Christian Stachelbeck
Aufsatz
Veröffentlicht am: 
22. November 2017
Schwerpunktthema: 
DOI: 
10.15500/akm20.11.2017

1. Dass die sogenannte „Weihnachtsdenkschrift“ ein auf den 1920 publizierten Kriegserinnerungen Erich von Falkenhayns beruhendes Fantasieprodukt gewesen ist, kann nach den Forschungen Holger Afflerbachs und der jüngsten Publikation Olaf Jessens wohl niemand mehr ernsthaft in Zweifel ziehen. Der in weiten Kreisen des deutschen Militärs umstrittene Falkenhayn hatte hinsichtlich seiner tatsächlichen Absichten bei Verdun gelogen, um das Debakel der Zermürbungsschlacht im Nachhinein noch in einen Sieg umkehren zu können. Dazu hatten nicht zuletzt die 1919/20 für Falkenhayn noch unklaren Verluste auf französischer Seite beigetragen. Falkenhayn hatte diese überschätzt. Hermann Geyer, während des Krieges als Hauptmann im Generalstab Angehöriger der Operationsabteilung der OHL, brachte es noch 1934, nunmehr in der Reichswehr kommandierender General im Wehrkreis 5, in einem Briefentwurf an das mit der amtlichen Aufarbeitung des Weltkrieges beauftragte Reichsarchiv auf den Punkt, wenn er herausstellte: „Die Sache mit der Mühle 1 aber war ein Rückversicherungs-Gedanke, wie Falkenhayn ihn liebte, den er erst hinterher stärker betont hat. Auch den grossen Fehlschlag von Ypern im Oktober/Dezember 1914 hatte er mit einem ähnlichen Gedanken in einen Sieg zu verkehren versucht.“ 2 Falkenhayn unterschied sich mit einer solchen nachträglichen Umdeutung keineswegs von den alliierten Oberbefehlshabern auf der anderen Seite der Front.

2. Die wichtigste heute bekannte Quelle zu den Planungen Falkenhayns bei Verdun ist zweifelsohne die Befragung Gerhard Tappens, Falkenhayns rechter Hand in Sachen Operationsführung des deutschen Heeres, durch die Foerster-Gruppe des Reichsarchivs im September 1932 in Potsdam. 3 Olaf Jessen hat die Aussagen Tappens akribisch mit weiteren bekannten wie auch neuentdeckten Quellen, beispielsweise den Erinnerungen Gerhard von Heymanns (1916 I. Generalstabsoffizier im Armeeoberkommando 5), abgeglichen. 4 Das Ergebnis, dem ich mich weitgehend anschließe, ist eindeutig: Falkenhayn plante einen Durchbruch im Gegenstoß mit der Heeresreserve und zwar mit Übergang zum „Bewegungskrieg mit Feldbefestigungen“, wie es hieß, um Frankreich (und Großbritannien) in wenigen Wochen (Mai 1916) zum Frieden zu zwingen. Diesen Durchbruch „über die Bande“ wie Olaf Jessen es nennt, erwog er bei Verdun, besser aber noch bei der 6. Armee des bayerischen Kronprinzen Rupprecht im Artois. Falkenhayn war hier von einem Entlastungsangriff der Briten überzeugt, der abgeschlagen und mit einem Gegenangriff beantwortet werden sollte, wie er am 11. Januar 1916 in Lille gegenüber General von Kuhl, dem Generalstabschef der 6. Armee betonte. 5 Durchaus richtig ist, dass Falkenhayn großangelegte Durchbrüche kaum lenkbarer Infanteriemassen im Westen für abwegig hielt, „solche Massenoperation ist ungünstig bei den heutigen Waffen“, gab er in einer Besprechung mit den Generalstabschefs der Armeen der Westfront in Mézieres am 11. Februar 1916 zu Bedenken. 6 Dies bedeutet allerdings nicht, dass Falkenhayn generell eine defensive Kriegführung bevorzugt habe. So erklärte Tappen (Tappenbefragung): „Die Entscheidung war doch nur durch einen Stoß und nicht defensiv zu erreichen. General Falkenhayn kannte doch andere operative Mittel als die ‚Saugpumpe‘.7 Und das ist ganz sicher, daß Falkenhayn die Entscheidung durch den Angriff gesucht hat“. Schon Clausewitz sprach in diesem Zusammenhang vom sogenannten „blitzenden Vergeltungsschwert“ 8, um aus der Verteidigung heraus wieder zum Angriff überzugehen.

