartillerie, Eintrag vom 23. und 24. August 1918, notiert in der Nähe von Longueval / Somme (BfZ, N04.10)
Abbildung 9: Tagebuch eines Zugführers mit den Einträgen zu den „Verlusten“ unter seinen Kameraden zwischen Juni und Juli 1916 (BfZ, N06.2)
Abbildung 10: „Ich schreib, wie mirs in die Feder kommt. ... Die Vergangenheit war auch nicht ohne Fehler.“ Motto aus Band 1 des zehnbändigen Erinnerungswerks eines Leutnants der Reserve, verfasst 1964 (N94.4)
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