Der Themenkomplex der „jüdischen Kriegserfahrung“ erfährt derzeit anlässlich des 100-jährigen Jubiläums des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs ebenfalls gesteigerte Aufmerksamkeit. Gleichwohl weist die europäisch-jüdische Historiographie für die Zeit des Ersten Weltkrieges noch immer erhebliche Lücken auf. So stehen komparative Studien weiterhin hinter national ausgerichteten Untersuchungen zurück, Einzelfallstudien sind gegenüber allgemein gehaltenen Überblicksdarstellungen nach wie vor die Minderheit. Dementsprechend herrscht heute noch immer die Tendenz vor, jüdische Kriegserfahrungen als monolithische Einheit darzustellen und bestehende Narrative, wie etwa das einer „spezifisch jüdischen Kriegsbegeisterung“, unhinterfragt zu reproduzieren.
Dem gegenüber zeigten jüngere Werke der mentalitätsgeschichtlich orientierten „allgemeinen“ Weltkriegsforschung unlängst eindrucksvoll die Möglichkeiten einer differenzierteren Darstellung des individuellen Kriegserlebnisses. So illustrierte eine Reihe von Regionalstudien beispielsweise erhebliche geographische, kontext- und milieuabhängige Unterschiede bezüglich der Kriegsbegeisterung innerhalb des Deutschen Reiches und zeichnete auf Grundlage von zeitgenössischen privaten Quellen ein differenzierteres und komplexeres Bild als bisher. Es erscheint im Umkehrschluss evident, dass auch jüdische Erfahrungen des Ersten Weltkriegs weitaus vielstimmiger und heterogener waren, als dies in der Historiographie bislang konstatiert wurde.
In meinem Dissertationsprojekt greife ich Impulse der Mentalitätsgeschichte und der Biographieforschung auf und untersuche anhand eines konkreten Einzelfalls die Kriegserfahrungen einer jüdischen Familie aus vergleichender Perspektive. Im Zentrum meiner Arbeit steht die Geschichte der Familie Frank, deren Mitglieder einerseits auf deutscher und andererseits auf französischer Seite in den Ersten Weltkrieg involviert waren. Die Analyse der Kriegserfahrungen gliedert sich dabei in zwei Ebenen. Auf der ersten Ebene werden die konkreten Hintergründe, Lebenswelten und Erfahrungen der beiden Familienzweige, einerseits in Frankfurt und andererseits in Paris, nachgezeichnet. Dabei werden erstens die Erfahrungen der im Felde stehenden Söhne, zweitens die Erfahrungen der an der „Heimatfront“ verbliebenen Familienmitglieder und drittens die spezifischen Erfahrungen der weiblichen Familienmitglieder, die sich mehrheitlich als Krankenschwestern betätigten, untersucht. Auf der zweiten Ebene steht die Beziehungsgeschichte der beiden Familienzweige im Fokus. In diesem Kontext stellen insbesondere die Loyalitätskonflikte, die der Krieg gegen die Familienangehörigen im Nachbarland auslöste, aber auch die unterschiedlichen Einstellungen bezüglich des Krieges, der nationalen und kulturellen Identität, des Patriotismus und Nationalismus sowie des politischen Antisemitismus den übergeordneten Forschungsrahmen dar.
Aus den geschilderten Rahmenbedingungen ergeben sich u.a. folgende Leitfragen: Wie stellten sich die individuellen Kriegserfahrungen für die Familienmitglieder auf deutscher und französischer Seite konkret dar? Welche Unterschiede und welche Gemeinsamkeiten kennzeichneten die Kriegserfahrungen? Was bedeutete die Kriegssituation für den international weit verzweigten Familien- und Freundeskreis? Welche Konflikte resultierten aus der familiären Konstellation und wie wurde mit diesen umgegangen? Wie wirkten sich die landesspezifischen Vorstellungen von nationaler Zugehörigkeit und Identität auf die Familienmitglieder aus, insbesondere unter Berücksichtigung der Migration der ersten Generation in den 1880er Jahren und der französisch-geborenen zweiten Generation? Welche intergenerationellen Konflikte resultierten aus dieser Konstellation? Welche Auswirkungen hatte die Zugehörigkeit zu einer religiösen Minderheit in Deutschland und Frankreich? Was kennzeichnete die „jüdische Kriegserfahrung“? Welche Emotionen wurden in diesem Zusammenhang mit dem Krieg verbunden und wie wirkte sich der Antisemitismus der Kriegsjahre und der Kriegsverlauf auf die beiden Familienzweige aus?
Als zentrale Quellenbasis meiner Arbeit dient der Nachlass der Familie Frank, bestehend aus Korrespondenzen, persönlichen Aufzeichnungen und Photographien. Ergänzt wird diese Grundlage durch Material aus deutschen und französischen regionalen, nationalen, militärischen und jüdischen Archiven. Um über den Einzelfall hinausgehende Strukturen aufzeigen zu können und das Bild zu komplettieren, werden zudem zusätzliche Einzelschicksale mit ähnlichen Familienkonstellationen als Vergleichsfälle herangezogen. Darüber hinaus werden die bedeutendsten jüdischen Zeitungen der beiden untersuchten Länder für die Dauer des Krieges ausgewertet, um die gegenseitige Wahrnehmung und Interaktion zwischen deutschen und französischen Juden während des Krieges nachzuzeichnen und auf diese Weise den innerfamiliären Konflikt mit den offiziellen Deutungsmustern der jüdischen Gemeinden und Wortführer zu kontrastieren.
Methodisch verfolgt die Dissertation einen familienbiographischen Einzelfallstudienansatz. Dieser ermöglicht es, die Vielschichtigkeit, Diversität und Komplexität jüdischer Kriegserfahrungen am Beispiel der untersuchten Familie darzustellen. In diesem Sinne zeichnet die Studie ein multiperspektivisches, milieuspezifisches, geschlechter- und generationsübergreifendes sowie transnational vergleichendes, gleichzeitig jedoch auch verflochtenes Bild. Das Ziel der Dissertation ist es dabei, zur Erforschung des Ersten Weltkriegs aus jüdischer sowie deutsch-französischer Perspektive beizutragen. Gleichzeitig soll die Studie einen Beitrag zur jüdischen Familienforschung leisten, die sich bislang zumeist mit den wirtschaftlichen und kulturellen Errungenschaften jüdischer Familien befasste und die somit um eine Fallstudie mit dem spezifischen Themenschwerpunkt des Ersten Weltkriegs bereichert werden kann.
Das Dissertationsvorhaben wird am Zentrum für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin unter Betreuung von Prof. Dr. Stefanie Schüler-Springorum verwirklicht. Es erfolgt in enger Zusammenarbeit mit dem Familie Frank Zentrum am Jüdischen Museum Frankfurt und wird gefördert vom Leo Baeck Fellowship Programme der Studienstiftung des deutschen Volkes. Eine institutionelle Angliederung besteht darüber hinaus an das Forschungskolleg „Der Erste Weltkrieg und die Konflikte der europäischen Nachkriegsordnung (1914-1923) oder die Radikalisierung des Antisemitismus“ des Zentrums für Antisemitismusforschung sowie an das Zentrum Jüdische Studien Berlin-Brandenburg.