Gerd Krumeich
Aufsatz
Veröffentlicht am: 
09. Oktober 2017
Schwerpunktthema: 
DOI: 
10.15500/akm09102017

Ich möchte in diese Experten-Diskussion über die Gründe für den Angriff auf Verdun im Februar 1916 ein Argument einbringen, das, wenn ich recht sehe, bisher überhaupt keine Rolle gespielt hat.

Um die Verdun-Planung für 1916 zu verstehen, sollte man als allererstes auf die "Blutpumpen"-Theorie verzichten. Man muss deshalb die berühmt-berüchtigte "Weihnachtsdenkschrift" von Falkenhayn schlicht ignorieren. Der Generalstabschef hatte dort behauptet, dass er gar nicht vorgehabt habe, die Festung Verdun einzunehmen, sondern dass es ihm darum gegangen sei, die Franzosen an einer Stelle, wo sie aus Prestigegründen alles einsetzten müssten, geradezu verbluten zu lassen – und das sei ja gelungen. 1 Holger Afflerbach hat in seinem "Falkenhayn" gezeigt, dass diese Hauptquelle der Verdun-Historie mit größter Sicherheit ein nachträgliches Fake ist. 2 Antoine Prost hat in einem (in Deutschland kaum bekannten) Aufsatz schon vor vielen Jahren nachgewiesen, dass Falkenhayns in der Weihnachtsdenkschrift geäußerte Auffassung, die Franzosen würden Verdun um jeden Preis verteidigen müssen, ein Anachronismus ist. Erst mit und durch den deutschen Angriff 1916 ist die Festung zu einem emblematischen Ort geworden. Vorher war ernsthaft erwogen worden, sie schlicht aufzugeben. Die Geschütze waren z.T. ja schon an andere Kriegsschauplätze verlegt worden. 3

Aus diesem Grund sind auch die in der Forschung heute dominierenden und später entstandenen Quellen, wie sie über das Buch von Wendt erhalten sind und vor allem die Tappen- bzw. Heymann Interviews und Aufzeichnungen mit äußerster Vorsicht zu gebrauchen. 4 Allen diesen Quellen ist die Überzeugung zu eigen, dass Falkenhayn nicht schlicht gelogen haben kann. Und wenn nicht Überzeugung, so war es doch der Respekt vor dem berühmten Feldherrn und Vorgesetzten, den man im Nachhinein nicht herunterziehen wollte und durfte.

Ich möchte also auf diese "Falkenhayn"-Sekundärquellen verzichten und die Motive für den Angriff auf Verdun im Februar 1916 im Wesentlichen aus strikt zeitgenössischen Quellen rekonstruieren.

In einem Aufsatz habe ich nachgewiesen, dass es vor dem März 1916 keine zeitgenössische Quelle gibt, die das Blutpumpen-Thema anspricht. Aber ab dem März, als man erkennt, wie schwierig und vielleicht unmöglich es sein wird, Verdun zu erobern, wird allenthalben vom "Ausbluten" der Franzosen schwadroniert – in Aufnahme eines alten deutschen Topos vom ohnehin schwachen, "blutleeren" Frankreich. 5

Diese Argumente bleiben bestehen und werden m.E. durch die im Folgenden anzusprechenden Tatsachen bestärkt.

Die Festung Verdun war bereits mit Beginn des Krieges für die ihr gegenüber positionierte 5. Armee ein äußerst unangenehmer "Gegenstand". Es zeigte sich bei allen offensiven Unternehmungen, wie gefährlich die von dort aus mobilisierbaren Truppen, deren Gesamtstärke auf ca. 150.000 Mann zu veranschlagen ist 6, für die Armee des Kronprinzen sein konnten.

In einer von der Forschung bislang kaum beachteten Untersuchung des Großen Generalstabes (4. Abteilung) über die französischen Festungswerke aus dem Jahre 1913, wird dieses Problem auch bereits sehr deutlich angesprochen:

"Diese befestigten Abschnitte sichern einmal den Aufmarsch der Armee gegen strategischen Überfall. Ist Einbruch in Feindesland beabsichtigt, so ergeben sie eine sichere Ausgangslinie für die Offensive. (…) Einer solchen Offensive sind besonders günstig die Lücken zwischen den großen Befestigungsgruppen. Während ein durch die Lücken dringender Feind frontal angegriffen wird, können aus den tief gegliederten Flügelfestungen mehrere Armeekorps gegen die Flanke vorbrechen." 7

Auch das "Reichsarchiv"-Werk hat dieses Problem an wenig beachteter Stelle ganz eindeutig im Zusammenhang der "Verfolgungskämpfe der 5. Armee zwischen Maas und Argonnen" für den 2. September 1914 folgendermaßen beschrieben:

"Schwieriger als die Verfolgungsoperationen der 4. Armee zwischen Marne und Aisne war die Aufgabe, die gleichzeitig ihrer linken Nachbararmee, der 5., nach Erzwingung des Maas-Übergangs oblag. Das hatte seinen Grund vornehmlich in der Bedeutung der Festung Verdun. Diese beschränkte nicht nur durch den taktischen Wirkungsbereich ihrer Forts die Bewegungsfreiheit des Verfolgers in gleichem Maße, wie sie der französischen Feldarmee Anlehnung und Stützung lieh; sie bedrohte auch operativ beständig die immer weiter gedehnte linke Flanke und die rückwärtigen Verbindungen der 5. Armee und damit der ganzen deutschen Schwenkungsfront." 8

So spielte auch in den Diskussionen über den Rückzug der 5. Armee ab dem 10. September das Verdun-Problem eine große Rolle. Das Armee-Oberkommando 5, das keineswegs die 5. Armee aus vermeintlich günstiger Position zurücknehmen wollte, musste sich von der Obersten Heeresleitung erklären lassen, dass dem V. Armeekorps ein Flankenangriff aus Verdun drohe und es "mit dem Freiwerden von Kräften […] dem Gegner ferner ermöglicht" werde, "die Lagerfestung Verdun auszunutzen und aus ihr nach Norden oder Westen vorzustoßen". Und daraus könne sich eine Katastrophe für die gesamte deutsche Front entwickeln. 9

Für die Einzelheiten dieser Zusammenstöße und Probleme sei hier (vorläufig) nur auf die Spezialuntersuchung des Colonel Defrasne aus dem Jahre 1976 verwiesen, der genau zeigt , welch riesige Schwierigkeiten die Festungsanlage der "Place de Verdun" für die deutschen Offensivoperationen von 1914 mit sich brachten. 10

Und nach diesen Präliminarien nun die meines Erachtens wichtigste zeitgenössische Quelle, die auch allgemein bekannt ist, aber in ihrer Bedeutung von der "Weihnachtsdenkschrift" regelrecht verschluckt wurde Es handelt sich um die Denkschrift von Constantin Schmidt von Knobelsdorf, Generalstabschef der 5. Armee, die dieser im Namen des Kronprinzen am 4. Januar 1916 redigierte, in Erfüllung des Auftrags von Falkenhayn, ihm ein großes Operationsziel vorzulegen. Knobelsdorf schreibt dort u.a., dass es letztlich darum gehe, "die Festung Verdun im beschleunigten Verfahren fortzunehmen" Man habe sich deshalb für einen massiven Artillerieangriff auf die Festung entschieden. Und weiter Knobelsdorf:

"Wer im Besitz der Côtes (Höhen bis zu beinahe 400 m) auf dem Ostufer der Maas ist, indem er die auf ihnen gelegenen Befestigungen erobert hat, ist auch im Besitze der Festung (…); selbst wenn zunächst auf eine Besitznahme der Werke des Westufers verzichtet werden soll, hat die Festung ihren Wert für Frankreich verloren, wenn das Ostufer der Maas von uns genommen ist." 11

Ist das nicht wie ein Echo auf die im Reichsarchiv-Werk verzeichnete Unterhaltung Falkenhayns mit dem Chef der Operationsabteilung der OHL, Tappen? Folgendes wird dort daraus zitiert, zur Begründung der Offensive gegen Verdun:

"Dabei sprach der Vorteil mit, daß die von Verdun aus jederzeit mögliche Bedrohung der deutschen rückwärtigen Verbindungen in Frankreich und Belgien am sichersten ausgeschaltet wurde, wenn man das operative Ausfalltor selbst wegnahm." 12

Der Verlauf der Schlacht selber zeigt, wie erbittert genau um diese Ziele gerungen worden ist. Wobei natürlich die Option, nach dem Fall der großen Festungswerke Douaumont und Vaux auch noch weiter vorzustoßen, um die Front zu öffnen und den Weg "nach Paris" frei zu machen, stets eine Option blieb, die vor allem die Soldaten antrieb, ungeheuerliche Strapazen auf sich zu nehmen.

