Transformationen, Persistenzen und Emergenzen militärischer Gewaltsamkeiten (62. Internationale Tagung für Militärgeschichte, Dresden, 12.–14.9.2023)
Friederike Hartung, Frank Reichherzer
Miszelle
Veröffentlicht am: 
22. Februar 2023

Zeit ist in den letzten Jahren verstärkt in den Focus der Gewaltforschung gerückt. Die 62. ITMG fragt daher 2023 nach den Temporalitäten militärischer Gewaltsamkeiten entlang der Zeitfiguren Transformation/Wandel, Persistenz/Kontinuität und Emergenz/Entstehung.

Das Aufnahmegerät einer Artillerie-Schallmessanlage der U.S. Army liefert das Motivbild zur 62. Internationalen Tagung für Militärgeschichte (ITMG). Der sechs-Sekunden-lange Ausschnitt eines Aufnahmebandes dokumentiert zunächst vereinzelte Schüsse, gefolgt von zwei Sekunden intensivem Artilleriefeuer, plötzlich: Stille! Die Aufnahme reicht von kurz vor bis kurz nach 11 Uhr alliierter Zeit am 11. November 1918. Die Graphen auf dem Band markieren das Ende der Kampfhandlungen – den Beginn des in der Nacht zuvor vereinbarten Waffenstillstandes. Der Papierstreifen visualisiert so in eindrücklicher Weise den Augenblick, in dem der Erste Weltkrieg zu seinem Ende kam.

Dieser Übergang militärischer Gewalt macht auf das Thema der diesjährigen ITMG aufmerksam. Der große Krieg war zwar beendet, doch die Gewalt nicht vorüber. Nicht nur in Europa, sondern überall auf der Welt wandelten sich Gewaltsamkeiten, blieben bestehen oder nahmen neue Formen an. Für diese Wandelbarkeit des Krieges, der Formveränderungen militärischer Gewalt, aber auch deren Beständigkeit nutzte der preußische General, Kriegsphilosoph und Zitatelieferant Carl von Clausewitz eine interessante Analogie: Krieg gleiche einem „wahre[n] Chamäleon“. Diese von Clausewitz gewählte Veranschaulichung der Wandelbarkeit des Krieges und der Formveränderungen militärischer Gewalt verweist auf aktuelle Forschungstendenzen. Vermehrt macht die Gewaltforschung auf die komplexe Zeitlichkeit und Prozesshaftigkeit von Gewalt aufmerksam. Die 62. ITMG fragt daher nach den Temporalitäten militärischer Gewaltsamkeiten – im Krieg wie im Frieden, aber auch in den Phasen und Übergängen dazwischen. Damit bietet das Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr ein interdisziplinäres Forum für die Diskussion aktueller Forschungen an.

Temporalitäten der Gewalt lassen sich über drei Zeitfiguren fassen, die für sich allein und in Kombination konkrete Fragestellungen anregen können. Zusammengenommen weisen die Zeitfiguren auf die Relationen und Konstellationen im Rahmen einer Topologie (militärischer) Gewalt hin.

•   Die Zeitfigur Transformation/Wandel ermöglicht, die (Ver-)Wandlungen, Unterbrechungen und Reproduktionen verschiedener Formen und Phänomene militärischer Gewalt in den Blick zu nehmen. Damit rücken verstärkt Übergänge und Zwischenräume, aber auch Veränderungen mit Blick auf die Kontexte militärische Gewalt in das Zentrum der Analyse.

•   Dem steht die Persistenz/Kontinuität als zweite Zeitfigur gegenüber. Sie verweist auf die Beständigkeit und (scheinbar) langlebigen Kulturen militärischer Gewaltsamkeiten. Das Beharrungsvermögen verweist zudem auf die Wiederentdeckung, zeitliche Referenzen sowie die Einbindung bestehender Elemente in neue Zusammenhänge.

•   Damit ist bereits die Emergenz/Entstehung von Gewalt angedeutet. Eine dritte Zeitfigur beschreibt das (Neu-)Entstehen und die jeweiligen Geflechte und Mischformen zwischen verschiedenen Formen, Arten und Elementen militärischer Gewalt sowie zwischen militärischer und nicht-militärischer Gewalt.

Diese Zeitfiguren machen drei Perspektivierungen möglich. Eine erste betrachtet Wandel, Kontinuitäten und Entstehen der Gewalt. Eine zweite Perspektive betrachtet die Auswirkungen auf Kontexte. Sie fragt nach den Transformationen, Persistenzen und Emergenzen, die sich durch militärische Gewalt ergeben. Eine dritte Perspektive blickt umgekehrt auf die Wirkungen von Kontexten auf die zeitliche Verfasstheit der Gewalt.

