Als die Wehrmacht im September 1939 Polen angriff, ging sie mit außerordentlicher Gewalt gegen die polnische Zivilbevölkerung vor: Etwa 26 000 polnische Zivilisten verloren ihr Leben, 16 000 von ihnen wurden hingerichtet. Die Genese dieser Kriegsverbrechen soll mithilfe einer Referenzrahmenanalyse, die die Wahrnehmungs- und Deutungsmuster der Wehrmachtssoldaten rekonstruiert, erklärt werden.1 Ausgangspunkt dieser Untersuchung ist die Annahme, dass die Gewalt gegenüber polnischen Zivilisten auf verschiedene, sich gegenseitig beeinflussende Faktoren zurückzuführen ist. Diese Faktoren prägten den Referenzrahmen der Soldaten und hatten ihren Ursprung teilweise in der Vorkriegszeit.
Nachdem die Strategie, Polen zum Bündnispartner zu machen, im Herbst 1938 am Widerstand der polnischen Regierung gescheitert war, vollzog die NS-Propaganda eine Kehrtwende in ihrem Vorgehen: Der Aufkündigung des Nichtangriffsabkommens folgte eine antipolnische Hetzkampagne, die Polen als Aggressor darzustellen und eine prophylaktische Kriegsschuldzuweisung vorzunehmen suchte. Die NS-Propagandisten konnten weitestgehend an die polenfeindlichen Ressentiments der Kaiserzeit und der Weimarer Republik anschließen – die kurze Interimszeit der polenfreundlichen Agitation hatte die entsprechenden Vorurteile nicht abbauen können. Neben allgemeinen Verunglimpfungen, die auf den Charakter der Polen abzielten, wurden sukzessive auch konkrete negative Taten der Polen wie Grenzverletzungen und Misshandlung von "Volksdeutschen" in Polen in der Reichspresse thematisiert. Die ständigen Wiederholungen und Übertreibungen sollten die negativen Konnotationen mit Polen medial einschleifen und die angespannte Atmosphäre in Deutschland aufrechterhalten.
Inwiefern sich antipolnische Ressentiments auch innerhalb militärischer Taktiken und Überlegungen durchsetzten, lässt sich an Berichten der militärischen Aufklärung erkennen: In ihnen wurde wiederholt vor dem angeblich hinterhältigen Charakter der polnischen Bevölkerung gewarnt. Solche Prognosen schlugen sich anschließend in der taktischen Kriegsplanung nieder, sodass beispielweise Richtlinien herausgegeben wurden, welche die Mannschaften zu besonderem Misstrauen gegenüber den polnischen Zivilisten ermahnten. Diese Vorgehensweise transportierte die Vorurteile weiter, wodurch der Referenzrahmen zusätzlich antipolnisch aufgeladen und die entsprechende Erwartungshaltung geprägt wurden.
Das Feindbild "Polen" wurde bereits während der deutschen Kriegsvorbereitungen mit einem anderen Feindbild verknüpft: mit dem der Freischärler. Die Charakterzuschreibungen beider Gruppen ähnelten sich stark und wiesen in der Regel Attribute wie "feige" und "hinterhältig" auf. Im Herbst 1939 war die Furcht vor polnischen Freischärlern innerhalb des Führungskorps der Wehrmacht sehr ausgeprägt, was zu entsprechenden Handlungsanweisungen über den Umgang mit "Freischärlerei" führte. Diese prägten wiederum den Referenzrahmen und die Erwartungshaltung der Soldaten. Wut und Hass auf die zu erwartenden, vermeintlich kriegswidrigen Handlungen der Polen waren das Resultat, noch bevor die ersten Soldaten die deutsch-polnische Grenze überschritten hatten.
Die Situation an der Front, die Dynamik der Gewalt und die Unerfahrenheit der zumeist jungen Soldaten waren zentrale Einflussfaktoren, die erst während des Krieges wirkungsmächtig wurden – dann aber häufig die bestehenden Vorurteile und Vorerwartungen bekräftigten. Beispielsweise schienen einzelne Freischärlerangriffe die Vorannahme zu bestätigen, dass die polnische Zivilbevölkerung an Kriegshandlungen beteiligt war. Anschließend ließ sich ein regelrechter "Freischärlerwahn" in einzelnen Einheiten feststellen. Verschärfend hinzu kam die Entprofessionalisierung des Offizierkorps, die durch eine verkürzte Ausbildung hervorgerufen worden war. Die Truppführer stellten im Gefecht oftmals den einzigen Bezugspunkt für die Soldaten dar und steigerten durch ihre mangelhafte Ausbildung die Unzulänglichkeiten der Truppe, rational auf bedrohlich anmutende Situationen zu reagieren. In solchen Situationen wuchs das Orientierungsbedürfnis, sodass auf Deutungsmuster zurückgegriffen wurde, die von Truppführern, Befehlen oder der NS-Ideologie angeboten wurden und das Erlebte einordnen sollten. Die Annahme, von polnischen Freischärlern angegriffen worden zu sein, und Rachegelüste nach erlittenen Verlusten führten in der Folge zu kollektiven Gewaltausbrüchen gegenüber Zivilisten – zumal sie häufig die einzigen Personen waren, deren man habhaft werden konnte.