Eine detaillierte Schilderung all dieser Vorstöße ist hier nicht nötig. Es sei nur erwähnt, dass Falkenhayn selber, weit entfernt davon, ruhig den Blutpumpen-Effekt abzuwarten, immer wieder auf eine Beschleunigung und Intensivierung dieses Angriffes auf die Forts drängte – wie General von Gallwitz in seinen Notizen während der Schlacht mehrfach anmerkt. So z.B. für den 8. April 1916:

"Am 8. besuchte mich Gen. V. Knobelsdorff (sic.!). Wir waren in der Beurteilung der Lage und betreffs der Notwendigkeit systematischen Vorschreitens einig, während Falkenhayn zu drängen pflegte." 13

Und zum vorläufigen Schluss noch ein Dokument, das in der bisherigen Forschung überhaupt keine Rolle gespielt hat, das aber die obige Argumentation "rund" macht. Nämlich eine Veröffentlichung der OHL vom September 1916 in mehreren sukzessiven Ausgaben der Frankfurter Zeitung, wo man trotz des offensichtlichen Fehlschlags des Angriffs auf Verdun erklärte, dass der Gewinn, den die deutschen Truppen vor Verdun erkämpft hätten, beträchtlich sei:

"Wir haben Einblick in das Becken von Verdun, in die Stadt, auf die Maasbrücken und die Bahnlinien und können alle diese Punkte unter wirksamstes Feuer nehmen. Damit ist Verduns Wert als Eckpfeiler der französischen Landesbefestigung (…) stark vermindert, seine Bedeutung als Brückenkopf auf Aufmarschgelände für einen Angriff aber völlig ausgeschaltet." 14

Ich plädiere also dafür, dass wir künftig doch den operativen Aspekt des "Unternehmens Verdun", nämlich die Festung auch als Bedrohung der deutschen Heere auszuschalten, ernster nehmen sollten als dies bisher unter dem Druck der "Blutpumpen"-These geschehen ist.

 

Zitierempfehlung

Gerd Krumeich, Die Bedeutung der "Festung Verdun" für die deutscher Planung 1916, in: Portal Militärgeschichte, 9. Oktober 2017, URL: http://portal-militaergeschichte.de/krumeich. (Bitte fügen Sie in Klammern das Datum des letzten Aufrufs dieser Seite hinzu.)

  • 1. Erich von Falkenhayn, Die Oberste Heeresleitung 1914-1916 in ihren wichtigsten Entschließungen, Berlin 1920, S. 176.
  • 2. Holger Afflerbach, Falkenhayn. Politisches Denken und Handeln im Kaiserreich, München 1994, S. 543-545.
  • 3. Antoine Prost, Verdun, in: Pierre Nora (Hg.), Erinnerungsorte Frankreichs, München 2005.
  • 4. Hermann Wendt, Verdun 1916. Die Angriffe Falkenhayns im Maasgebiet mit Richtung auf
  • 5. Gerd Krumeich, Frankreich ausbluten? Mythos und Wirklichkeit der deutschen Strategie vor Verdun, in: ders., Deutschland, Frankreich und der Krieg, Essen 2015, S. 195ff.
  • 6. Dies bei einer Festungsbesetzung von 50.000 Mann, vgl. hierzu die in der folgenden Anm. genannte Quelle.
  • 7. Großer Generalstab, 4. Abteilung, Die französischen Befestigungen gegen Deutschland und die Grundsätze ihrer Verteidigung (Geheim), Berlin, Reichsdruckerei 1913.
  • 8. Reichsarchiv (Bearb.), Der Weltkrieg 1914 - 1918, Bd. 3, Berlin 1926, S. 263. In den folgenden Sätzen wird erklärt, dass dasselbe große Problem für die 5. Armee schon seit der Schlacht um Longwy zu Beginn des Krieges bestanden habe.
  • 9. Hier noch: Paul Krall, Der Feldzug im Westen bis Mitte September 1914, in: Max Schwarte (Hg.), Der Weltkampf um Ehre und Recht, Bd. 1, Berlin 1924, S. 151-276, hier S. 274.
  • 10. Colonel J. Defrasne, Le rôle de Verdun et des Hauts de Meuse en 1914 : Les tentatives allemandes pour isoler la Place forte, in: Verdun 1916. Actes du colloque international sur la bataille de Verdun, 6-7-8 juin 1975, Verdun 1976, S. 59-80, mit interessantem Kartenmaterial.
  • 11. Denkschrift abgedr. bei Wendt, Verdun 1916, S. 228-230.
  • 12. Reichsarchiv (Bearb.), Der Weltkrieg 1914-1918, Bd. 10, Berlin 1936, S. 25.
  • 13. Max v. Gallwitz, Erleben im Westen 1916-1918, Berlin 1932, S. 10.
  • 14. Vgl. für dieses Zitat und die Analyse der Publikation in der FZ 24., 26. und 27. 10. 1916, in: Gerd Krumeich/Antoine Prost, Verdun 1916. Die Schlacht und ihr Mythos aus deutsch-französischer Sicht, Essen 2016, S. 82f.
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