Um Relationen zur Untersuchung temporaler Verfasstheit von Gewalt auch hinreichend abbilden zu können, ist ein weites, skalierbares Verständnis militärischer Gewalt als Referenzpunkt notwendig: etwa wenn die Anwendung von Gewalt über den Körper und die Physis hinaus gedacht, hin zur Verletzung von Integrität (z.B. Cyber, kritische Infrastrukturen…) erweitert wird; wenn verschiedene Formen der Praxis der Gewalthaftigkeit bis hin zu Repräsentationen und Imaginationen analysiert werden; wenn nicht nur illegitime Gewalt oder gar der Weg zum Exzess, sondern auch legitime Gewalt und vor allem die wandelbaren Grenzziehungen, Deeskalationsmöglichkeiten und Gewaltfreiheit gleichermaßen von Interesse sind.

Diese Offenheit kann auch für den Begriff des Militärs gelten, um die Beziehung und Übergänge zwischen verschiedenen (akteursspezifischen) Formen organisierter Massengewalt herzustellen. Über die regulären Streitkräfte eines Staates hinaus lässt sich der Begriff hin zum Militärischen erweitern. So zeigt sich ein breites Akteurs- und Forschungsfeld, das sich von Streitkräften etwa hin zu anderen staatlich organisierten Verbänden, Paramilitärs, ‚Rebellengruppen‘, privaten Gewaltunternehmern, Sicherheitsfirmen und auch die Rüstungsindustrie erstreckt und sich in die Felder Politik, Wirtschaft und Gesellschaft ausdehnt.

Die mit dem Kerninteresse der Tagung verbundene Offenheit der Begriffe Gewalt und Militär schließt natürlich Beiträge mit einem ‚klassischen‘ Fokus auf physische Gewalt in den regulären Streitkräften in der konkreten Situation ihrer Anwendung nicht aus. Sie erweitert jedoch den Bereich für wissenschaftliche Fragestellungen.

Konkretisierungen können sich entlang der folgenden Auswahl von Themen- und Fragekomplexen ergeben:

•   Kriegführung, Operationen: Was sind überhaupt konkrete Formen militärischer Gewalt und wie verändern, entstehen (z.B. Atomkrieg) bzw. reproduzieren sich diese während, nach und vor ihrer Anwendung? Was geschieht an den Übergängen, wenn verschiedene Kriegs- und Gewaltereignisse ineinander übergehen? Welche Eigenzeiten der Gewalt zeigen sich in Kampf- und Gefechtsformen wie Angriffen, Belagerungen aber auch in (militärischen) Besatzungsregimen?

•   Zeiten: Durch welche Mikro- und Makrotemporalitäten konstituieren sich Gewaltformen? Wie übersetzt sich etwa imaginierte Gewalt (Doktrinen, Kriegsbilder) über geplante Gewalt (Operationspläne) in konkrete Gewaltanwendung (Kampf)? Wie lassen sich die Übergangszonen von Krieg zu Frieden und von Frieden zu Krieg vermessen und analysieren? Welche Wege nimmt die Gewalt, wenn Kampfhandlungen (offiziell) enden? Welche Zonen der Gewaltfreiheit gibt es möglicherweise während eines bewaffneten Konfliktes und wie sind diese beschaffen? Wo sind aber auch Zonen des Krieges im Frieden zu finden?

•   Wissen, Erfahrung, Erinnerung, Medialität: Welche Rolle kommt Gewaltwissen und vergangenen Gewalterfahrungen im Militär aber auch in Gesellschaften zu? Wie verändern sich diese über die Zeit? Welche Rollen spielen Erinnern und Erinnerungsarbeit bis hin zur Musealisierung militärischer Gewalt? Gibt es möglicherweise etablierte ‚Skripte‘, denen militärische Gewalt folgt? Wie wird die Zeitlichkeit militärischer Gewalt vermittelt und repräsentiert? Welche Narrative usw. verknüpfen verschiedene Gewaltformen und sollen Sinn produzieren?

•   Umwelt, Räume, Geographien: Welche Wirkung hat militärische Gewalt auf die Umwelt, welche die Umwelt auf Gewalt? Welche Perspektiven auf die Formen der Gewalt des Militärs und den Wandel des Kriegsbildes ergeben sich durch den Blick auf Umgang sowie Gebrauch und Missbrauch von Natur, Tierwelt etc.? Welche Formen von Gewalt existieren in bestimmten Räumen und an bestimmten Orten (Kampfzone, rückwärtige Gebiete, Etappe, Heimat oder, Kaserne, Kriegsgefangenlager…)? Was geschieht, wenn Akteure diese Zonen durchqueren (militärisches Personal, Zivilpersonen, Kriegsgefangene…) oder sich diese Zonen während des Verlaufs eines Krieges verschieben? Wie und mit welchen Folgen sind entfernte Gewalträume – etwa in und zwischen Imperien – miteinander verknüpft? Welche Geographien militärischer Gewalt ergeben sich so?