Die Wehrmachtsführung ergriff verschiedene Maßnahmen, um der ausufernden Gewalt entgegenzuwirken. Doch die zum Teil divergierenden Befehle folgten nicht der Intention, die Gewalt gänzlich zu untersagen, sondern sie lediglich in ihrem Ausmaß zu begrenzen. Denn auch die Heeresleitung teilte die Auffassung, dass polnische Freischärler Angriffe auf die deutsche Wehrmacht verübten, was wiederum Sühnemaßnahmen an der Zivilbevölkerung rechtfertigen würde.
Ziel der Arbeit ist es, die Genese der deutschen Kriegsverbrechen nicht nur auf der praxeologischen und militärstrategischen Ebene, sondern auch auf der erfahrungsweltlichen und mentalen Ebene der Soldaten zu erklären.
Forschungsstand und -desiderate
In den vergangenen Jahren wuchs zwar erneut das historiografische Interesse an der Wehrmacht, doch der polnische Kriegsschauplatz wurde nur selten beachtet. Die umfangreichsten Arbeiten zum Polenfeldzug und zu den Verbrechen, die in diesem Rahmen von der Wehrmacht begangen wurden, stammen von Jochen Böhler und Alexander Rossino.2 Während Böhler das Verhalten der deutschen Soldaten auf einen allgemeinen "Freischärlerwahn" zurückführt und vor allem situative Faktoren geltend macht, konzentriert sich Rossino in seiner Argumentation auf die nationalsozialistische Ideologie als handlungsbestimmendes Moment. Die Interdependenz von ideologischen und situativen Einflüssen wird jedoch von keinem der beiden hinreichend gewürdigt.
Vorgehensweise
Mit Hilfe einer Referenzrahmenanalyse werden die Faktoren, die Einfluss auf die Deutungs- und Wahrnehmungsmuster der deutschen Soldaten hatten, untersucht. Hierfür werden die von Römer definierten Dimensionen herangezogen, die den historisch-kulturellen Hintergrund, die Einheitskultur der Wehrmacht, das Kampfgeschehen und die persönlichen Dispositionen umfassen. Nach der umfassenden Analyse dieser Aspekte wird ihr Einflusspotenzial auf das Verhalten der Soldaten ausgewertet und ihre Interdependenz dargestellt.
Quellen
Für die Untersuchung werden vor allem die Unterlagen der Wehrmacht herangezogen, beispielsweise Akten zu nationalpolitischen Lehrgängen, Befehle und Richtlinien sowie offizielle Kriegstagebücher einzelner Einheiten. Ebenso werden Dokumente zu Nachkriegsprozessen eingesehen. Darunter befinden sich verschiedene deutsche und polnische Zeugenaussagen zu den Kriegsverbrechen in Polen. Für die Analyse des Verhaltens deutscher Soldaten ist der Rückgriff auf Darstellungen ihrer persönlichen Kriegserfahrungen obligatorisch. Hier bieten sich drei verschiedene Quellengattungen besonders an: Erlebnisberichte, Tagebücher und Feldpostbriefe.
Das Dissertationsprojekt wird von Prof. Dr. Isabel Heinemann und Prof. Dr. Thomas Großbölting an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster betreut.
- 1. Sönke Neitzel/Harald Welzer, Soldaten. Protokolle vom Kämpfen, Töten und Sterben, 3. Aufl., Frankfurt a. M. 2011 sowie Felix Römer, Kameraden. Die Wehrmacht von innen, München 2013.
- 2. Jochen Böhler, Auftakt zum Vernichtungskrieg. Die Wehrmacht in Polen 1939, 2. Aufl., Frankfurt a. M. 2006; Alexander B. Rossino, Hitler strikes Poland. Blitzkrieg, Ideology, and Atrocity, Kansas City 2003.