3. Falkenhayns operativer Ansatz zog ähnlich wie auch alliierte Befehlshaber Lehren aus den Offensiven des Jahres 1915. Die Ermattung – „Saugpumpe“ oder „Mühle“, das sogenannte „Ausbluten/Verbluten“, war lediglich als Auftakt zur Kräfteabnutzung des Gegners und seiner Reserven gedacht, um so die Voraussetzung für den Entscheidungsschlag der eigenen Heeresreserve zu schaffen. Dass Falkenhayn vor Verdun zunächst auf die eigene Artilleriestärke und auch im Artois auf die Vorteile eines Verteidigers im Stellungskrieg setzte, war ebenso ein Ergebnis bisheriger Kriegserfahrungen. Wie anders als mit einem Durchbruch im Gegenstoß bzw. Gegenangriff sollte am Ende dann der mehrfach betonte Entscheidungsschlag erreicht werden? Olaf Jessen hat im Übrigen auch keine einzige Quelle gefunden, die zwischen Anfang Dezember 1915 und Anfang März 1916 das Unternehmen Gericht mit dem Begriff „Ausbluten“ verbindet. Sehr häufig war hingegen von Durchbruch und Bewegungskrieg die Rede. Zu ergänzen wäre nochmals auch das Tagebuch des Generals von Kuhl, der noch am 9. März 1916 festhielt: „Gestern war Falkenhayn hier […] Mir kam es so vor, als wenn er uns immer noch nahe legen wollte, einen großen Schlag zu machen, ohne die genügenden Kräfte. Ich betonte, daß wir zu einem Durchbruch die Kräfte gebrauchten, die wir schriftlich in meiner Denkschrift gefordert hätten […].9

4. Meiner Ansicht nach war das Unternehmen „Gericht“ schlichtweg das Ergebnis einer nüchternen militärischen Lagebeurteilung Falkenhayns, so wie er es als Offizier/Generalstabsoffizier in seiner Ausbildung gelernt hatte. Bei der Gestaltung von Handlungsmöglichkeiten mischte er wie später auch Ludendorff ganz pragmatisch aus den Erfahrungen des Krieges ermattungs- und vernichtungsstrategisches Denken10, und beschritt hier insofern einen für das deutsche Militär durchaus neuen Weg. Nur konnte und wollte er seine Absichten – anders als die weithin beliebten „Tannenberghelden“ Hindenburg und Ludendorff – offensichtlich nicht zu offen vermitteln. Auf jeden Fall war die „Ausblutung“ des Gegners – wann auch immer dieser Begriff im Zusammenhang mit Verdun erstmals gebraucht wurde – zunächst nur ein Mittel zum Zweck und nicht der Hauptzweck des Angriffs. Bezeichnenderweise schrieb Wolfgang Foerster im Januar 1935 an den oben zitierten Generalleutnant Hermann Geyer: „Es hat langer Mühe bedurft, um den Schleier zu lüften, den die seinerzeitige sorgfältige Geheimhaltung und Falkenhayns eigenes Buch über den Feldzuge 1916 in Frankreich zu Grunde liegenden Operationsgedanken gebreitet hatten. Auch Ihnen wird vieles, vor allem die Richtigstellung der Idee der ‚Mühle‘ von Verdun, neu gewesen sein. Sie verschwindet nicht, tritt aber hinter einem viel Größeres anstrebenden Entwurf zurück. Ob dieser Letztere nicht Falkenhayns persönliche Leistungsfähigkeit und die ihm zur Verfügung stehenden Mittel überstieg, bleibt allerdings zweifelhaft“. 11

Zitierempfehlung

Christian Stachelbeck, Kommentar zu Erich von Falkenhayns Planung der Schlacht von Verdun 1916, in: Portal Militärgeschichte, 20. November 2017, URL: http://portal-militaergeschichte.de/stachelbeck_kommentar. (Bitte fügen Sie in Klammern das Datum des letzten Aufrufs dieser Seite hinzu.)