•   Organisation, Institution, Akteure: Wie strukturiert und organsiert das Militär oder andere vergemeinschafte Gewaltorganisationen ihre Gewaltsamkeit sowie den Wechsel und die Übergänge zwischen Gewaltformen? Welche Rolle kommt formeller und informeller Gewalt innerhalb der Organisation– auch in Verbindung mit anderen Formen militärischer Gewalt – zu? Welche unterschiedlichen Gewaltkulturen und -räume existieren im Militär? Wie ist all dies mit Gesellschaft und dem Zivilen verknüpft?

•   Körper, Geist: Wie schreibt sich Gewalt mittelbar und unmittelbar bzw. über Zeit in den soldatischen (und andere) Körper ein (Formierung, Zerstörung, Verletzung…)? Was macht militärische Gewalt mit Menschen – physisch wie psychisch, ausübend wie erfahrend? Wie verhalten sich sichtbare und unsichtbare Gewalt zueinander?

•   Geschlecht, Gender: Welche Bedeutung haben Geschlechterbilder und Geschlechterverhältnisse sowie deren Grenzen und Zwischenräume für die Ausprägungen und den Wandel militärischer Gewaltanwendung (oder andersherum)? Welche Funktion haben zivile, soldatische und weitere Identitäten (Intersektionalität)? Welche Rolle kommt sexueller Gewalt und geschlechterspezifischer Gewalt im Geflecht militärischer Gewaltsamkeiten zu?

•   Materialität, Technik: Wie zeigt sich Gewalt in der materiellen Kultur des Krieges und des Militärs? Welches Gewicht hat Technik mit Blick auf die Zeitlichkeiten militärischer Gewalt? Welche Temporalitäten zeigen sich direkt in Waffen und Waffensystemen (von der Planung über Entwicklung, Einsatz, Wirkung, Reparatur, Konversion und Musealisierung)? Welche Eigenzeiten haben sie? Wie manifestiert sich die Zeitlichkeit von Gewalt am konkreten Objekt?

Über diese Anregungen hinaus ist jedes mit dem Konzept verbundene Thema willkommen. Der Zuschnitt der ITMG zielt auf historisch arbeitende Ansätze, ist aber interdisziplinär ausgerichtet. Alle, an der Gewaltforschung partizipierende Wissenschaften sind daher zur Teilnahme herzlich eingeladen. Das Konzept ist zudem epochenübergreifend gedacht, reicht bis in die unmittelbare Gegenwart und ist für die Analyse für alle Weltregionen offen. Für einen Beitrag beachten Sie bitte:

•   Vorschläge für einen Vortrag sollten 500 Wörter nicht überschreiten. Auf dem Vorschlag sollten Name, institutionelle Anbindung und Kontaktadresse (Email) vermerkt sein. Bitte fügen Sie auch einen kurzen akademischen Lebenslauf (max. 1 Seite) bei.

•   Wenn Sie ein komplettes Panel organisieren möchten (max. 3 Vorträge, Gesamtumfang 2 Stunden), bitten wir um eine kurze Skizze des Panels und der Vortagsideen für alle Beitragenden unter den oben erwähnten Vorgaben.

•   Wir planen zudem ein „Knowledge/World Café“ (Infos etwa https://www.wissenschaftskommunikation.de/format/worldcafe/). Melden Sie sich bei Interesse bitte mit einem Vorschlag zum Tagungsthema und führen Sie Ihre Idee ebenfalls unter den oben erwähnten Vorgaben aus. Gerne können Sie sich als Team – bestehend aus zwei Hosts –bewerben.

Redaktionsschluss für Einsendungen ist der 15. April 2023. Für das Einreichen der Vorschläge und für weitere Informationen zur Veranstaltung, wenden Sie sich bitte an unsere E-Mail-Adresse: ZMSBwITMG@bundeswehr.org oder besuchen Sie unsere regelmäßig aktualisierte Tagungsseite auf https://zms.bundeswehr.de. Eine Publikation der Ergebnisse wird in Erwägung gezogen. Konferenzsprachen sind deutsch und englisch.

Wir freuen uns auf Ihre Ideen!

 

Konzept und Organisation: Frank Reichherzer & Friederike Hartung

ORT: Dresden, Tagungshotel mightyTwice & Militärhistorisches Museum der Bundeswehr

ZEIT: 12.-14. September 2023

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