  • 1. „Mühle“ ist ein Synonym für Ermattung.
  • 2. Briefentwurf des Generalleutnants Hermann Geyer an die Kriegsgeschichtliche Abteilung des Reichsarchivs, 27.12.1934, Bundesarchiv/Militärarchiv (BArch) Freiburg i.Br, Nachlass Hermann Geyer N 221/25.
  • 3. Die Befragung ist abgedruckt bei Olaf Jessen, Verdun 1916. Urschlacht des Jahrhunderts, München 2014, S. 389-406. Sie findet sich auch im Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde, BArch, R 1506 321, Bl. 225ff. Wesentliche Aspekte hat Wolfgang Foerster auch in einem Aufsatz in der militärwissenschaftlichen Rundschau zusammengefasst: Falkenhayns Plan für 1916. Ein Beitrag zur Frage: Wie gelangt man aus dem Stellungskriege zu entscheidungssuchender Operation, in: Militärwissenschaftliche Rundschau (2/1937), S. 304-330. Foerster - alles andere als ein Bewunderer Falkenhayns - hatte im amtlichen deutschen Weltkriegswerk (Bd. 10) die tatsächlichen Planungen Falkenhayns aus Prestigegründen noch verschleiert. Ein ehemaliger deutscher Generalstabschef durfte allen Anfeindungen zum Trotz wohl kaum im amtlichen Weltkriegswerk als Lügner überführt werden. Vgl. Reichsarchiv (Bearb.), Der Weltkrieg 1914-1918, Bd. 10, Berlin 1936.
  • 4. Eine Zusammenfassung der Ergebnisse neuerdings auch Olaf Jessen, Gescheiterter Durchbruch. Erich von Falkenhayn und die Schlacht von Verdun 1916, in: Christian Stachelbeck (Hg.), Materialschlachten 1916. Ereignis, Bedeutung, Erinnerung, Paderborn 2017, S. 45-66
  • 5. Abschrift persönliches Kriegstagebuch des Generals der Inf. a.D. von Kuhl, BArch RH 61/970, S. 5f.
  • 6. Ebenda, S. 7.
  • 7. Vgl. Anm. 1 synonym für Ermattung, gleiche Bedeutung wie der Begriff „Mühle“.
  • 8. Vom Kriege. Hinterlassenes Werk des Generals Carl von Clausewitz, zweiter Theil, sechstes Buch, Berlin 1833, S. 166.
  • 9. Abschrift persönliches Kriegstagebuch des Generals der Inf. a.D. von Kuhl, BArch RH 61/970, S. 8. Kuhl, der im Gegensatz zu Falkenhayn eine britische Entlastungsoffensive für unwahrscheinlich hielt, hatte Falkenhayn am 28.2.1916 seine Auffassungen zu einem Durchbruch in einer Denkschrift übermittelt.
  • 10. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelte sich zwischen dem Historiker Hans Delbrück und dem preußisch-deutschen Generalstab eine langanhaltende heftige Kontroverse über die Kriegführung Friedrichs II., die als Strategiestreit bekannt wurde. Im Generalstab dominierte die Vorstellung eines kurzen Krieges mit einer Entscheidungsschlacht, um die gegnerischen Streitkräfte niederzuwerfen bzw. zu vernichten (Niederwerfungs- oder Vernichtungsstrategie). Delbrück hingegen sprach unter Bezug auf Carl von Clausewitz gleichberechtigt von einer Ermattungsstrategie. Diese setzte längerfristig auf die Erschöpfung bzw. Abnutzung des Gegners. Vgl. ausführlich Sven Lange, Hans Delbrück und der ‚Strategiestreit‘. Kriegführung und Kriegsgeschichte in der Kontroverse 1879-1914, Freiburg i.Br. 1995.
  • 11. Brief Wolfgang Foerster an Generalleutnant Hermann Geyer, 16.1.1935, BArch, Nachlass Hermann Geyer N 221/25.
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